Was hätten wir anders machen können? Was für ein Leben hätten wir dann gehabt? Können wir jetzt noch etwas ändern und einen neuen Weg beginnen? Auszug aus einem Roman über Träume, die sich nicht erfüllt haben.

Susis Freunde

Raffi Topaz hat Jurisprudenz in Jerusalem studiert und ein Zeugnis als Anwalt, außerdem ein MBA eines gemeinsamen Programmes der Universität Tel-Aviv und der North-Western Universität in Chicago. Seither hat er eine lange Karriere in leitenden Funktionen in der israelischen High-Tech-Branche, u.a. bei Gilat Satellite Networks und AudioCodes Ltd. Im Jahr 2006 gründete er StyleRiver, das dann von ZAP gekauft wurde. Er ist verheiratet mit Dana Weiss, einer bekannter Nachrichtensprecherin und TV-Moderatorin im israelischen Fernsehen. Die beiden sind Eltern von drei Söhnen.

„Susis Freunde“ ist vor allem ein Roman über Träume. Träume, die sich nicht erfüllt haben und die Versuche, das Rad der Zeit zurückzudrehen, Momente, in denen wir hätten anders entscheiden können, Sekunden, in denen wir ein ganzes Leben versäumt haben. Es ist ein Roman über die „Drehtüren“ (wie im Film mit Gwyneth Paltrow) im Leben. Was hätten wir anders machen können? Was für ein Leben hätten wir dann gehabt? Können wir jetzt noch etwas ändern und einen neuen Weg beginnen?

Ein Wort zur Transkription der Namen: Amossi ist stimmlos, Asi bzw. Jo’as ist stimmhaft. Bei Jo’as und Ja’eli sind die beiden Vokale voneinander getrennt. Die Bedeutung des Namens Joas ist: Gott ist stark, der Wortstamm hat auch mit Mut zu tun.

Was hätten wir anders machen können? Was für ein Leben hätten wir dann gehabt? Können wir jetzt noch etwas ändern und einen neuen Weg beginnen? Auszug aus einem Roman über Träume, die sich nicht erfüllt haben.

Susis Freunde

von: Raffi Topaz

Übersetzung: Uri Shani

Und dann – ein Klopfen an der Tür.

Amossi saß in seinem kleinen Arbeitszimmer, das er sich eingerichtet hatte, als er nach langer militärischer Karriere in Pension gegangen war, und prüfte die Fotos, die er letzten Samstag geschossen hatte. Asi stand oben ohne neben dem Turm, wedelte mit den Grillzangen. Was hatte er da gerade gerufen? „Wie tot willst du dein Steak?“ erinnerte sich Amossi und lächelte.  

Er erhob sich ohne große Lust, ging zur Tür und schaute durch das Guckloch. Zwei Offiziere. Auch einer hätte genügt, um die Kiste mit dem Material abzuholen, dachte er. Er öffnete mit einem Lächeln und sagte, dass er sie sofort hole. Einer der Offiziere blickte ihn an, der andere sagte still: „Es ist etwas anderes. Können wir hineinkommen?“

Amossi lud sie mit einer Handbewegung hinein, und sie setzten sich im Wohnzimmer.

Über ihnen hing das Gemälde, das er nicht ausstehen konnte, dieser Wisch von Farben, vor allem rot und schwarz. Als sie das Gemälde gekauft hatte, hatte Ja’eli gesagt, dass sie sich, da er ja nicht wirklich zu Hause wohne, sondern in der Militärbasis, das Recht ausnehme zu entscheiden, was oder wer da hängen soll.

Die rationierten Sessel quietschten. Asi war es, der sie so genannt hatte. Er beklagte sich immer darüber, dass es im ganzen Haus keinen Sessel gebe, in dem man so richtig angenehm vor dem Fernseher versinken könne.

„Was ist?“ fragte Amossi. „Geht es um die Untersuchung? Wisst ihr, wie lange ich schon nicht mehr im Militär bin? Jetzt habt ihr euch plötzlich erinnert?“

„Es ist nicht…“ begann einer der Offiziere, und Amossi unterbrach ihn schon.

„Was zu trinken?“

Die Offiziere wechselten Blicke untereinander. „Ich bin Schlomi Schafir, von der Abteilung für Kriegsopfer“, sagte einer von ihnen. „Ich muss Ihnen leider mitteilen, dass Jo’as heute um sieben Uhr fünfundzwanzig morgens umgekommen ist.“

Der Raum füllte sich mit den schwarz-roten Flecken des Gemäldes. Amossi dachte, dass er etwas ganz Schreckliches gehört habe, war sich aber nicht sicher. Etwas, das mit seinem Asi zusammenhing. Wer waren diese beiden eigentlich? Irgendwo am Ende seiner Gedanken wusste er schon, dass diese beiden Gesichter ihn bis zu seinem letzten Atemzug begleiten würden. Und noch ein Gedanke: Vielleicht gerade jetzt. Er hörte Geflüster und Geblabber, versuchte, konnte aber nichts verstehen.

„Wer sagtet Ihr, dass Ihr seid?“

„Ich bin Schlomi, das ist Chawiw. Wir sind von der Abteilung für Kriegsopfer.“

Ja’eli kam nach Hause, Amossi sprang auf sie und umarmte sie fest. „Jo’as ist tot“, flüsterte er ihr ins Ohr. Das war ihre letzte Umarmung, eine schlechte, schreckliche Umarmung.

Ja’eli stieß ihn von sich und schrie. Sie wurde sofort das Zentrum der Szene – wie immer, dachte Amossi, und schämte sich sofort.

„Ich bin ok“, sagte er, obschon niemand gefragt hatte. „Kümmert Euch um sie“, fügte er hinzu und verschwand in seinem kleinen Arbeitszimmer. Er hatte es immer vorgezogen, derjenige zu sein, um den man sich nicht kümmern muss und der sich um die andern kümmerte. Er hatte den Verdacht, dass man sich nicht wirklich auf ihn verließ, sondern dass man ihn einfach in diese Rolle geschoben hat. Manchmal dachte er, dass ihm dieses Gen der Empathie fehlte. Er betrachtete die Möbel, die Bilder, alle die Sachen, an die er sich durch die Jahre verbunden fühlte. Sie ekelten ihn an. Wenn er könnte, würde er nichts berühren. Einfach in der Luft schweben, wie Asi jetzt.

Irgendwann, Stunden, nachdem er sich in seinem Arbeitszimmer eingeschlossen hatte und das Haus sich geleert hatte und es still geworden war, dachte er an Ja’eli. Er durchquerte barfuß das Wohnzimmer, als ob etwas, das schon geschehen war, nicht stören wollte, und ging in den Korridor in Richtung Schlafzimmer. Das Haus war in Dunkelheit gehüllt, die Nacht drang durch die Fenster hinein, beleuchtete die Räume.

Amossi stand vor der Tür und lauschte. Er klopfte leise an ihre Tür. An seine Tür. Das Weinen hörte auf, und Ja’eli begann zu schreien. „Verschwinde! Hau ab! Wag es nicht hineinzukommen, lass mich allein, lass mich allein.“

„Entschuldigung, entschuldigung, entschuldigung“, murmelte Amossi und trat schnell zurück, das Gesicht immer noch der Tür zugewandt. Als er am Ende des Korridors angelangt war, drehte er sich um und flüchtete in sein Zimmer.

Er wachte auf dem Stuhl in seinem Arbeitszimmer auf und ging zum Kleiderschrank. Was zieht man an zu einer Beerdigung? Nach einem Moment merkte er, dass er vor dem falschen Schrank stand. Er öffnete Jo’as‘ Schrank und nahm von dort das T-Shirt mit dem Aufdruck seiner Einheit, das für das bevorstehende Fest der Beendigung der Rekrutenschule gedruckt und schon verteilt worden war.

Jo’as hatte gelacht, dass er ein T-Shirt erhalten hätte, das zwei Nummern zu groß für ihn war, als ob er nicht verstanden hätte, dass es nicht für ihn bestimmt war. Amossi zog das T-Shirt an und prüfte nicht einmal die Hose im Spiegel, die noch seit gestern an ihm herunterhing.

Ja’eli und er stiegen von zwei Seiten in das Auto ihres Bruders. Die Straßen des Stadtviertels sahen aus, wie wenn sie zu einer anderen Stadt gehörten. Amossi blickte in das Kaffeehaus, in dem er noch gestern gesessen hatte. Nach ein paar Minuten hielt das Auto, und Amossi begann seinen Gang zum Ende seines Lebens.

Wer wird mir die Hand halten? dachte er und erinnerte sich ohne ersichtlichen Grund an die Schawu’ot-Feier in der ersten Klasse. Er hatte den traditionellen Schawuot-Tanz mit dem Früchtekorb getanzt und geweint, weil seine Eltern nicht gekommen waren. Er dachte an ihre nächtlichen Streifzüge in den Feldern, er und Asi. Wie Asis Hand manchmal in die seine glitt, auch als er schon sechzehn war. Erinnerte sich, wie er zugleich Scham und Glück empfand. Was hätte er gegeben, jetzt, für diese Berührung.

Der Menschenfluss begann sich zu bewegen, und er ließ sich mit ihm treiben, zur offenen Wunde in der Erde hin. Hörte die Gebete und sah nicht. Ließ sich mit der Menge mitschleppen. Einzelkind mit Einzelkind, und jetzt Waise, vielfach.

Ja’elis Bruder las das Kaddisch („Amoss ist außer Stande“, hörte er jemand hinter sich flüstern). Ein Nachruf wurde gelesen, eine Gewehrsalve, aber all das hatte nichts mit ihm zu tun. Jetzt hörte er nichts und sah nichts. Zu seinem Leidwesen atmete er noch.

2.

Monatelang danach gingen sie im Haus herum, ließen sich im schäumenden und zischenden Strom der Trauer treiben, der sie voneinander trennte und sie dauernd zu ertränken drohte. Zunächst versuchte er noch, sich an sie in Hausangelegenheiten zu wenden, Dinge, die man kaufen musste, Rechnungen, die man bezahlen musste, aber sie wies ihn mit Gesten und Mimik ab. Dann hörte sie auch damit auf.

In den letzten Wochen schlief er im Arbeitszimmer, auf dem kleinen Sofa, das sie mit Müh und Not hineinschieben vermochten. Einmal träumte er, dass er in der Küche sitze und in der Zeitung blättere, dem Stuhl gegenüber, auf dem Asi immer gesessen hatte und jetzt leer war. Ja’eli kam und setzt sich auf diesen Stuhl. „Ich bin schwanger“, sagte sie. Er dachte, er höre nicht recht.

„Was?“

„Schwanger, schwanger“, sagte Ja’eli.

„Das ist wunderbar“, freute er sich im Traum. „Dann kommt Asi also zurück!“

„Nein“, sagte Ja’eli und stand auf. Zu seiner Überraschung drehte sie sich um und verschwand, anstatt zur Küchentür zu gehen, in der Wand.

Amossi wachte auf und öffnete die Augen, mit der Erleichterung, die er immer fühlte, wenn er einem Albtraum entwich, und sofort erinnerte sich, dass die Katastrophe kein Traum war. Er wusste auch, dass Ja’eli ihn in Bälde wirklich verlassen würde. Er lag und dachte, dass er vielleicht am besten einfach so liegenbleiben sollte, bis er sterben würde. Sich nicht bewegen. Nicht sprechen. Nichts essen. Warten. Er lag in der Dunkelheit und schaute auf das Bild von Asi auf dem Regal. Für einen Moment überkam ihn ein Siegesgefühl. Nach einer Stunde musste er auf die Toilette gehen. Dann machte er sich einen Kaffee.

Er stand vor dem Wasserkocher, der schon kochte, und vor ihm auf der Marmorplatte das leere Glas, und erinnerte an das letzte lange Gespräch, das er mit Ja’eli geführt hatte. Das war wenige Wochen nach der Beerdigung. Sie schliefen damals noch im selben Bett, obwohl sie sich schon eine Weile nicht mehr berührten. „Kannst du dich daran erinnern, wie er nachts mucksmäuschenstill zu uns ins Bett kam, sich zwischen uns geschlichen hat und dachte, wir merkten es nicht?“ sagte Ja’eli in der Dunkelheit. „Und wir schickten ihn wieder in sein Zimmer, sagten ihm, er sei schon groß, dass wir morgen arbeiten müssten, dass er erwachsen werden müsse.“

Natürlich konnte er sich erinnern. „Ja“, flüsterte er, vorsichtig, in der Hoffnung, dass sie nicht weitersprechen würde.

„Wie dumm waren wir doch“, sagte Ja’eli. „Was für Idioten. Und heute was? Heute gäbe ich alles, alles dafür, dass er jetzt einen Moment lang neben mir im Bett läge, nicht schlafen, nicht arbeiten, nur ihn atmen, sein Haar streicheln, sein Gesicht, seinen Rücken.“

Sie weinte leise in der Dunkelheit.

„Verzeihe mir“, sagte Amossi. Er begann immer mit einer Bitte um Entschuldigung. „Es tut mir so leid, dass ich ihn angetrieben habe, in diese Einheit zu gehen. Ich wollte, dass er robuster wird, stolz.“

Ja’eli schaute ihn in der Dunkelheit an.

„Das ist nur die Spitze des Eisbergs deines Fehlers“, sagte sie nach einem Moment. „Noch bevor er geboren wurde, schon als du ihm den Namen ausgewählt hast, hast du ihm deine Probleme aufgestülpt. Und ich, wie blind, dir hinterher. Du hast dir ein perverses Ziel gesteckt, dass er sei, was du nicht sein konntest.“

Amossi wollte nicht diskutieren. Er suchte nur nach etwas, was er sagen könnte, um den Absturz aufzuhalten, aber er fand nichts. „Mutproben“, machte Ja’eli weiter. „Kraw Maga. Du warst so auf dich selber konzentriert, dass du deinen Sohn nicht gesehen hast. Er himmelte dich an, er wollte dich beeindrucken. Den Vater, der weiß, was gut für ihn ist. Und ich hasse mich so dafür, dass ich dich machen ließ. Ich dachte, ich sei eine gute Mutter.“

„Du warst eine wunderbare Mutter.“

„Nein“, unterbrach sie ihn. „Tatsache. Ich war eine Rabenmutter. Ich bin ihm überallhin nachgerannt, immer einen Schritt hinter ihm, habe immer auf ihn aufgepasst, ihn immer gestreichelt, aber das Wichtigste habe ich verpasst. Seine Seele habe ich dir geopfert.“

Sie sprach vom Bett, riss wütend das Kissen und die Decke an sich und ging ins Wohnzimmer. Seit dieser Nacht schlief er in seinem Arbeitszimmer.

Was hätten wir anders machen können? Was für ein Leben hätten wir dann gehabt? Können wir jetzt noch etwas ändern und einen neuen Weg beginnen? Auszug aus einem Roman über Träume, die sich nicht erfüllt haben.

Uri Shani ist in der Schweiz geboren und lebt seit 35 Jahren in Israel. Er ist professioneller Übersetzer für Literatur aus dem Hebräischen ins Deutsche. Sein "Übersetzer-Credo" könnt ihr im Link nachlesen:

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BR
BR
5 Jahre

Sehr schöner Auszug! Zu „Drehtüren“ – der Film heisst auf Englisch „sliding doors“, auf Deutsch aber (leider) „Sie liebt ihn, sie liebt ihn nicht“ – hier der Trailer:
https://www.youtube.com/watch?v=hX5BfOJh6gc

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