Israel, Jerusalem, Ramallah, Roman, Frieden, Krieg, Polizei, Terror

Gott ist schuld

Wir haben hier in Re:Levant dieses Projekt der „Kostproben“ aus Büchern von israelischen Schriftstellern, die bisher nicht auf Deutsch übersetz wurden, vor 18 Monaten mit einer Fantasie begonnen, dass der Staat Israel nicht in Palästina, sondern in Uganda gegründet wurde, so wie es tatsächlich vor 120 Jahren einen solchen Plan gab („Herzl hat gesagt„). Heute nun eine andere Fantasie, die zwar auch ein Israeli geschrieben hat, aber auf Deutsch.

In einer nicht allzu fernen Zukunft herrscht im Nahen Osten endlich der seit langer Zeit ersehnte Frieden. Israel und die palästinensische Autonomiebehörde haben sich zu einem gemeinsamen Staatenbund zusammengerauft. Die entsprechenden „Jerusalemer Verträge“ regeln unter anderem aber auch die verschiedenen Vorschriften über eventuelle Zusammenarbeit der ansonsten unter Länderhoheit tätigen Polizeibehörden. So kommt es zu einer Teambildung zwischen der Polizeihauptkommissarin Nir Zipori aus Jerusalem und dem Untersuchungsbeamten Hafez Chalil der Hauptwache von Ramallah, denn die Morde, welche aufzuklären sind, entpuppen sich als eine Art Einleitung, als „Vorgeschmack“ eines riesigen terroristischen Komplotts.

Der Roman ist eine einzigartige Liebeserklärung. Ein Huldigung an ein wunderschönes Land und seine Bewohner. Alle seine Bewohner. Ob jüdischen, mohammedanischen oder christlichen Glaubens. Und er ist ein Appell um Frieden zwischen den Menschen im Nahen Osten. Der 2011 veröffentlichte Roman hat im Laufe der letzten Jahre nichts von seiner Brisanz und Aktualität verloren. Die Konflikte im Nahen Osten haben sich leider Gottes nur weiter zugespitzt. Dieses Buch versucht, eine Alternative in Form einer spannenden und gleichzeitig vergnüglich zu lesenden Erzählung aufzuzeigen.

Oded Netivi, Sohn Holocaustüberlebender, wurde 1950 in Haifa, Israel geboren. Er lebt und arbeitet in Heidelberg, Deutschland und im Languedoc in Südfrankreich. Netivi ist Autor von mittlerweile elf Romanen, zumeist aus dem Genre der Politthriller.  Seine Bücher erscheinen im Sinnbild-Verlag, Karlsruhe und sind sowohl im Netz wie auch in Buchläden erhältlich.

In einer nicht allzu fernen Zukunft herrscht im Nahen Osten endlich der seit langer Zeit ersehnte Frieden. Aber Terroristen versuchen, dieser Fantasie ein grausiges Ende zu machen. Auszug aus einem Roman von Oded Netivi

Gott ist schuld

Erstes Kapitel

[….]

Das, was die Hauptwache in Ramallah in Aufruhr versetzte, hatte inzwischen auch die Polizeiwache in Jerusalem Nord ziemlich aufgerüttelt. Die Datenmenge, die durch die Telefon- und Kommunikationszentralen floss, vervielfältigte sich abrupt. Noach Abutbul überlegte, ob es ein Fall zur Aktivierung von Alarmstufe Gelb wäre, einer höheren Einstufung der Alarmbereitschaft.

Davon bekam Nir immer noch nichts mit. Sie holte aus ihrer Tasche einen Roman von Tahar Ben Jelloun, einem in Paris lebenden marokkanischen Autor, und fing an zu lesen. Irgendwie konnte sie sich auf dieses Buch nicht konzentrieren, obwohl die Welt der Bücher fast so etwas wie ein zweites Zuhause für sie war. Mit den Helden der Romane konnte sie so leicht hoffen und bangen, ein Leben erträumen, das frei war von traditionellen Konventionen, wie sie es auf Schritt und Tritt erleben und erdulden musste. Frei von ihrer frömmelnden sephardischen Familie aus dem nordafrikanischen Milieu.

Herzensgute Menschen, die jedoch Nirs Leben andauernd beobachteten und kommentierten. Frei von der zuweilen etwas eintönigen Arbeit mit Menschen, die so ganz andere Dinge schätzten und anderem nachhingen als sie.

Wenn sie bei der Polizei über die Jahre hinweg weiterhin ihren Dienst täte, würde sie nie einen passenden Mann finden … Sei’s drum! Doch hier, an „ihrem Ort“, atmete sie die klare Wüstenluft der Judäischen Berge tief ein. Jene Gebirgsluft, die Religionsverkündern zu göttlichen Eingebungen verhalf, gläubigen Wallfahrern zum ersehnten Heil und Schriftstellern zu künstlerischen Inspirationen. Sie aber fühlte sich hier einfach nur friedlich und gelassen.

Und wieder fiel es ihr auf. Die Stimmung dieser Stadt beim ersten Sonnenstrahl wäre für sie ein Aquarell eines Henri Matisse. Die Vergoldung ihrer Dächer bei Sonnenuntergang eventuell eine Lichtorgie in Öl auf Leinwand wie aus der Hand eines William Turner. Aber dieses Flimmern und Flirren der hellen Töne, so, wie sich die Aussicht im Moment darbot, wäre ihrer Meinung nach am besten von einem Edgar Degas wiedergegeben. Vielleicht hätte er eine Pastellzeichnung angefertigt mit dem Titel „Jerusalem bei der Morgentoilette“.

Ameisen, kleine Heuschrecken und Grashüpfer belebten die spärlichen Gräser am Boden. Eine Zikade sägte ihre eintönige Melodie von der Baumkrone hinunter. Ein heißer Windhauch, der aus dem Kidron-Tal herauf wehte, ließ die länglichen Blätter und Zweige der Oliven wie die Betenden an der Klagemauer schaukeln.

Nir legte das Buch zur Seite und steckte ihren Bleistift wie ein Lesezeichen zwischen die Seiten ihres gerupften Notizblockes.

Sie schaute hoch. Nur ein paar Meter weiter weg erblickte sie zwei Männer, die sich auf einer Bank rittlings gegenübersaßen. Sie hatten ein Spielbrett zwischen sich platziert und waren in den Tanz ihrer Würfel und die Position ihrer Spielfiguren vertieft. Sie schienen sich übrigens blendend zu verstehen, obwohl der eine Hebräisch sprach und der andere ihm auf Arabisch antwortete.

Darauf erwiderte der Erste etwas auf Hebräisch. Worte, die anscheinend auch gut begriffen wurden. Nir musste schmunzeln. Da saß ein frommer Jude, ein Chassid, ihm gegenüber ein älterer Araber in Kaftan und kariertem Kopftuch, und sie spielten Backgammon.

Herrlich, herrlich, diese Ruhe! Und dann klingelte das Handy in Nirs Tasche zum vierten Mal. „Hallo!“, meldete sie sich, nach Art der Israelis, laut rufend und ohne ihren Namen zu nennen.

 „Wo treibst du dich herum!“, krächzte es aus dem Hörer. „Es gibt Arbeit, du sollst mal gleich bei Noach reinschauen, der hat was für dich.“

Es war Thalia Zucker, die unangefochtene Herrscherin über Telefon und Funk bei der Nordwache der Jerusalemer Polizei.

„Thalia, ich bitte dich! Du weißt doch, dass ich heute Vormittag freihabe.“

Nir legte einen Hauch von weinerlichem Trotz in ihre Stimme. „Außerdem bin ich mitten in der Natur, zwischen Oliven und Zypressen in entferntester Abgeschiedenheit!“

Thalia Zucker war die unerschöpfliche Quelle von Informationen aller Art. Allerdings hauptsächlich für solche Mitarbeiter, mit denen sie sich gut verstand. Oder solche, die sie sehr mochte. Auf diese kleine Machtposition achtete sie ganz eifersüchtig und mit voller Unterstützung von Nir. Die Kommissarin war nämlich eine große Nutznießerin dieses Privilegs. Denn es gab da ein offenes Geheimnis, wem die Sympathien von Thalia Zucker galten.

Insgeheim schwärmte sie für Nir. Sie schätzte ihren eher zugeknöpften Umgangston. Ihre betont einfache Aufmachung, als ob sie sich bemühte, ihre orientalische Anmut zu verstecken. Thalia verwahrte sich gegen jede Unterstellung, sie sei etwa hinter Nir richtig her oder so etwas Ähnliches. Aber die weibliche Erscheinung der Untersuchungsbeamtin mit ihren zuweilen männlich-herben Umgangsformen – das hatte schon was. Diese Kombination hatte es ihr schon seit langem angetan … Beamtin Zipori war sowieso die Schlagkräftigste. Und überhaupt, warum muss man sich rechtfertigen, wenn man im Verborgenen in jemanden verliebt ist! Vielleicht machte sie sich auch gewisse Hoffnungen auf eine wie auch immer geartete engere Beziehung.

Denn Nir lebte nach ihrer Trennung von ihrem Mann Dr. Raphael Zipori, diesem stadtbekannten Akademie-Bohemien, diesem hoffnungslosen Schürzenjäger … sie lebte also allein. Und sie hatte in letzter Zeit immer wieder mal angedeutet, dass allein auch einsam heißen konnte.

Thalia wurde misstrauisch, sie versuchte, sich ein etwas genaueres Bild zu machen. „Habt ihr eine Decke dabei? Eine Flasche Wein? Wer ist bei dir, wie heißt er?“ Ein schelmischer Unterton war nicht zu überhören, aber war da auch so etwas wie Eifersucht oder Neid?

„Lass doch, Thalia, du kennst mich doch. Keine Männer, keine Hunde!

Ich versuche nur etwas Gelassenheit zu finden, ein bisschen Ruhe … Ich schau später bei Noach rein, vielleicht heute Nachmittag.“

„Ich glaube, das wird unserem Vorgesetzten Noach Abutbul wirklich nicht passen. Da ist nämlich wieder so eine Geschichte, weißt du, nach JVP § 107. Du weißt schon …“, und die Sekretärin imitierte den lehrmeisterlichen Unterton ihres Chefs Abutbul: „Dieser Frieden ist nicht gut! Da war der ewige Kriegszustand schon besser. Denn außer den befreiten Böden haben wir auch die Freiheit selbst wieder verloren. Jetzt müssen wir sogar mit den Schwarzen kooperieren!“

Laut dem umfangreichen palästinensisch-israelischen Vereinigungsvertrag, kurz „Jerusalemer Verträge“ genannt, Abschnitt Polizei, Paragraph hundertsieben, waren trotz der Länderhoheit, welche die Sicherheitsorgane in jedem einzelnen Bundesland hatten, die einzelnen Reviere angehalten, bei bestimmten Aufgaben zu kooperieren. Und zwar besonders dann, wenn Opfer oder Täter, Tatort oder die offensichtlichen Hintergründe des Falls eine Verknüpfung zwischen zwei oder mehreren Distrikten vermuten ließen.

Sonst hatten die einzelnen Länder, auch in Bezug auf ihre Polizeikräfte, eine vertraglich festgelegte und ausgeprägte Souveränität.

„Ja, ja, der Abutbul wird sich nicht mehr ändern“, stöhnte Nir. „Es will ihm einfach nicht in den Kopf, dass es keine guten Kriege gibt, so, wie es keinen schlechten Frieden gibt! Aber, dass gerade ich mich mit diesem Paragraphen herumschlagen muss“, Nir schüttelte den Kopf, sie war ziemlich genervt, „und jetzt auch das noch! So was drückt er natürlich gerade mir aufs Auge! Er weiß doch, dass es mir nicht so passt, mit einem Mann zusammenzuarbeiten.

Er macht das nur, weil keiner von uns mit einem Araberbullen zusammen auf Streife gehen will.“

„Seit wann hast du was gegen Araber, Nir? Jetzt bin ich aber platt, ich wusste nicht, dass auch du …“, in Thalias Stimme war ein gewisses Staunen nicht zu überhören.

„Unsinn, nichts gegen Araber, gar nichts – aber gegen Männer!“, polterte Nir. „Kannst du dir vorstellen, wie es ist, mit so einem Muslim-Macho zusammen zu ermitteln?“

Das hörte Thalia nicht ungern. Es war ihr sogar recht, dass Nir sie in diesem Moment nicht sehen konnte. Denn mit der so gestärkten alten Hoffnung schoss ihr auch die Röte ins Gesicht. „Na ja, komm rein und hol dir erst mal das Plastik bei Noach ab. Diese Sache scheint ihn zu wurmen, er will doch mit seiner Frau morgen nach Italien. Du weißt schon, Bella Italia, Spaghetti und so.“

Mit dem Begriff „Plastik“ wurde ein kleiner Datenträger bezeichnet, der in letzter Zeit Papierordner, Akten und Spiralblocks fast völlig verdrängt hatte. Dieser virtuelle Speicher war so groß wie eine Speicherkarte für Digitalkameras.

Kombiniert mit einem internetfähigen Handy, stellte er, was die Leistungsstärke anbetraf, fast jede polizeiliche Kommandozentrale in den Schatten.

„Um was geht’s denn? Warum brennt’s so, wenn man fragen darf?“

„Weiß ich doch nicht, Nir. Alles wie immer geheim. Und im Netz sowieso keine Einzelheiten!“

„Komm, mach schon, Thalia!“

„Na ja … ich weiß es wirklich nicht so genau … eigentlich darf ich doch nicht …“

„Thalia!!!“

„O.k., reg dich ab. Es stammt vom Polizeidistrikt Ramallah“, ihre Stimme wurde jetzt ernster, leiser, „ich glaube, schon wieder so eine Geschichte wie vor kurzem in Hebron. Ganz unheimlich … Ich sag dir ehrlich, das geht mir schon unter die Haut, irgendwie gruselig!“

Nir hatte schon von der „Sache Hebron“ gehört, aber nur so, unter der Hand.

Obwohl alles versucht wurde, um „aus Gründen der nationalen Sicherheit“ die Geschichte zu vertuschen, dann zu verkleinern und schließlich zu verharmlosen, drang sie doch durch irgendwelche Quellen an die Öffentlichkeit.

Ein Fall, nicht unähnlich dem Mord im Wadi Qelt.

Die Reaktionen waren verheerend.

Das zarte Gefüge eines neuen multikulturellen Staates, eines einmaligen historischen Experiments, schien mächtig auf die Probe gestellt. Demonstrationen brachen aus, alte Vorurteile schienen wieder aufzuflammen. Anschuldigungen und Verschwörungstheorien schossen ins Kraut. Nur mühsam geheilte, alte Wunden drohten wieder aufzureißen. Und nun dieser zweite Tatbestand. Und wieder so eine … Abscheulichkeit. Dieser ad acta gelegte Fall aus Hebron hatte der Chef, Noach Abutbul, persönlich bearbeitet. Irgendwie schien es ihm aber überaus willkommen, dass die Akte schon nach zwei Tagen, auf Anordnung „von ganz oben“, als erledigt zu betrachten war.

Erstens plante er schon seinen Italienurlaub. Zweitens hätte eine Verfolgung dieser Geschichte „echten Einsatz“ verlangt, und drittens, das war immer sein letztes Argument, und drittens überhaupt!

Aus gebührendem Abstand betrachteten zwei der Wanderer im Wadi Qelt das, was die gesamte Touristengruppe so verstört und die hektischen Aktivitäten der Behörden ausgelöst hatte. Die Wanderung im Wadi Qelt hätte eine Bereicherung ihrer Nahostreise werden sollen, vielleicht sogar ein Highlight, doch sie endete als Fiasko! Und hoch oben im Himmel drehten schon die ersten Geier ihre Runden. Diesen scharfäugigen Gesellen entging nichts, was zwischen der Arava-Steppe und Samaria zu Tode kam. Die hinbeorderten Beamten aus der Polizeiwache von Ramallah hatten unterdessen ihre Wagen neben einer Wasserstation und ein paar Beduinenzelten geparkt und begannen mit dem Abstieg zur beschriebenen Stelle des Tatortes.

„Na gut, in Ordnung, ich komme vorbei. Es dauert vielleicht ein paar Minuten.

Bin auf dem Ölberg und muss noch zur Pater-Noster-Kirche, da steht mein Wagen.“

„Ja, aber mach schnell“, meinte Thalia, „ich will meine Mittagspause nicht im Revier verbringen. Außerdem, wenn du gleich kommst, habe ich eine kleine Überraschung für dich.“ An die Regelmäßigkeit von Thalias Aufmerksamkeiten hatte sie sich schon fast gewöhnt. Auch wenn die vielen Gefälligkeiten sie manchmal etwas verwirrten. Doch Nir hörte einen vielversprechenden Unterton aus Thalias Stimme heraus. Sie war neugierig geworden. Auch auf diesen neuen Auftrag beziehungsweise auf die dubiosen Informationen aus Ramallah.

„Und die Überraschung wäre?“

„Habe für dich das Buch von Ghazi Abdel-Qadir gefunden! Und gekauft!“, sagte Thalia triumphierend.

„Ich mache das Blaulicht an“, flötete Nir, „ich rase schon, du bist ein Schatz!“

Von Blaulicht war keine Rede. Nir fuhr einen uralten Wagen, den sie als eine Art Trostpflaster von ihrem Exmann zum Abschied bekommen hatte.

Einen Karren, der mit seinen mindestens 60 Jahren auf dem Buckel entweder Bewunderung oder Belustigung auslöste. Das Auto wurde von ihr selbst über und über mit Blümchen bemalt. So akkurat und detailliert, dass es noch Wochen dauern würde, bis das blecherne Gärtchen fertig sein würde.

Eigentlich war die Dienststelle Jerusalem Nord in der ehemaligen, inzwischen aus- und umgebauten Polizeischule im Stadtteil Sheikh Jarrah untergebracht.

Nicht weit von der obersten israelisch-palästinensischen Polizeizentrale und Sitz des Polizeiministeriums. Sie hätte also schnell über die Samuel Ben-Adia– und bis zur Levi-Eshkol-Straße fahren können. Doch Nir wollte sich noch etwas Zeit lassen.

So steuerte sie den alten, knallig bunten VW-Käfer, inzwischen schon so etwas wie ein wertvoller Oldtimer, Richtung Süden. Dann fuhr sie die Jericho- Straße hinunter, um rechts aus dem Kidron-Tal heraus am Jüdischen Viertel vorbei in die neueren Stadtteile zu kommen. Sie wollte nur noch etwas Zeit herausschinden, noch ein paar Minuten länger mit sich selbst und allein sein.

In der Batei-Machasse-Straße, neben dem alten jüdischen Viertel, musste sie warten. Ein Busfahrer versuchte umständlich, sein Fahrzeug in den fließenden Verkehr einzufädeln. Nir legte eine Musikkassette in das alte Autoradio ein. Sie hatte sich diese Aufnahme in der Wache von einer schon alten CD auf dieses noch ältere System überspielen lassen. Dort gab es noch die notwendige Technik für so etwas. Die Stimme von Sonia M´Barek zelebrierte den klassischen tunesischen Maalouf. Einen Stil, der Nir ein bisschen an den Flamencogesang des mittelalterlichen Andalusien erinnerte. Hier, in unmittelbarer Nähe der Klagemauer und der südlichen Tore zur Altstadt, fuhren täglich Hunderte von Bussen vor. Solche, die zu den städtischen Verkehrsbetrieben „Eged“ gehörten, und natürlich die grellbunt lackierten Massentransporter verschiedenster Tourismusveranstalter. Der Bus jedoch, dessen Fahrer sich so schwertat, in die Batei-Machasse-Straße einzubiegen, fiel Nir irgendwie auf. Es war ein kleiner Personentransporter mit vielleicht sechs oder acht Sitzreihen. Warum, fragte sie sich, war die Sicht aus allen Fenstern, bis auf die Windschutzscheibe, durch Sonnenblenden versperrt worden? Touristen kommen doch, um Land und Leute zu sehen, und nicht, um im Bus zu schlafen oder Zeitung zu lesen. Außerdem war das Sonnenlicht an jenem Morgen noch nicht so grell. Auch sonst fiel Nirs geübtem Blick das Gefährt auf. Von seiner Straßenlage her sah es völlig überlastet aus. So, als würde auf dem Schoß eines jeden Passagiers mindestens noch ein zweiter sitzen. Schließlich schaffte es der Fahrer, Richtung Osten einzubiegen, und der Verkehr rollte wieder. Nir fuhr an, beschleunigte und verschwand in Richtung Zion-Tor, also nach Westen. O.k., Abutbul, ich komme ja schon, dachte sie, was gibt es schon wieder so Dringendes? Noch einen familiären Ehrenmord, einen dramatischen Höhepunkt einer erzwungenen Ehe, ein fatales Ende einer Drogenkarriere? Würde sie wieder einmal von Berufs wegen die unappetitlichen Scherben eines tragischen Irrweges einsammeln müssen? …

In einer nicht allzu fernen Zukunft herrscht im Nahen Osten endlich der seit langer Zeit ersehnte Frieden. Aber Terroristen versuchen, dieser Fantasie ein grausiges Ende zu machen. Auszug aus einem Roman von Oded Netivi

Uri Shani ist in der Schweiz geboren und lebt seit 35 Jahren in Israel. Er ist professioneller Übersetzer für Literatur aus dem Hebräischen ins Deutsche. Sein "Übersetzer-Credo" könnt ihr im Link nachlesen:

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Rosebud
Rosebud
4 Jahre

Das Buch sollte auf Hebraeisch uebersetzt werden!

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