Israel, Christen, Leben und Tod, Krankenhaus

Lebenszeichen

Professor Gideon Koren ist Kinderarzt und Wissenschaftler, mit einer langen Karriere als Liedermacher und Schriftsteller in Israel.

Sein Buch „Lebenszeichen“ (Kineret, 2019) ist eine Kurzgeschichtensammlung über seine Erfahrung als Arzt, und über die Eltern und Kinder im Kinderkrankenhaus. Die Hoffnung paart sich mit der Verzweiflung, die Spannung und die Ängste mit der Lebensfreude und der Liebe zum Mitmenschen. Es sind universelle Erfahrungen, die Ärzte, Eltern und Kinder in der ganzen Welt erleben.

Eine berührende Geschichte, die irgendwie zu Israel an Weihnachten passt. von Gidi Koren

Lebenszeichen

von Gidi Koren

Übersetzung: Uri Shani

Jeanne Moise starb um fünf Uhr frühmorgens. Ihr Tod war vorauszusehen, so einer, mit dem Säuglinge mit einem Hirnschaden bereits auf die Welt kamen. Die Krankenschwester im Nachtdienst weckte einen zerknitterten Arzt, der Jeanne Moise und untersuchte ihren Tod feststellte. Ein kleiner und kalter Körper. Man kann ihn unter der Achselhöhle halten und gehen, und niemand würde Verdacht schöpfen.

„Am Morgen müssen die Eltern benachrichtigt werden“, sagte die Krankenschwester dem Arzt. „Ihre Mutter“, verbesserte der Arzt und unterdrückte ein Gähnen. „Ich habe ihr erklärt, dass sie bald sterben wird. Ich habe ihr empfohlen, zu Hause in Akko zu bleiben, mit dem anderen gesunden Kind, da ist kein Vater.“

„Kein Vater?“ Die Krankenschwester hob eine Augenbraue.

„Ja, alleinstehende Mutter, der Mann verließ sie während der zweiten Schwangerschaft, und so wurde es geboren – mit einem Hirnschaden.“

Um halb sieben kam der Sanitäter, schob eine Tragbahre auf Rädern vor sich her. Als er das kleine Paket sah, Jeanne Moise, verzichtete er auf die Bahre und nahm sie auf seinen Händen ins pathologische Institut.

Im dunklen winterlichen Korridor saßen übermüdete Eltern herum und flüsterten erregt und ängstlich. Um neun Uhr sandte die Sekretärin der Morgenschicht ein Telegramm nach Akko, an die Frau Moise.

Der Arzt im Nachtdienst schrieb die Krankengeschichte, und am Schluss, nach der endlosen Reihe lateinischer Diagnosen, das Wort EXITUS. Gestorben.

Frau Moise, eine alte Frau von 24 Jahren, kam ins Kinderkrankenhaus am späten Nachmittag. Der Arzt vom Nachtdienst versuchte, ein paar warme Worte durch den Nebel seiner Müdigkeit hindurch zu formulieren. Danach nahm Frau Moise den Haufen von kleinen, wollenen Kleiderchen, den Schnuller und das wollene Hütchen und steckte alles in ihre Tasche. Der Arzt gab ihr den Todesschein, und Frau Moise ging zur Abendsekretärin hinunter, um den Beerdigungsschein zu erhalten.

„Haben Sie jemanden?“ fragte die Abendsekretärin.

„Niemand, ich habe niemanden.“

„Und in Akko, wartet da jemand auf Sie?“

„Ja, in Akko ist der Priester, er will sie noch heute Nacht begraben, so ist das bei uns, wir sind gläubige Christen.“

„Und wie fahren Sie nach Hause, Frau Moise?“

„Mit dem Taxi, ich nehme ein Sammeltaxi.“

„Und was ist mir der… was ist mit der Leiche? Wie wollen Sie die Leiche mitnehmen?“

„Ich? Leiche? Mein Hebräisch nicht gut. Ah! Ich nehme sie mit.“

„Aber der Fahrer… er wird sicher nicht einverstanden sein. Und die Mitfahrer?! Vielleicht im Gepäckraum, als Gepäck?“

„Jeanne im Gepäckraum? Nein, nein. Ich nehme Jeanne in meinen Händen nach Hause. Sie werden glauben, dass sie lebt. Der Priester hat mir vorgeschlagen, Jeanne in die Kirche in Ramle zu bringen. Das ist näher. Aber ich will mein Kind nahe bei mir, in Akko, damit ich sie jeden Tag besuchen kann.“

„Ihr Baby ist sehr still“, sagte der Taxifahrer, die hinten saß.

„Ahh, ja, sie ist sehr müde, es ist krank, mein Baby.“

„Keine Sorge, es wird wieder gesund! Die Ärzte in ‚Tel-Hashomer‘ sind aus-ge-zeich-net! Mein großer Sohn, als er klein war, da hab ich ihn dorthin gebracht, und sie haben ihn gerettet, die Ärzte. Jetzt ist er groß, Sami, hat mir drei Enkel geschenkt. Hier ist ein Bild von ihnen.“

Der Fahrer zückte ein zerknittertes Schwarz-Weiß-Foto von drei kleinen, dicken und lächelnden Kindern. Frau Moise konnte ihre Gesichtszüge durch ihre Tränen hindurch nicht erkennen. Sie betrachtete Jeanne, ihr Fleisch und Blut, das leblose Gesicht, versunken in ewigem Schlaf.

Um halb acht hielt das Taxi neben dem Haus des Priesters in der Altstadt von Akko. Jeanne Moise kehrte nach Hause zurück.

Eine berührende Geschichte, die irgendwie zu Israel an Weihnachten passt. von Gidi Koren

Uri Shani ist in der Schweiz geboren und lebt seit 35 Jahren in Israel. Er ist professioneller Übersetzer für Literatur aus dem Hebräischen ins Deutsche. Sein "Übersetzer-Credo" könnt ihr im Link nachlesen:

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3 Jahre

sehr rührende Geschichte! Beruht sie auf einer wahren Begebenheit?

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