Roman, Bewusstseinsstrom, Shoah, Israel, Krieg, Amos Rein

Schmerzüberfluss-2

Der Erzähler, ein Psychiater, der mit seiner eigenen Psyche ringt, verweigert sich der Psychoanalyse, stürzt sich aber sofort auf „das ödipale Problem“ und auf die verpasste Beziehung mit seinem Vater, und mit dem Großvater, den er nie gekannt hat. Beide werden mit Empathie und Ironie als Naivlinge wie die Schafe dargestellt und daher prädestiniert als Opfer, sie repräsentieren in ihrem Verhalten die jüdische Welt, die ausgelöscht wurde, und die Anstrengung, sich neu „aufzubauen“, wie es im zionistischen Jargon heißt, als neue Generation von „verbesserten“ Juden, wie ein Pilot oder ein Fallschirmspringer. Die Narben werden in den Schmerzen des Kindes offenbar, das vom Vater, dem Holocaust-Überlebenden, geschlagen wird, im sexuellen Trauma der Mutter und in ihren existenziellen Kämpfen als Flüchtlinge in der Realität und in den Tiefen der Seelen. Der Autor, Dr. Amos Rein, ist in Tiberias geboren. Er gründete eine psychiatrische Krankenstation in Eilat und lebte dort viele Jahre. Vor zwei Monaten publizierten wir einen Ausschnitt aus „Schmerzüberfluss“ (Afik, 2018), hier nun ein zweiter Ausschnitt aus demselben Buch. Rein publizierte vor „Schmerzüberfluss“ einen Poesieband und ein Kinderbuch und lebt in Jerusalem.

Roman, Bewusstseinsstrom, Militär, Israel, Krieg, Amos Rein
„Schmerzüberfluss“ von Amos Rein ist ein Bewusstseinsstrom von Erinnerungen und Gedanken, entlang der Straße 90, der längsten Straße in Israel, von der nördlichen Grenze zum Libanon bis Eilat im Süden.

…Mein Vater, zum Beispiel, falls sich jemand für seine Geschichte interessieren sollte, war in den dreißiger Jahren ein jugendlicher Arbeiter in Budapest, als noch niemand, auch nur als Andeutung, davon hörte, dass vom Norden, aus Berlin, das Böse kommen würde, außer einer vulgären Kabarettsängerin, und auch wenn er einen geblähten Topf gesehen hätte, [„Vom Norden wird das Böse kommen“ ist ein geflügeltes Wort im Hebräischen und stammt aus dem Buch Jeremias, Kapitel 1, Vers 14. Im Vers davor ist von einem geblähten Topf die Rede, weshalb danach der Nordwind erwähnt wird. U.S.] hätte er wohl gedacht, dass nur gutes Gujasch (Gulasch) darin brodelt, mit viel Paprika und Fleisch von Kälbern, naiv wie er selbst, oder Schweinefleisch, das er damals zum ersten Mal kostete (und nicht das, was er später in Mauthausen erhalten würde); im Club der sozialistischen Jugend von Pest wurde ihm Dostojewski bekannt gemacht, das erfuhr ich erst, als es schon zu spät war und er schon zu weit entfernt für ein intellektuelles Gespräch zwischen uns, und aus irgend einem Grund auch Francois Villon, den auch ich in meiner Jugend gelesen habe; ich improvisiere die erste Zeile von Villon, die die Zeit vergessen ließ: „Ich bin ein Bandit, wandle sinnlos in Zeit und Raum / in meiner Stadt Paris, diesem Scheißloch / jetzt zappele ich am Baum / mein Hals trägt meines Arsches Joch“. Das hörte mein Vater, auf Ungarisch, als stolzer Klempnergeselle; „die Rohre waren aus Kupfer, und der Klempner hatte Prestige…“ behauptete er; später floss er selber in den Rohren Europas, bis er nach ein paar Jahren in Mauthausen mit einem Gewicht von fünfunddreißig Kilo hinausgespuckt wurde (denn er mochte das Gericht nicht, worauf er früher angespielt hatte), während seine Frau, die im Ghetto in Budapest festsaß, zweimal von den Faschisten vergewaltigt wurde; mit oder ohne Penetration, sie war sich nicht sicher; vielleicht partielle Penetration; und zu dieser Frage fand sie eine genugtuende Antwort, nachdem die Affäre Katzaw [der ehemalige israelische Staatspräsident, der wegen Vergewaltigung im Gefängnis sitzt. U.S.] ans mediale Tageslicht gekommen war, als sie für sich den Ausdruck „sexuelle Belästigung“ mit ungarischem Akzent annahm und so die Fetzen ihres Lebens, das den Aufstieg und den Niedergang des Drittes Reiches überlebt hatte, wieder zusammennähte, wie ihre „Gobaleinim“ (Gobelinstickerein), in die neue, sich verflechtende Geschichte des Zionismus hinein; und als mein Vater nach zwei Wochen Koma von seinem wuchernden Hirnödem, wegen schwerer Unterernährung und danach falscher Ernährung, trotz der Warnungen des sturen, verängstigten und verdächtigen deutschen Arztes und ausgerechnet auf Verschulden des freundlichen amerikanischen Arztes, der nach Mauthausen auf dem Jeep fahrend kam und meinem Vater sagte: „Das ist in Ordnung, essen Sie, was sie wollen“, wieder aufwachte, wurden sie von den Zionisten durch die Dolomiten südwärts zu einem „Vorbereitungslager“ in Santa Maria de Lauka gebracht, wo mein älterer Bruder geboren wurde, und danach schifften sie sich mit der schwangeren Ilona, der Schwester meiner Mutter, ein und schaukelten auf den Wellen des Mittelmeeres nach Palästina, mit weiteren illegalen Einwanderern, in der verschlissenen Wanne, die „Ihr werdet uns keine Angst machen!“ hieß; im Gegensatz zu Europa, das nach kaltem geräucherten Fleisch roch, ging von der „Ihr werdet uns keine Angst machen!“ ein warmer und häuslicher Hauch von Erbrochenem und Durchgefallenem, und von verbranntem Maschinenöl wegen stockender Kolben, wie die meisten Männer, die posttraumatisch impotent waren, und auch bei den Frauen, die größtenteils jung waren, verringerte sich die Menstruationsflüssigkeit bis zu einer darwinistischen Unperiode; und in Haifa wurden sie von den Briten wie Wellenschaum nach Zypern zurückgeworfen, und in Famagusta gebar meine süße Tante Ilona (die mit einer tätowierten Zahl auf dem Unterarm zurückkam) ihren Sohn Baruch, der nach Großvater Bajrech benannt wurde, der nicht zurückkam und dort unlängst mit seiner Frau, meiner Großmutter Rosa-Rachel, und mit ihrer zehnjährigen blonden Tochter, die jüngere Schwester meiner Mutter, Klari, verrauchte; dieser Großvater Bajrech, der im ungarischen Dorf Kotaj vor dem Laden gesessen hatte, den meine Mutter als „Dorfladen mit Spirituosen“ definierte, zu sehr im offenen, von schwarzem Brot mit Gänseöl beflecktem Gmara-Buch vertieft; egal das Cholesterol, mein unbekannter Großvater, du siehst ja nicht das Böse, das vom Norden her kommt, vergnüge und berausche dich heute mit Bava Metzia, denn morgen verglühst du; hier kommt ein ungarischer pausbackiger Bauer in den Laden, um eine Peitsche oder eine Sense zu kaufen, und der in Träumen versunkene Bajrech erkennt die Möglichkeit eines zusätzlichen Geschäfts nicht, obschon seine Töchter es ihm mit einem Liedchen in ihrer geheimen Sprache antönen: „Oi-joi-joi Spirt is a Goj“, aber Bajrech grübelt über „zwei halten sich am Talit fest“ nach, anstatt dem Bauern ein Gläschen Bratsk und noch ein Gläschen Palinka zu verkaufen, Pfirsich- und Aprikosenschnaps vierzig Prozent für den Schabatabend, damit es, wie meine Mutter sagt, „auch etwas Warmes im Bauch“ gibt, außer seiner tiefseeligen Frömmigkeit mit seinen Smires (den Gesängen), von denen nur ein kleiner Bruchteil im Gedächtnis meiner Mutter geblieben ist, als geheimnisvoller schwindelerregender Refrain „Juwdechule – Juwdechule – Juwdechule…“; sechzig Jahre, nachdem Bajrech verglüht ist, schrieb sein Urenkel (mein kleiner Sohn) eine „Wurzelnarbeit“ in der achten Klasse [es ist inzwischen Tradition geworden, in israelischen Schulen, dass Schüler und Schülerinnen in diesem Alter Familienforschung betreiben und ihre Großeltern befragen, zuvor gab es keine Großeltern, die man fragen konnte, U.S.], und mein Vetter Bruce aus Long Island, der auch nach unserm Großvater Bajrech benannt wurde, schickte eine e-mail mit dem Refrain, gesungen von seinem Vater Joschi, dem großen Bruder meiner Mutter, der mit den Jahren zum „Uncle Joe“ avancierte, und obschon die chronische Bronchitis den Rhythmus durcheinanderbrachte, da er alle paar Sekunden atmen musste, löste sich endlich das Rätsel um das „Juwdechule – Juwdechule – Juwdechule…“, das sich als „lejowdechu – lejowdechu“ herausstellte, was bedeutet „dir zu dienen“, was ein Teil ist von „Wetaher libenu le-awdecha be-emet“ – reinige unser Herz, dass wir dir ehrlich dienen mögen, was Großvater als melodischen, sich erhebenden und Schwindel erzeugenden Zauberreim sang, wie die Rauchringe, die aus den Schornsteinen stiegen, aus denen er mit seiner ganzen großen Familie aufstieg; das hinauftrillierende „und reinige unser Herz…“ wie eine DANN-Doppelhelix, mit dem Kopf im Himmel, und darauf steigen hinauf und hinunter meine Vorfahren, die aschkenasischen Juden Europas;

Und nach zwei Monaten in den zyprischen Zelten kamen sie mit der Flut nach Haifa zurück, und von dort zum Kibbuz an den Ufern des Dans, aber wegen der offenen sexuellen Beziehungen dort flüchteten sie schnell zu einem Ort, der sie an das Dort an den Ufern der Donau erinnerte, also zum Moschaw mit den Stacheln und den verschlammten Wegen an den Ufern des Jordans, und wieder verließen sie den Ort auf der Suche nach einem Hauch von Urbanität wie die von Budapest und kamen zu dem Einwandererstädtchen, das tatsächlich ein bisschen dem österreichisch-ungarischen Kaiserreich ähnelte, mit Streitigkeiten und Feindschaften zwischen den verschiedenen Ethnien im Flüchtlingslager, die in erzwungen intimer Nähe beieinander angesiedelt wurden, und sie versuchten sich vor dieser Intimität zu schonen und die Bereiche ums Haus mit Zäunen abzugrenzen, die aus dem Material gebaut wurden, das sich gerade an Ort und Stelle befand, wie Karton, Blech, Bretter, Asbest, militärischen Planen, Jutezuckersäcken, Gerteidesäcke aus Kansas; ein Mischmasch aus Menschen, die in merkwürdigen Sprachen sprechen, wie diejenige, deren Klänge wie ein antiker Fluch aus dem Hals tönen (jemenitisch-jüdisches Arabisch), die diejenigen bedrohen, die die Sprache der Ungeheuergesangsklänge sprechen (ungarisch), die diejenige erschaudern lassen, die ein zischelndes Rascheln einer Kobraschlange sprechen (marokkanisch-jüdisches Arabisch); Ethnien mit bitteren Seelen, die verschiedene Teile des mit abstoßenden Farben gewürztes Geflügels essen, Pflücker von wilden Pflanzen und Notobasisherzfresser wie Wildtiere, die dunklen merkwürdigen Fleischklöße der einen sind den andern als Kotmahlzeit verdächtig, und alle gemeinsam sind Verfolgte, und klauen voneinander Geflügel, das über die Abzäunung geflattert und unschuldig im exotischen Bereich der Nachbarethnie gelandet ist, um dort im Geheimen gebraten zu werden, anstatt mit Paprika und Knoblauch, zum Beispiel, mit Kreuzkümmel und Koriander; Es gab Iraker mit lächelnden Gesichtern und einer Prise Weinerlichkeit, und Einwanderer aus Tangier, die dem traurig-betrunkenen Slowaken aus Budapest ähnelten, der dem Zigeunergeiger mit dem Hemd bezahlten, das er trug, wie es der Dichter sagt, damit er noch ein Liedchen mit einer alkoholischen Welle voller Sehnsucht an die böhmischen Felder spiele; aber in Kiryat Schmona antworten die jüdischen Zigeuner höhnisch mit Arak dem Radio im Kaffeehaus von Halperin, dem „das-ganze-Salär-gebe-ich-im-Laden-aus“-Kapo; dort sah ich als Siebenjähriger meinen Vater sitzen und rauchen, und wie in den Kinderrätseln, wenn du die Flecken, die die Schläge auf meinem kleinen Hintern hinterließen, mit Strichen verbindest, erhältst du die Zeichnung meines Vaters in der Zwangsarbeit, gräbt, gebückt im Graben, und ein deutscher Soldat-Engel über ihm mit dem gezückten Schmeisser im Arm;

und wie er so um sich schaut, mit seinen schönen und traurigen Augen eines Abwesenden, während des Festes zu seinem siebzigsten Geburtstag im Haus meines einzigen Bruders, im gepflegten Dorf in Galiläa, sagte mein Vater: „Was für schöne Enkel habe ich doch, und auch die Enkel von Ilona (die Kinder von Baruch, der den Fliegerkurs gemacht hat und  – wie gesagt – nach Großvater Bajrech benannt ist) sind schön…. Und auch die Enkel von Lazzi (der verstorbene Bruder meines Vaters, dessen zwei Töchter noch 1945 im Säuglingsalter starben, auf dem langen Marsch durch den Tirol nach Italien, wo dann Dani geboren wurde, der Fallschirmspringer, der in Jerusalem gekämpft hat, und dessen Kinder meinte mein Vater) sind sehr schön, das ist unsere Rache an Hitler!“; mit diesen zwanzig Wörtern wob mein Vater die Faden seines Lebens als anschauliche und passende Schoa-und-Wiederaufstehungshandlung;

Roman, Bewusstseinsstrom, Militär, Israel, Krieg, Amos Rein
„Schmerzüberfluss“ von Amos Rein ist ein Bewusstseinsstrom von Erinnerungen und Gedanken, entlang der Straße 90, der längsten Straße in Israel, von der nördlichen Grenze zum Libanon bis Eilat im Süden.

Uri Shani ist in der Schweiz geboren und lebt seit 35 Jahren in Israel. Er ist professioneller Übersetzer für Literatur aus dem Hebräischen ins Deutsche. Sein "Übersetzer-Credo" könnt ihr im Link nachlesen:

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Rosebud
Rosebud
4 Jahre

Zu Ungarn, Shoah und Israel empfehle ich „Ungarische Spitze“, zu dem auch ein Ausschnitt bei Re:Levant veroeffentlicht wurde: https://www.re-levant.de/ungarische-spitze/

Rosebud
Rosebud
4 Jahre

Am Besten beide Buecher parallel lesen!

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