„Chawa“ (auf deutsch wird die Urmutter der Menschheit „Eva“ genannt) handelt von Menschlichkeit, vom Guten und Bösen im Menschen, von Gier, Treue, und – trotzdem der Roman sich teilweise in London und in den USA abspielt – von: Was ist ein Israeli?
Zwei Freundinnen wachsen zusammen im „schönen und unschuldigen Israel“ der 1960er und 1970er Jahre auf. Sara lernt Micha kennen, der in einem harten Ort auf den Bergen, mit einem benachbarten arabischen Dorf, aufgewachsen ist. Die Handlung entrollt sich aus der Kraft der heftigen Treue der beiden Freundinnen zueinander und bestimmt auch die Taten der nächsten Generation – ein prinzenhaftes, aber wütendes und mit sich zerstrittenes Kind, Doni – der in dem Versuch, sich von seinen Wurzeln zu lösen, zu ihnen in tragischen Umständen zurückgeworfen wird, die alle losen Fäden miteinander verbindet.
„Chawa“ (2019, Am Owed) erhielt den Lob einer der wichtigsten hebräischen Schriftsteller, Meir Schalew: „Chawa ist ein reifer, in seiner Kraft und seiner Qualität erstaunlicher Erstlingsroman. Ein Buch, das den Leser physisch festhält: ihn packt, mitreißt, erschüttert, erhitzt, zerquetscht, erweckt, und jedes Mal ein anderes Körperteil.“
Iggy Dayan ist Musiker, Schriftsteller, Dichter und Sänger, 54 Jahre alt. In Israel ist er voll allem durch die legendäre Band „Maschina“ bekannt, deren Schlagzeuger er ist.
Chawa
von Iggy Dayan
Übersetzung: Uri Shani
Party
Die Kinder, noch in festlicher Kleidung, waren um die Speise- und Süßigkeitenstände des Buffets konzentriert. Der dunkle Abend hatte schon fast gänzlich das blendende Gelb ausgelöscht, das den kranken verschwommenen Mittag bemalt hatte. Die Erwachsenen änderten träge die Gangschaltung, ein öliger Wandel, wie nebenbei, aber scharf, klar und mit Inhalt: Komm, Nacht, geht ins Bett, Kinder, herein der billige Whisky, die Bierflaschen, die im Eiswasser in der entwurzelten Badewanne herumschwammen.
Der Sound der dilettantischen Coverband blühte nicht wirklich und überzeugte schon gar nicht, aber Nel bewegte er, und auch ein Einäugiger konnte den Gegensatz zwischen dieser bleichen und steifen Party zum süßen kleinen Lächeln auf ihrem Mund sehen, und zu den Anspielungen und Versprechungen in ihren Augen, in den Rundungen ihres Körpers, die sich gegen ihr dünnes Kleid schmiegten, entfernten, streckten und strafften, weit weg hinausschossen, in kleinen, kreisförmigen, geheimnisvollen Bewegungen.
Rätselhaft, was sie an ihm fand, an diesem Micha – einem menschlichen Kühlschrank mit breitem Hals, pfützigen, kindlichen Diamantenaugen, ein bisschen irr. Micha war schon nicht mehr jung, als er Nel kennenlernte. Ihn hatte man nie tanzen sehen, wenn man ihn überhaupt sah. Viele hier liebte er nicht besonders, und den Rest mochte er nicht.
Wenn du dir das Lied anhörtest, zu dessen Klängen sie sich bewegte, fragtest du dich, was sie sich dachte und ob überhaupt, und wenn du Micha sahst, der dich in Unruhe versetzte, auch wenn er lächelte, hofftest du nur, dass er dich nicht sah, wie du sie tanzen sahst, mit sich selbst und für sich selbst, wie wenn sie nichts bemerkte.
Auch Doni Achdut, in schwarzer Röhrenhose und geschmeidigem T-Shirt, tanzte nicht. Diese Songs – sie waren nicht hoch genug, um ihn zu aufzuziehen und kratzten nicht genug, um ihn zu berühren. Aus dem Schatten, aus seinem Versteck auf der dunklen und fernen Seite des Rasens, pendelten seine Augen nervös zwischen der Seiko-Uhr am zernarbten Handgelenk zu der Männergruppe, die sich im Abstand von wenigen Schritten von der Badewanne gebildet hatte, und von dort zu den Feiernden und den Zuschauern, den Stehenden und den vor der Musik Tanzenden, die von der niedrigen Bühne ertönte, eine Bühne, die am Morgen noch nicht dagestanden war. Doni hatte ein Interesse, jede kleine Veränderung zu beobachten. Er zählte fünf Bierflaschen und drei Chaser, die Micha in seinen Stahlkörper hineinspülte, prüfte seine Uhr, die schon nah bei elf Uhr stand, und maß die Stimmen, die von der Männerecke kamen – laute, flache Stimmen, Geschwafel von betrunkenen Männern. Er schniefte und fuhr mit seiner mageren Hand durch sein fettes, braun-gelbes, nach hinten gezogenem Haar. Gelbe Flecken in seinen immer aufgerissenen Augen ließen den Verdacht zu, dass er in den Jahren seiner Abwesenheit von Israel vom schweren Genuss von Leichtem, was alle wussten, zu nicht leichtem Genuss von Schwerem avanciert sei. Sein schmächtiger Körper, das häufige Schniefen und seine zackigen elektrisierten Blicke waren glaubwürdige Zeugen der Anklage in diesem imaginären und vorschnellen Urteilsspruch in den Augen des Betrachters, und Donis schmale Gesicht kündigte immer Probleme an.
Die Seiko sagte, dass jetzt. Die Situation erlaubte und begrüßte es. Er streckte seinen schlangenhaften Körper, schüttelte sich leicht und bewegte sich wie ein verbogener Schatten in der Nacht. Ein Song davor huschte ein Leuchtstrahl langsam über den Rasen hinüber zur Bühne, durchschnitt die Feiernden und an den Speiseständen vorbei. Ein paar Schritte vor der Bühne erforschte er oberflächlich die Umgebung, und verschwand. Die Dunkelheit breitete ihren schützenden Mantel aus, zwei glitten und entschwanden in der Erde. Ein Kleid und eine Röhrenhose wurden in zwei starken Rissen weggezogen zwecks Berührung von Haut auf Haut, und dann Reibung und Bewegung, Suche des Rhythmus und schnelles Finden desselben. Eine zernarbte Hand hält jetzt ein elfenbeinernes, wollüstiges und widerspenstiges Hinternteil fest, während dieses und seine zweite Hälfte eine süße Vulva um den Bevollmächtigten des Körpers mit der zernarbten Hand festhalten, der darunterliegt. Das Angespielte, Versprochene und weit weg Hinausgeschossene wird in kreisförmigen, aber energischen und zielgerichteten Bewegungen, in unterdrücktem Stöhnen, das wie Untergrundwellen ans Ufer gelangt, erfüllt, mit zusammengepressten Lippen galoppieren die beiden, schnell, vorwärts, und das Ziel ist Entladung. Fast Erlösung. Ein junger Mann und eine junge Frau, und es wäre schön und rein gewesen, wenn da nicht Micha gewesen wäre, auf einer Anhöhe darüber, sein Paar Hörner zu seinen Füssen, der einen gelben und stinkenden Regen von Flüchen über sie ergießt, dessen Tropfen wie Salven auf das schmale Gesicht und auf den Rücken seiner Frau, der sich dem Höhepunkt entgegenstreckt, niederprasseln, aber jetzt, ausgerechnet jetzt, schweigen, und er – sechs Biere und vier Chaser spielen mit seinen Gefühlen, sein Glied noch gezückt und ein dünner Mond über ihm, schreit in die schweigende Dunkelheit: „Nel! Nel!!!“ schüttelt ihn und gammelt: „Wo bist du… zum Teufel….“
Man merkt die Musikalitaet des Autors. Hier ein Link zu Maschinas wohl bekanntesten Lied „Rakewet Laila le-Kahir“ (Nachtzug nach Cairo – die Dizengoffstrasse in Tel Aviv wird so genannt im Lied): https://m.youtube.com/watch?v=pJFu7zmXB-Y