Dämonen in der Agrippas-Straße

Hagai Dagan ist Schriftsteller, Forscher der jüdischen Kultur und Literatur und leitet das Programm für israelischen Kultur des akademischen College Ssapir. In seinen Romanen wie auch in seinen Sachbüchern behandelt er die jüdischen Mythen, Dämonologie und Erotik. Sein letztes Buch: jüdische Dämonen (2019).

„Dämonen in der Agrippas-Straße“ ist sein bisher letzter Roman. Antike jüdische Mythen und Glauben brechen in die israelische Gegenwart hinein. Dämonen und böse Engel erscheinen in den Straßen von Jerusalem und Tel-Aviv, um dunkle Machenschaften aus uralter Zeit zu beenden und ungelöste Verstrickungen zu lösen. Schabi (Kosename für Schabtai) ist ein jovialer Taxifahrer, Frauenheld und Pornokonsument, seine Mutter eine Art Hexe. Ein ultraorthodoxer Rabbiner ist in Wirklichkeit ein böser Engel, und Lewana, die Unermüdliche, ist der Chef einer geheimen Armeeeinheit zur Bekämpfung von irrationalen Erscheinungen.

Die „Kirja“ ist im israelischen Volksmund das Generalstabshauptquartier der israelischen Armee, im Gebiet der ehemaligen deutschen Kolonie Ssarona, in Tel-Aviv.

Antike jüdische Mythen und Glauben brechen in die israelische Gegenwart hinein. Dämonen und böse Engel erscheinen in den Straßen von Jerusalem und Tel-Aviv. Roman von Hagai Dagan

Dämonen in der Agrippas-Straße

von Hagai Dagan

Übersetzung: Uri Shani

Schweigepflicht

Schabi saß im Altersheim in der Bethlehemstrasse und betrachtete seine Mutter. Sie schaute ihn nicht an. Ihre Augen waren geschlossen. „Sie hat etwas gegessen, heute“, verkündete ihm die Pflegerin, die für einen Moment das Zimmer betrat und etwas in Ordnung brachte. Sie sprach über Schabis Mutter in der dritten Person, als sei sie nicht da, und, ja, gewissermaßen stimmte das ja. „Und sie hat mir sogar ein Wort gesagt, nachdem sie ja so lange nichts gesagt hat.“

„Was sagte sie?“ fragte Schabi. Der Zustand seiner Mutter war ein Rätsel, und auch die Ärzte, die versucht hatten, ihn zu verstehen, und eine CT-Untersuchung vorgenommen und ihr Blut untersucht hatten, hatten schon längst aufgegeben. Manchmal nabelte sie sich von der Realität ab und kommunizierte während Wochen nicht und kehrte dann plötzlich zurück, sprach ganz normal, oder halbnormal, oder wie im Traum, und verschwand wieder. Schabi fühlte sich wehrlos, wenn sie in ihre lange Schweigereisen ging, aber manchmal fühlte er sich genauso, wenn sie für einen Moment am Ufer des Altersheimes an der Bethlehemstrasse ankerte und von ihm etwas wollte, das er nicht verstand.

„Genug. Sie sagte genug. Ich dachte, sie meinte damit, dass ich aufhören soll, sie zu verköstigen, aber vielleicht meinte sie etwas Anderes.“

Die Pflegerin ging. Schabi richtete seinen Blick wieder auf seine Mutter. Ihr silbernes Haar ruhte auf ihren geschlossenen Augen, und ihre Lippen hingen herunter. Ihre Stirn war ein wenig gerunzelt. Woran dachte sie? War sie besorgt? Dachte sie überhaupt?

„Ich habe gestern eine Dämonin getroffen“, sagte Schabi.

Sie schwieg. Ihr Gesicht blieb reglos. Keine Bewegung war sichtbar in den Händen, die auf der Decke ruhten.

„Hast du nichts dazu zu sagen?“

Sie sagte nichts. Eine Fliege flog dreimal gegen die Fensterscheibe, bis sie es aufgab und wegflog.

„Das bist du, das ist deine Welt.“

Sie schwieg.

Schabi betrachtete sie traurig und erinnerte sich an ihre Geschichten, Geschichten, die sie aus der bergigen Gegend im Hinterland von Tunesien, aus der Nähe der Stadt Kasserine, gebracht hatte, Geschichten der Juden, der Tuareg, der Berber, über gute und weniger gute Dämonen, über die Feinde der Dämonen und über ihre wenigen Freunde, über einen entfernten und geheimnisvollen Freund, Rabbi Jakob Wasana, der mit einer Dämonin verheiratet war, und die beiden hatten seine Mutter öfters besucht, hatten zusammen Kräutertee getrunken, mit Kräutern, die es nur im Atlasgebirge gibt und die die Quellen der Freude im Körper öffnen und diejenigen der Sorge und der Trauer schließen. Je älter Schabi wurde, desto gewundener wurden die Geschichten, sie krümmten und schlängelten sich, bis sie ihn ganz umgarnt hatten, das Haus war voll von ihnen, und die Außenwelt sah leer, trocken und armselig im Vergleich zu ihnen aus. Es gab vor allem eine Geschichte, die sich wiederholte, eine Geschichte über einen wandernden Juden, halb verwildert, der in den Bergen lebte und ihr über Lilith erzählte, wie sie vom Paradies in die Oasen der Wüste kam, von den uralten großen Flüssen zur Sehnsucht, die wie der Wüstenwind die Dünen und die Seelenwellen erbeben lässt.

Die Pflegerin kam wieder rein. Sie fragte Schabi, ob er vielleicht etwas trinken möchte, sie mache gerade Tee und sie habe Kräuter aus ihrem Garten in Dschabel Mukabbar. Schabi bedankte sich und sagte, dass er gehen müsse. Sie ging, ihre Hüften weich pendeln lassend. Er lugte ihr kurz nach und wandte sich wieder seiner Mutter zu. Ein Lichtstrahl spielte in ihrem Haar. Eine schwache Lumineszenz ging von ihm aus und erleuchtete spärlich das Zimmer.

„Diese Dämonin hieß Bat Tmalion. Sagt dir das etwas?“

Jetzt war er sicher, dass sie lächelte. Plötzlich öffnete sie ihre Augen. Er wartete angespannt.

„Schabi, Liebling, mach mir einen Tee.“ Ihre Stimme klang müde, sehr nah und gleichzeitig fern. Eine warme Welle durchfuhr ihn. Die Distanz in ihrer Stimme brachte ihn durcheinander. Er ging, um ihr einen Tee zu machen, aber als er wiederkam, schlief sie schon.

„Na gut“, stöhnte er und stellte den Tee neben ihr hin. „Ich muss gehen. Halt die Ohren steif. Auf Wiedersehen, Mama.“

Er verließ das Altersheim, bestieg das Taxi, das auf dem Gehsteig neben dem Falafel von Meworach stand und fuhr wieder in die Kirja nach Tel-Awiw. Lewana sagte ihm, er müsse dort eine Schweigepflicht unterschreiben. Er dachte, es handele sich nur um eine Unterschrift am unteren Ende eines Dokumentes, aber zu seinem Leidwesen stellte sich heraus, dass er ein bedrückendes dreistündiges Interview mit einem Beamten in Zivil, der sich nicht vorstellte, über sich ergehen lassen musste. Nach diesem Erlebnis rief er Lewana wütend an, die ihm erklärte, dass die relevanten Instanzen sehr verängstigt von der Möglichkeit seien, dass die Sache durchsickere, denn das würde die Armee in ein verrücktes Licht rücken. Etwas in ihrer Stimme besänftigte ihn völlig. Er verließ die Kirja, ging zu seinem Taxi, das in der Dubnowstrasse stand, riss wütend die Parkbusse von der Fensterscheibe und wollte wieder auf die Ajalonautobahn nach Jerusalem, aber er sah, dass Stau war, und deshalb zündete er nicht mal den Motor, sondern stattdessen eine Zigarette, hörte sich Gogol Bordello an, öffnete dem Tel-Awiwer Winter mit seinen Abgasen das Fenster und versank in Gedanken. Er hatte seine Mutter nie verstanden. Er wuchs in ihrer Welt auf, war da aber immer ein Gast. Seither fühlte er sich eigentlich nirgendwo wirklich zu Hause. Na ja, was machts, er unterschrieb den Wisch, und jetzt war die Sache besiegelt, also wozu all diese Gedanken. Er zerdrückte die Zigarette. Der Stau hatte sich ein wenig gelöst, und er wollte in Richtung Haschalom-Interchange einbiegen, aber jemand hob die Hand an der Ecke Dubnow-Kaplanstrasse, er hielt und sie stieg ein. Das war eine etwa vierzigjährige Frau mit einem gelben Streifen im Haar und aufgeblähtem violettem Gesicht, das Schabi an eine Obergine erinnerte. Als die Ampel grün wurde, gab er Gas, aber stoppte sofort, weil ein Rabe vor seiner Windschutzscheibe ihm die Sicht versperrte. Es schien Schabi, dass dieser Rabe ihm direkt ins Gesicht blickte. Seine Kundin, die hinten saß, wurde nach vorn geschleudert und ihr Kopf vom Mitfahrersitz vor ihr gebremst. In genau dieser Sekunde bestieg das Taxi eine junge Punkistin mit blauem Haar, einer Tätowierung eines Raubvogels mit großen Brüsten auf ihrer freiliegenden Schulter und einem verschmitzten Blick in den funkelnden, und setzte sich neben der Kundin.

„Was machen Sie da? Sehen Sie nicht, dass ich besetzt bin?“ entrüstete sich Schabi, aber nicht wirklich, denn er war entzückt von ihrem Aussehen und dachte sofort an Joanna Angel, die jüdische Punk-Pornoschauspielerin.

„Oh, wie schön bist du und wie reizend“, sagte die Punkistin, Schabi ignorierend und küsste den Hals der Kundin.

„Was machen Sie da?!“ schrie die Kundin und stieß sie zurück, aber diese ließ nicht ab und versuchte jetzt auch, den Busen der Kundin zu streicheln. Schabi versuchte einzugreifen, um seine Kundin zu beschützen, aber er war nicht sehr vehement. Schlussendlich schaffte es die Kundin, sich zu befreien und floh Hals über Kopf aus dem Taxi.

„Was zum Teufel denken Sie sich?“ sagte Schabi schwach.

„Wonach begehrt dein Herz?“ lächelte die Punkistin ihm zu, völlig ruhig. Jetzt erst hörte Schabi das Hupen der anderen Autofahrer hinter ihm. Er fuhr los, ohne zu wissen wohin.

„Beliebt es dir womöglich, noch eine so reizvolle Partie in deinen eisernen Wagen einzuladen?“ schlug die Punkistin vor und hüpfte gewandt nach vorn auf den Mitfahrersitz. Schabi wäre bereit gewesen zu schwören, dass sie für einen Moment in der Luft geschwebt hatte.

„Wer sind Sie?…“

„Nanu, mein Eselinnenreiter, weshalb verleugnest du mich, wo du mich doch erkennst?“

„Bat Tmal…“ stotterte Schabi, aber die Punkistin hatte schon den Kopf aus dem Fenster gestreckt und einer Gruppe kichernder Mädchen wie der grobste Rohling nachgepfiffen. Die Mädchen drehten ihr verwundert die Köpfe zu, und als sie sahen, dass es eine Frau war, erschien ein verwirrtes Lächeln auf ihren Gesichtern.

„Ich wusste, dass du meiner gelüstest, und so einem Bengel wie dir werde ich nicht widerstehen. Bist du geneigt, dich mir zu ergeben, oder soll ich weiterhin deine Mitfahrerinnen belästigen?“

„Was willst du von mir?“

„Meine Gelüste gelten deinem verdorbenen Fleisch, mein Chauffeur; befindet sich hier vielleicht ein weiches Lager? Ah, fahr Richtung Meer!“

„Zum Meer? Du bist verrückt.“

„Wozu die Widerrede? Wo du mich doch begehrst bis in die Spitzen deines krausen Schamhaares.“

„Na gut, es ist ja nicht so, dass ich nicht…“

„Wozu das Brüten und Erwägen, das Kalkül passt nicht zu dir, Reiter. Zum Meer!“ Und Schabi fuhr ans Meer. Er parkte an der Yarkonstraße, gegenüber dem Hilton, und sie gingen in den kleinen Park, der sich vom Hotel zum Hügel über dem Meer erstreckte. Der Park war menschenleer. Letzte Sonnenstrahlen drangen für kurze Zeit durch die Bäume, bis eine dicke Wolke sich vor die Sonne schob. Bat Tmalion führte Schabi an der Hand zu einer kleinen Palme am Gipfel des Hügels. Von dort konnte man das Meer sehen, düster, wütend und schäumend. Sie fasste ihn am Nacken und zog ihn mit amazonenhafter Kraft auf den nassen Rasen. „Du hast dich noch nie mit einer von uns im Rasen getummelt, wie?“ zischte sie vergnügt.

„Nein, soweit ich mich erinnere.“

„Dieses Mal wird dir in Erinnerung bleiben bis ins zehnte Glied“, sagte sie, und Schabi spürte, wie ein vorsintflutlicher Sog ihn aus dem Rasen hob, wie er in etwas hineingesogen wurde, was heißer und süßer war, was er sich je vorstellen konnte, wie brodelndes Wasser und wonniges Feuer ihn umwickelten wie Schlangen von Licht und Schönheit, sich in ihm breit machten, aus seinem Mund und seinen Augen hervorstießen, wie Hände von geschmolzenem Blei seine Leber, seine Milz, seine Blase streichelten, wie tausend Finger sein Duodenum, seine Bauchspeicheldrüse befummelten, wie eine lange und raue Katzenzunge über seine Prostata glitt, großer Gott, die Prostata, er weinte und flehte und wollte sterben und wollte nicht, dass es endete und konnte nicht mehr, bis sein Atem stockte, fast innerlich explodierte, äußerlich, und sich entleerte wie der Sambation sich in die Ursuppe entleert…

„Wie wars?“ Bat Tmalion lächelte ihr punkistisches Lächeln.

„Das war… außerirdisch!“

„Wusst ichs doch.“

„Und… du?“

„Mein Kavalier, mein Herzblatt, mein Busen wird sich ewig an dich erinnern. Seit Nimrod dem Jagdheld kann ich mich nicht an ein Mannsstück wie dich erinnern.“

„Das hör ich gerne…“ flüsterte Schabi, erschöpft und erledigt, und blickte auf das schwarze Meer unter ihm.  

„Schabi?“

„Ja?“

„Behüte dich, die Mondfrau zu verlassen.“

„Warum nennst du sie so?“

„Ohne Ausflüchte. Bewahre sie vor jeder Klippe. Schwierige Tage stehen ihr bevor. Weiche nicht von ihr. Hast du meine Botschaft verstanden?“

„Ja, aber…“

„Widrigenfalls ich zurückkehren werde und auf deiner Männlichkeit herumtanzen, bis deine Innereien zum Jüngsten Gericht kriechen werden.“

„Ich… verspreche.“

„Glück auf! Hab ein gutes Leben! Befruchte mehr Frauen, als Abraham in seinen Fantasien sah. Sei gegrüßt, Kutscher.“ Und sie stieg über ihm hinauf, nackt und schön, und Schabi sah, wie die Tätowierung des Raubvogels mit den Busen aus ihrer Schulter aufstieg, und sie selbst schüttelte ihren Körper vom Hügel und löste sich auf, noch bevor sie in den schäumenden Wellen landete.

Antike jüdische Mythen und Glauben brechen in die israelische Gegenwart hinein. Dämonen und böse Engel erscheinen in den Straßen von Jerusalem und Tel-Aviv. Roman von Hagai Dagan

Uri Shani ist in der Schweiz geboren und lebt seit 35 Jahren in Israel. Er ist professioneller Übersetzer für Literatur aus dem Hebräischen ins Deutsche. Sein "Übersetzer-Credo" könnt ihr im Link nachlesen:

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Benjamin
Benjamin
5 Jahre

Sehr interessant! Zum Thema: Ich empfehle allen Lesern, bei ihre nächsten Israel-Reise die „Daemonen und Geister“-Walking Tour in Jerusalem zu machen (Beit Shmuel). Wusstet Ihr beispielsweise, dass ein schottischer König sein Herz in Jerusalem beerdigen wollte, sein Bote aber überfallen wurde, und daher der Geist des Koenigs in der Gegend der schottischen Kirche bis zum heutigen Tag herumspukt? Nicht weit weg vom „Höllental“ und einer Hauptstrasse namems „Tal der Geister“…

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