Dr. Moshe Morad ist ein bekannter Radiomoderator in Israel und unterrichtet auch in verschiedenen Akademien. In der Vergangenheit war er Pop-Journalist und Geschäftsmann im Music-business.
Anfangs 80er Jahre lebte er in London und beschrieb als Journalist die britische Musikszene in einer wöchentlichen Sendung im Pop-Sender des israelischen Radios und in Reportagen in verschiedenen Zeitungen. Während dieser Zeit traf er viele Musiker. Im Buch „London Calling“ (2019, der Titel des Buches ist kein Fehler, sondern der Titel der dritten Platte der britischen Rockband „The Clash“, 1979) findet der Leser Interviews mit Musiker wie Boy George, Simon Le Bon, Kate Bush, Vince Clarke, Robert Smith, Johnny Rotten, Tony Hadley, Siouxsie and the Banshees, Madness, Mike Oldfield, John Anderson und Captain Sensible.
London Calling
von Moshe Morad
Übersetzung: Uri Shani
Vorwort
Am 21. August 2017 ertönte der Bing Ben zum letzten Mal, bevor er renoviert wurde, und in mir ertönte eine innere Glocke.
Während vieler Jahre lagen in meinem Keller Tagebuchaufzeichnungen und vorbereitende Skizzen für Interviews mit Musikern, die ich in London zwischen 1980 und 1984 gemacht hatte. Ich fragte mich, ob der Stopp des Big Ben mir ein Zeichen gab, dass es Zeit geworden ist…
Am Abend ging ich in den Keller hinunter, um das Tagebuch zu finden.
Die Texte in diesem Buch sind aus jener Zeit. Sie enthalten eine gewisse Naivität und eine Leidenschaft im Geist und sind in der Sprache der 80er Jahre geschrieben, denn sie sind die Stimme eines jungen, in die Musik vernarrten Mannes, der nach seinem Militärdienst hier in Israel nach London gekommen war. Es befinden sich dabei Wörter wie „Schallplatte“ und „Walkman“. Manchmal sind auch die Namen der Bands auf Hebräisch übersetzt, wie es damals üblich war.
Die Texte sind zusammengesetzt aus dem, was aus den Tagebuchaufzeichnungen und den Skizzen für die Interview übriggeblieben ist, und sie sind in Themen geordnet, und nicht in chronologischer Reihenfolge.
Ich wünsche euch eine spannende Reise in der Zeit.
Moshe Morad
2019
„Wir sind die namenlose Kultur“
Gespräch mit Steve Strange von der „Visage“-Band, Januar 1981
Der Markt von Kensington ist einer jener Kleidermärkte, die einen getreuen Einblick in die Mode und die Kultur von Londons Jugend erlaubt. Am Ende der 60-er Jahre war das dreistöckige Gebäude voll von bekifften Hippies in Schlafsäcken. In der Mitte der 70-er Jahre, mit dem Aufstieg des Punks, füllte sich der Markt mit Punks und Ständen, die Ledermode, Ketten, Haarfarbe und sogar Hakenkreuze verkauften. In der letzten Zeit füllten sich die Stände immer mehr mit Musselinkleidern vom Beginn des Jahrhunderts, Smokings aus den 30-er Jahren, eleganten samtenen Hüten mit Federn, prächtigen Schuhen mit Absätzen, Kleidern aus den Schränken der Theater, alten silbernen Manschettenknöpfen und Fliegen, Bühnenschminke in allen Farben und Schallplatten von „Visage“ und „Spandau Ballett“ neben solchen von Marlene Dietrich und der „Dreigroschenoper“ von Brecht.
Die lokalen Zeitungen sprechen von den „New Romantics“, die eine klassische Romantik mit verrücktem „modernem“ Ton und Aussehen vereinen. Visuell ist es ein Gemisch aus romantischem Kitsch mit dem Wahnsinn und der Einbildungskraft des Punks. Der musikalische Ausdruck dieser Mischung sind romantische und dekadente Melodien im Stil von „Berlin vor dem Krieg“, kombiniert mit elektronischer Musik. Den Künstlern selber widerstreben die Klassifizierungen, die die Journalisten ihnen anhängen, und sie behaupten, dass die neue romantische Bewegung nicht im Nu entstanden ist. Sie sei eine Entwicklung einer Strömung, die in London schon einige Jahre existiere. Zwar nicht in der Hauptstraße, aber in den Clubs in den Nebenstraßen. Im „Blitz“-Club, dem berühmtesten unter ihnen, verbrachte ich viele Nächte. Vom Hören-Sagen hatte ich von der Nacht des „Club for Heroes“ unter der Leitung von Steve Strange gehört, die sich einmal wöchentlich im „Barracuda“-Club in einem Keller in der Baker Street abspielt, dem imaginären Wohnort von Sherlock Holmes, dem Detektiv, den der britische Autor Arthur Conan Doyle erfunden hat.
Die Baker Street ist eine überfüllte Straße mit viel Verkehr und Auspuffgasen während des Tages. In der Nacht befindet sich dort keine Menschenseele, bestimmt nicht am Ende der Straße, wo sie auf die Ladenstraße Oxford trifft.
In einer kalten Januarnacht stand ich Schlange vor dem „Barracuda“. Ein Paar älterer Touristen, die sich beeilten, in ihr warmes Hotelzimmer zu gelangen, betrachtete verblüfft und entsetzt die riesige merkwürdige Schlange – junge Frauen und Männer mit vergoldeten Anzügen und Kleidern von Rittern und Prinzessinnen, theatralisch geschminkt und mit Frisuren in noch nie dagewesenen Farben und Formen. „Kann es sein, dass sie Halloween im Januar feiern?“ fragte eine Frau mit amerikanischem Akzent aus den Südstaaten.
„Die Selektion am Eingang ist besonders streng“, warnte man mich. „Nur Freunde werden eingelassen.“ Ich musste angemessen verkleidet sein, fand eine schwarze Frack-Jacke im Kensington-Markt und beschmierte das Haar mit einer unmöglichen Menge von Gel.
Nach einer einfrierenden halben Stunde, Schlange stehend, gelangte ich schließlich zum Eingang und stieg die Treppen hinunter. Ich betrat die allerheiligste Kultstätte der Neuen Romantik unter der Leitung des merkwürdigen Mannes, der am Ende eines uralten runden Holztisches saß, schwarz gekleidet, mit einem schwarzen Hut mit breiter Krempe, die seine schwarz geschminkten Augen bedeckte, und schwarzen, langen Handschuhen, die seine Hände bedeckten. Das Radio in England spielt unaufhörlich „Fade to Grey“, der hypnotische Hit seiner Band „Visage“, aber jetzt sah Strange nicht nur wie ein Popstar, sondern wirklich wie ein Guru einer Sekte aus.
Er war erstaunt, als ich zu ihm trat. Ich drückte sanft die Hand mit dem schwarzen Handschuh, stellte mich vor und sagte, dass ich verstehe, dass die Werbefrau von Polydor (der Plattenfirma) ihm gesagt habe, dass ich ihn interviewen wolle.
Strange antwortete mit leiser Stimme, fast flüsternd, und fast ohne seine Lippen zu bewegen: „Nein, niemand sagte mir etwas, aber sie sagen mir nie was… ich werde nicht viel Zeit haben, denn ich leite diesen Club, aber komm, setz dich, wir sprechen ein wenig. Was für ein Cocktail trinkst du?“
Ich blickte in Richtung Bar – alle tranken Cocktails. Es war sonderbar, die Änderung der Trinkkultur zwischen Punk und New Romantic wahrzunehmen; jene, die noch vor wenigen Jahren Kübel von Bier runtergegossen hatten, schlürften jetzt sachte am Ende eines Halmes, das in einem exotischen farbigen Cocktail schwamm.
Steve Strange erzählte langsam und leise: „Alles begann 1978 im Billy’s-Club, das wir öffneten, weil wir frustriert und unzufrieden vom Punk waren und etwas Neues kreieren wollten. Später nannte man uns die „Blitz-Kinder“, weil wir ins „Blitz“ gingen, das damals sehr IN war in London. Alles spielte sich in der Punk-Zeit ab – sich so anziehen und schminken, wie wir es taten, das war wirklich sehr gewagt…. Heute ist das schon etwas Anderes. Heute ist das eine ganze Bewegung – es gibt Künstler, Maler, Modeschöpfer, Grafiker, Fotographen und Musiker, die alle so denken. Du kannst das nennen, wie du willst, „Blitz-Kinder“, „Futurism“, oder „New Romantics“. Der beste Name, finde ich, ist „die Kultur ohne Namen“. Es ist eine neue Kultur mit neuen Ideen und einer neuen Denkweise, und sie schreitet die ganze Zeit fort zu neuen Dingen: in der Musik, in der Mode, im Denken.
Das Gemeinsame bei allen Künstlern dieser „Bewegung“ ist der Individualismus – wie absurd es sich auch anhören mag. Sogar die neuen Bands haben jede einen individuellen und charakteristischen Ton, im Unterschied zu den Punk-Bands, die sich alle wie die Sex-Pistols oder Clash anhörten.“
Mein journalistisches Verlangen, den Interviewten herauszufordern, erhielt zusätzliche Berechtigung von Stranges Ruf als entfremdeter Snob, und so warf ich die provokative Frage in die Luft: „Aber was ihr jetzt macht, hat ja eigentlich David Bowie, Roxy Music und der ganze theatralische Rock in den 70ern schon gemacht. Schwer zu sagen, dass das originell ist.“
Strange erschrak nicht und antwortete: „Das war tatsächlich eine wunderbare Zeit. Wir geben wirklich der Musik die visuelle Seite zurück, was gefehlt hat, seit jener Zeit, von der du sprichst. Das Visuelle ist zwar ein wichtiger Aspekt, aber nur eine Dimension der neuen Bewegung.“
Aber man sollte die visuelle Seite nicht missachten. Sie ist zweifellos eine der Grundpfeiler der „Kultur ohne Namen“. Die Schminke, zum Beispiel, wurde zu einer schöpferischen Zeremonie für beide Geschlechter. Strange erzählte mir, dass er sich jeden Morgen während mindestens einer Stunde schminkt, bevor er aus dem Haus geht. Als er sich massiv zu schminken begann, 1978, war das vielleicht ungewöhnlich, aber heute kann man in den Clubs, und sogar in den modischen Straßen wie die Kings Road in Chelsea, mehr geschminkte junge Männer finden als ungeschminkte. In den Männertoiletten im „Club for Heroes“ sah ich eine Menge Lippenstiftstummel und Schminküberreste, bestimmt nicht weniger als es in den Damentoiletten gibt.
„Viele Journalisten werfen dir Eskapismus vor. Nicht, dass ich denke, dass Flucht eine so schlechte Idee ist, aber ist es wirklich so, dass ihr versucht, vor der grauen Wirklichkeit des heutigen Großbritannien zu entfliehen, nachdem der Versuch, sich mit ihr frontal auseinanderzusetzen, zur Zeit des Punk, kläglich versagt hat?“
Strange: „Flucht? Von wegen!! ‚Die Bewegung‘ ist das Lebendigste, Ernsthafteste und Positivste heute in England. Trotz unserem illusorischen und eskapistischen Ruf sind wir bedeutend produktiver und realistischer als der durchschnittliche englische Bürger, der nach der Arbeit nach Hause kommt, mit Bier in der Hand und die Beine erhoben vor dem Fernseher, und über die Arbeitslosigkeit und die schlechte Wirtschaft flucht. ‚Die Bewegung‘ gibt jungen Künstlern, Grafikern und Fotographen Arbeit. Hier, wo du jetzt sitzest, beschäftige ich zwanzig junge Menschen jeden Abend, und wie wir gibt es andere Clubs, Studios, Läden, Modesalons und natürlich all die neuen Bands, die den jungen Leuten viel Arbeit in der Musikindustrie gibt. Viele wären ohne uns arbeitslos. Wir sind viel produktiver und steuern der Gesellschaft viel mehr bei, als all jene, die behaupten, wir seien ein Haufen Narzissten, die auf dem Olympus leben und von der Realität abgetrennt leben.“
Sehr interessante Verbindung – irgendwie hat Israel eine Hassliebe zu England, einerseits war England ja gehassteBesatzungsmacht (Palaestina war Britisches Mandatsgebiet), andererseits waren und sind Israelis kulturell oft von England inspiriert – siehe „HaAvenim HaMegulgalot“ (die rollende Steine also Rolling Stones) und „HaChipushiot“ (die Beatles)…
Nebenbei gibt es auch ein sehr bekanntes Hebraeisches Lied, das heisst – wie koennte es anders sein: LONDON
PS die Saengerin ist Chava Alberstein, hier ein Link zum Lied – „London lo mechaka li“, also London wartet NICHT auf mich (genau das Gegenteil von „London calling“):
https://m.youtube.com/watch?v=NdU4hDYVmvY