Roman, New York, Eran Wiesel, Entführung

Loblied auf die Einsamkeit

In Uris Leben scheint alles in Ordnung zu sein. Er hat eine Frau, Kinder, eine feste Anstellung an der Universität, und jedes Jahr fährt er zu akademischen Kongressen. Heute ist der letzte Tag seines Aufenthaltes in New York, und den Weg zum Flughafen macht er mit dem Zug. Nachdem er aus Versehen den Zug in die falsche Richtung genommen hat, hilft er einem fremden Mann, ein verlorenes Schmuckstück zu finden. Bald wird Uri in einer fremden Wohnung aufwachen und unwiderruflich in einer mysteriösen und hektischen Reihe von erstaunlichen und gefährlichen Ereignissen verloren gehen, darunter Sack auf dem Kopf, arabisch in den Ohren, mutige Frauen und Fragen, auf die er keine Antwort weiß.

Mit einem ungewöhnlichen Tempo und einer ihm eigenen Sprache, die elegant zwischen verschiedenen Sprachebenen wechselt, entfaltet Eran Wiesel, Professor für Bibelkunde, in diesem Erstlingswerk, eine spannende, brutale und ereignisvolle Geschichte, die philosophische Fragen über das Maß der Kontrolle über unser Leben und über die Rolle des Schicksals aufwirft.

„Loblieb auf die Einsamkeit“ ist eine schwarze, sehr originelle Version der in der Literatur und im Kino bekannten Geschichte des Helden gegen seinen Willen, der wegen einer falschen Identifizierung, eines falschen Schrittes oder weil er am falschen Ort zur falschen Zeit war, in Probleme und Abenteuer gerät. Aber hier ist der Held ein Anti-Held. Die sich überstürzenden Ereignisse sehen aus, als ob sein Unterbewusstsein sich seiner bewältigt hätte. Die Wahl, die Geschichte in der ersten Person eines so bedenklichen Helden zu erzählen, ist eine raffinierte, die eine gute Beherrschung in der Kunst des Erzählens voraussetzt, und die den Leser zwingt, immer in Acht zu bleiben und zwischen Empathie und Verdacht zu wechseln. Dieselbe Beherrschung zeichnet sich auch im Stil aus, der eine knappe Sprache mit lyrisch-prophetischen Abstechern verbindet, was die Spannung nicht schwächt, sondern sie mit einer dunklen Qualität versetzt, die das Leseerlebnis vertieft. Es ist eigentlich ein Essay über die Leere, über die Maskierung und den Identitätsverlust in Form eines Krimis. Ein Buch, das man nicht aus der Hand legen kann, und das den Leser auch nach dem Ende nicht loslässt. (Tal Nitzan, Dorit Rabinian, Chana Goldberg, aus der Begründung für den „Akum“-Preis 2015)

„Wie ein Film von Tarantino, nur besser“ (Maya Levin)

Es scheint, dass es nichts Passenderes gibt in dieser Zeit, als ein Auszug aus dem Roman "Loblieb auf die Einsamkeit" von Eran Wiesel. Aber der Schein trügt. Das muss Uri, der "Held" dieses Romans (auch das ein Schein, der trügt…), auf Schritt und Tritt erfahren. In Uris Leben scheint alles in Ordnung zu sein. Er hat eine Frau, Kinder, eine feste Anstellung an der Universität, und jedes Jahr fährt er zu akademischen Kongressen. Aber bald schon: Sack auf dem Kopf, arabisch in den Ohren, mutige Frauen und Fragen, auf die er keine Antwort weiß…. "Wie ein Film von Tarantino, nur besser" (Maya Levin)

Loblied auf die Einsamkeit

von Eran Wiesel

Übersetzung: Uri Shani

Unwichtige Dinge, ein Palmenast, der im Wind abbricht, oder das Bellen eines Hundes, stellen sich als bedeutend heraus, und sogar als das, was man schicksalsträchtig nennt. Ich kann die Dinge nicht ganz genau nachvollziehen. Ich grabe und grabe, hole Steine und weißen Kreidestaub heraus, fülle Eimer damit. Etwas in der Reihenfolge der Ereignisse bleibt verzettelt. Ich wohnte in der Straße 122. Es war Ende Sommer, und ich hatte Zeit. Vor meiner Reise erzählte ich, dass ich viele Verpflichtungen habe, aber nichts wurde von mir verlangt. In den ersten Tagen versuchte ich, früh aufzustehen. Nachts, als ich schlafen ging, öffnete ich die Fensterläden. Ich dachte, dass das Tageslicht mich daran hindern würde, im Bett grenzenlos vor mich hinzudösen. Schließlich gab ich es auf, vor Mittag aufzustehen. Ich duschte mich, ging in die Kantine, um etwas Kleines zu essen und um die Studenten der Sommerkurse zu beobachten, die die Gänge füllten. Ich schlenderte ohne Richtung in den Straßen. Ich aß Fastfood in Diners, und abends saß ich an einem der Tische, die zur Straße gewandt waren, trank ein Bier und musterte die jungen Frauen, die ihr Leben feierten und an der Straßenbiegung verschwanden. Unbedeutende Gedanken wanderten in meinem Kopf herum, nichts, was sich lohnte aufzuzeichnen. Ich gehöre nicht zu denen, die mit Fremden ein Gespräch beginnen. Ich bin kleingewachsen und mein Gesicht ist ohne Rätsel. Es muss schon ein besonderer Zufall sein, wenn Menschen mich bemerken, mich etwas fragen, mir zuhören. Und dabei sind meine Worte normalerweise originell, und mehrmals wurde ich gelobt, weil meine Ansichten interessant sind. Und trotzdem fragt mich keiner nach meiner Meinung. Nicht einmal meine Kinder. Nicht immer waren unsere Beziehungen kühl. Und trotzdem kann ich mich nicht erinnern, dass sie jemals meine Nähe suchten. Vielleicht hatte Channa sie dabei beeinflusst, Distanz von mir zu halten. Sie selbst spricht nicht viel. Ihre Schultern sind breit wie die Schultern eines Burschen, sie ist stark gebaut und um einen ganzen Kopf grösser als ich. Ihr Mund ist klein und gerade. Wir hatten spät geheiratet. Wir haben besoffen und nüchtern in meiner Wohnung miteinander geschlafen. Aber ich glaube nicht, dass sie mich geliebt hatte. Irgendwie ist mir das recht. Denn auch ich, wie ich es auch drehe und wende, liebe sie nicht. Aber wenn wir miteinander schliefen, liebte ich sehr. Meine Einsamkeit in New York ist nicht anders als meine Einsamkeit an jedem anderen Ort. Das waren die Dinge, an die ich an jenen Abenden dachte. Das heißt, nichts ändert sich wirklich, hier in New York, wie zu Hause, am anderen Ende des Atlantiks. Und trotzdem machten mich diese Frauen mit den weiß blinkenden Zähnen, die immer irgendwo hingingen, unruhig. Manchmal sogar unglücklich.

Das waren die hauptsächlichen Erlebnisse, die ich von diesem Sommer mit mir hätte nehmen sollen. Ich las kein Buch, schrieb keinen Artikel. Ja, ich schrieb kein Wort. Ich entschloss mich, den Weg zum Flughafen mit der Subway zu machen. Ich setzte meinen Fuß auf meinen blauen Koffer und schaute auf die Leute, die auf der Bank vor mir saßen. Manchmal geschieht es, dass von allen Gedanken, die in meinem Kopf herumschwirren, ein Gedanke, vielleicht kein besonderer, jedenfalls kein prinzipiell anderer, hervorsticht, und er setzt sich fest und lässt mich nicht los. So war es auch diesmal. Auch wenn ich Diane verletzt hatte, wie es mir in diesem Moment schien, dann war da nichts mehr zu machen. Als ich zum Kampus kam, wurde sie mir als die Kontaktperson zu den Gastprofessoren vorgestellt. Und wenn ich jeweils auf den Aufzug wartete, der hinunter in die Cafeteria fuhr, und sie die Augen hinter der Theke aufschlug, fragte ich sie etwas, Fragen, die Leute halt fragen, ohne viel darüber nachzudenken, nur um nicht zu schweigen. Ihre Antworten entflogen in die Luft wie Tauben. Ich schaute ihnen nicht nach. Und so nahm ich nicht wahr, dass sich meine Fragen wiederholten. Denn ich hatte schon nach ihrem Wohnort gefragt, oder nach dem Arbeitsplatz ihres Mannes, und so weiter, und jedes Mal, offenbar, vermied sie eine Antwort, oder sie bedeutete mir auf andere Weise, von ihr abzulassen. Bis sie mich eines morgens, eine Woche bevor ich zurückflog, plötzlich verfluchte: „Israelischer Schnüffler!“ Stand auf, der Stuhl machte den dazugehörigen Lärm, und verschwand im Korridor. Ich verstand, was sie sagte, erst, als die Türen des Aufzuges sich hinter mir geschlossen hatten. Und während ich noch in diese Sache vertieft war, das heißt ich rannte Dianes verschwindenden Schatten hinterher und versuchte, sie zu beschwichtigen und so weiter, Dinge, die ich nie tat und von denen ich nicht weiß, wie man sie macht, verpasste ich fast die Union-Square-Station, wo ich aussteigen musste, um den E-Zug zu nehmen, aber ich zwängte mich hinaus, schleppte den Koffer hinter mir her, eine Sekunde, bevor die Türen sich schlossen. Der Gedanke, dass ich fast die Station und dann den Mitternachtszug verpasst hatte, und zu dieser späten Zeit gibt es nur wenige Züge, und hinaus auf die Straße hätte gehen müssen und ein Taxi nehmen, und siehe da, ich hatte es trotzdem noch im letzten Moment geschafft, dieser Gedanke lenkte mich ab. Und so stieg ich in den E-Zug Richtung Süden, Brooklyn, und nicht Richtung Norden, und anstatt Queens von Westen nach Osten zu durchqueren und zum Flughafen zu fahren, wühlte sich mein Zug seinen Weg in den langen, schlängelden Kanälen unter dem East-River. Aber zu diesem Zeitpunkt wusste ich noch nicht, dass ich nirgendwo hinfahre. Ich schloss die Augen und gab mich dem sanften Wiegen des Zuges hin.        

*

Ich hatte nicht geschlafen. Aber ich sah aus wie einer, der eingeschlafen war und nicht weiß, wo ihn der Zug in dieser späten Stunde hinausgespuckt hat. Ich stand außerhalb der Station und schaute auf den Golf von Jamaica. New Yorker, die das Nachtleben von Manhattan satt haben, wohnen hier, in Rockaway Park, sieben-acht Kilometer südlich des Flughafens JFK, des Tores zur Welt, zehn Minuten mit dem Taxi, anderthalb Stunden mit der Zuglinie E, die einen riesigen Bogen in der Stadt macht. Ich setzte mich auf meinen Koffer und schaute auf ein gelbes Taxi, das mir entgegenfuhr. Ich wusste schon, dass ich die Hand nicht heben würde, noch bevor ich mich entschied. Aber sollte der Fahrer halten und durch das offene Fenster etwas sagen, so würde ich einsteigen und zur rechten Zeit meinen Flug erreichen. Ich schaute wieder auf dem Golf, und als ich wieder hinsah, war die Straße leer.

Manchmal kommt jemand zu spät zu seinem transatlantischen Flug. Jemand schleppt auf der Straße seinen Koffer hinter sich her. Nichts Besonderes. Ich machte ein paar Schritte und setzte mich dann auf eine Bank. Ich wollte ein wenig dösen, und nicht, weil ich müde gewesen wäre. Die Überraschung ermattet die Muskeln, und zum ersten Mal, seit ich gekommen war, und vielleicht zum ersten Mal seit langer Zeit, fühlte ich mich so: überrascht. Aber auch gelassen. Jemand hielt neben mir. Ich spürte seinen schweren Atem in der Luft. Ich öffnete die Augen. Ein Mann saß auf allen Vieren, und es schien, dass er etwas suchte. Ich betrachtete ihn einen Moment und fragte: „Brauchen Sie Hilfe?“ Er brauchte. Hatte ein Schmuckstück verloren. Ich kniete neben ihm nieder. Sein Haar war lang und dicht, es verdeckte die Ohren mit lauter silbernen Ohrringen. „So ein Schmuckstück“, sagte er und zeigte auf ein Kreuz, das von einem Armband an seiner Hand hing. Ich suchte nicht wirklich. Ich schaute ein bisschen herum, dann setzte ich mich wieder auf die Bank. Und dann sah ich es, genau neben meinem Fuß. „Hier!“ Der Mann war begeistert. Er umarmte mich, es schien, dass dieses Schmuckstück ihm wichtiger war als diejenigen an seinen Ohren, Händen und an seinem Hals. „Wie kann ich mich bedanken?“ Ich machte eine abwinkende Handbewegung. „Nein, wirklich!“ Es schien, dass er sich nicht abwimmeln ließ. „Warten Sie auf jemanden?“ Da war etwas dran an seiner Frage. Ich empfand eine Welle von Glückseligkeit. Seine Freude war ehrlich, kindlich. Ich ließ mich davon überzeugen, dass ich eine gute Tat gemacht hatte. „Ich würde mich freuen, mit Ihnen ein Bier zu trinken“, sagte ich. Da gab es bestimmt irgendwo ein offenes Pub. Es drängte nichts mehr. Am Morgen würde ich versuchen, einen anderen Flug zu finden. Vielleicht würde ich Channa anrufen und ihr sagen, dass ich mich um ein paar Tage verspäte. Ich würde nicht erzählen warum. Es ist da was in der Bibliothek dazwischengekommen und lässt mir keine Wahl. Ein altes Schriftstück oder sowas. „Klar, ein Bier!“ Er bedeutete mir mit einer Handbewegung, ihm zu folgen, nahm meinen Koffer und ging los. Erst jetzt sah ich, wie hochgewachsen er war, und seine Schritte waren lang und schwer.

*

Ich erinnere mich an eine Reihe von drei- oder vierstöckigen Häusern. Und an einen dunklen Hinterhof. Ich las laut einen Namen, der in goldenen Lettern auf einem mit zwei Schrauben an eine Tür befestigten Holzstück eingraviert war. Der Name fiel mir auf, weil er ungewöhnlich schien, aber ich kann mich nicht erinnern, inwiefern ungewöhnlich. Ein Geruch von Gebratenem stieg mir in die Nase. Ich dachte, wer brät Fleischklöße mitten in der Nacht? Und Dunkelheit, und am Ende der Dunkelheit eine Reihe von Scheinwerfern, oder vielleicht ein Schweinwerfer. Vielleicht war es der Mond. Ich lag auf einer grünen Couch, voll von Hundehaaren. Ich betrachtete die Holzdecke über mir. Wie lange betrachtete ich sie schon? Ich verspürte einen leichten Schwindel. Verschiedene Glieder schwebten in meinem Bauch, und eine Kälte bohrte sich in mich, die meine Arme erzittern ließ. Ich war offenbar wieder eingeschlafen. Als ich aufwachte, und diesmal gänzlich, wusste ich schon, dass ich auf derselben grünen Couch lag und über mir die Decke sah. Ich setzte mich auf. Mein Pass lag vor mir auf dem Boden. Ich betateste meine Hosentasche – meine Brieftasche und mein Handy waren verschwunden. Ein Gestank von Urin schlug auf meine Nase ein. Der schreckliche Gestank kam von mir, aber im ersten Moment verstand ich das noch nicht. Ich zog die Hose unter der Decke aus und schaute mich um. Es gab dort eine Holztür, die wie ein Eingang zu einer Dusche aussah. Als ich die Tür öffnete, fielen ein Besen und ein daran gebundener Eimer auf meinen Kopf. Ich hörte Schritte. Ich schmiss die Hose in den Eimer, schob den Besen beiseite und schloss die Tür. Ich ging zur Couch zurück, zog die Decke bis zur Hüfte und stellte mich schlafend. Es war eine junge Frau. Ich schaute sie an, als sie von mir wegging. Ihr Haar war kurz und hellbraun. Sie trug ein grünes Stoffhemd, das bis über die Hüften gezogen war, und darunter erschien das untere Ende einer Unterhose aus feiner Spitze. Plötzlich drehte sie sich um und ertappte mich. „Hey!“ Sie fand offenbar nichts Besonderes daran, dass sie vor einem Fremden in Unterhosen herumlief. „Ich mache Kaffee. Aber vielleicht gehst du vorher duschen, du stinkst wie ein Hund.“ Sie deutete hinter sich, auf die Tür der Dusche.

Schwierig darzustellen, wie klein diese Dusche war. Ich kam heraus, mit einem Badetuch um die Lenden, und suchte den blauen Koffer. Ich guckte in eine offene Tür. Eine Küche. Am Tisch saß ein junger Mann in den Zwanzigern und las Zeitung. Silberne Ohrringe in beiden Ohren, sein Haar geölt, auf seinem jugendlichen Gesicht ganz kleine Sommersprossen. Die junge Frau stand mit dem Rücken zu mir am Herd und rührte etwas in einem Topf. Ich hatte es nicht immer leicht mit dem Aussehen meines Körpers. Aber irgendwie bin ich immer schlank geblieben, jedenfalls schlank im Vergleich zu Gleichaltrigen. Aber meiner pflaumenartigen Brustwarzen wegen schämte ich mich immer. Wenn ich aus der Umkleidekabine im Schwimmbad der Universität komme, zwicke ich sie, damit sie schrumpfen, und tat das auch jetzt. Die beiden begrüßten mich mit „good morning“ und stellten sich vor. Der Mann hieß Ronald, Ronny. Die Frau Diane. Noch eine Diane, dachte ich. Sie hatten meinen Koffer nicht gesehen. Ihrer Meinung nach kam ich ohne ihn hierher. Aber den Pass legten sie neben die Couch. „Hey, du da aus Israel, waren da Wertsachen im Koffer?“, fragte Diane. „Wenn ja, kannst du sie vergessen, Nick hat deine Sachen schon verhökert. Du musst verstehen, das ist seine Arbeit. No offence. Er hätte dich ja auf der Straße lassen können.“ Es waren ein Laptop im Koffer und Kleider. Ich brauche Kleider. Ronny schickte mich in Nicks Zimmer, die zweite Tür von links. Wahrscheinlich hatte niemand in den letzten Monaten in diesem Durcheinander von Kleidern, Schuhen und Kartonschachteln geschlafen. Ich wühlte ein wenig herum und fand nichts Bekanntes. Es schien, dass Nick meinen Koffer woanders auseinandergenommen hatte. Ich wählte etwas aus dem Haufen. Eine Unterhose, eine Hose und ein dünnes, rötliches Hemd. Ich kehrte in die Küche zurück. „Kaffee?“, fragte Diane. Als sie mir Kaffee einschenkte, betrachtete ich sie aus den Augenwinkeln. Ich könnte nicht sagen, dass sie schön war. Eine winzige Nase wie ein Knopf, mit einem Grübchen auf der rechten Seite. Da war einmal ein Nasenring. Grüne Augen, die einander nahestanden. Aber etwas Allgemeines zwischen dem kurzen Haar und dem spitzen Kinn war angenehm anzusehen. „Hey!“, sagte sie, als sie bemerkte, dass ich sie betrachtete, und lächelte. Diane sagte öfters „Hey!“ Und inzwischen erklärte mir Ronny ein paar Dinge. Sie waren keine Partner in Nicks Geschäften. Aber es schien, dass sie ein Maß an Kollaboration einhielten. Und vielleicht war da nur guter Wille, Naivität von Kindern, die versuchen zu helfen. Geh nicht zur Polizei, das wird nichts bringen. „Ich werde nicht zur Polizei gehen“, sagte ich. Aber Ronny ließ nicht los. Nick komme fast nie hierher, und er wisse nicht, wo er sich herumtreibe und schlafe. Es gebe keine Möglichkeit, ihn zu finden, und auch wenn es eine gäbe, würde sich kein Polizist darum kümmern. „Ich wurde schon mal verhört.“ Seine blauen Augen leuchteten. „Aber verstehe, was ich weiß, nützt nichts.“ „Hey! No offence!“ Das war natürlich Diane, die sich setzte und jetzt mit verschränkten Beinen dasaß. „Du kannst von hier aus anrufen“, sagte Ronny und zeigte aufs Telefon. „Jemanden bitten, dass er dich abhole.“ Ich schaute über seine Schulter hinweg. Ich hätte erklären müssen, dass ich keine Bekannte in New York hatte. Aber ich schwieg. Dann sagte er: „Du kannst hierbleiben heute, wenn du willst, dich erholen.“ Ich trank meinen Kaffee, einen bleichen und lauwarmen amerikanischen Kaffee. Ich schwieg weiterhin und betrachtete Dianes Bewegungen. Ich dachte: So sieht eine Verbrecherin aus? Geht in der Küche mit Spitzen-Unterhosen herum, gießt Kaffee aus einer gläsernen Kanne und rührt Essen in einem Topf. Etwas bewegte sich unter meinen Füssen. Ich fühlte kaltes Wasser. Eine zuschlagende Tür schlich sich durch das offene Fenster hinein. Ich hörte das Rattern eines sich nähernden Helikopters und scharfes Hundegebell. Plötzlich merkte ich, dass meine Augen geschlossen waren, schon seit einer Weile geschlossen waren. Ich wollte sie aufschlagen, aber meine Lider waren zu schwer. Ich hörte von fern meine bettelnde Stimme: „Zur Couch… bringt mich zur Couch…“ Ein Baum, zwischen dessen Ästen ich stand, schüttelte sich, und meine Finger verloren ihre Kraft, meine Arme sanken nieder, ich hatte keinen Halt mehr. Aber mein Absturz wird leicht sein, und ich werde den Aufprall gar nicht spüren. „Hey!“ Eine Hand schüttelte mich. „Jesus, dieser Mann ist nicht gesund…“

Es scheint, dass es nichts Passenderes gibt in dieser Zeit, als ein Auszug aus dem Roman "Loblieb auf die Einsamkeit" von Eran Wiesel. Aber der Schein trügt. Das muss Uri, der "Held" dieses Romans (auch das ein Schein, der trügt…), auf Schritt und Tritt erfahren. In Uris Leben scheint alles in Ordnung zu sein. Er hat eine Frau, Kinder, eine feste Anstellung an der Universität, und jedes Jahr fährt er zu akademischen Kongressen. Aber bald schon: Sack auf dem Kopf, arabisch in den Ohren, mutige Frauen und Fragen, auf die er keine Antwort weiß…. "Wie ein Film von Tarantino, nur besser" (Maya Levin)

Uri Shani ist in der Schweiz geboren und lebt seit 35 Jahren in Israel. Er ist professioneller Übersetzer für Literatur aus dem Hebräischen ins Deutsche. Sein "Übersetzer-Credo" könnt ihr im Link nachlesen:

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Israeli
Israeli
4 Jahre

Sehr schoen! Die Kontrolle ueber unser Leben haben wir ja jetzt alle verloren, und singen (hoffentlich) ein Loblied auf die Einsamkeit…

Georg
Georg
4 Jahre

Lieber Uri,
Schön geschrieben, so dass man sich das Buch sofort in die Hände wünscht.
Vor allem in Zeiten von Corona, die in ihren potenziell revolutionären Auswirkungen leider noch unterschätzt wird 🙂
Aber kommt noch.
Danke für den Link zu Eurem Portal!
Freundschaft!
Georg

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