Bücher, Literatur, Industrie, Wirtschaft

Der Bücher viele

Dr. Yahil Zaban ist Literaturwissenschaftler und Lebensmittelkulturforscher. Seine Studien umfassen die Poetik, die Ästhetik und die Philosophie des Essens und die Verbindungen zwischen Lebensmittel, Literatur und Konsumgesellschaft. Vor drei Monaten publizierten wir hier auf Re:Levant „Die Kreuzritter-Chalwa“ aus seinem Buch „Land frisst“ (2016). Hier nun ein Auszug aus „Der Bücher viele“ (Afik, 2019). 

Der Bücher viele

von Yahil Zaban

Einleitung: Zwischen zwei Monstern

Um die heutige Literatur zu verstehen, und im speziellen die neue hebräische Literatur, ist es empfehlenswert, in eine der Filialen der Fast-Food-Kette „McDonalds“ zu gehen, den berühmten Hamburger „Bigmac“ zu kaufen und ihn zu essen. Man kann natürlich auch ausgewählte Romane und Poesiebänder lesen, und der Frage nachgehen, inwiefern eine Intertextualität zwischen ihrer Sprache und der Realität bestehe, oder Literaturkritiken und Essays studieren, aber das ist nicht nötig. Das Verspeisen eines „Bigmac“s im „McDonalds“ ermöglicht ein tieferes Verständnis und eine schnellere Absorbierung der Kräfte und Prozesse, die die literarische Gedankenwelt in Israel und auf der Welt gestalten. Das Einnehmen einer Mahlzeit im „McDonalds“ veranschaulicht im Wesentlichen, dass man die Literatur des 21. Jahrhunderts, wenn man ihre Funktion, ihre Stellung und Rolle verstehen will, gar nicht lesen muss.

Wenn man nebeneinander ein Buch und einen Hamburger aus „McDonalds“ auf einen Tisch legt, erkennt man schnell, dass die visuellen und funktionellen Unterschiede zwischen den beiden eine ideologische Illusion sind. Sobald man sich von dieser Illusion befreit, erkennt man eine erstaunliche Ähnlichkeit zwischen zwei Geschwistern, die im Säuglingsalter voneinander getrennt wurden, Geschwister, die eine gemeinsame Tradition, gemeinsame Charakteristiken und gemeinsame Funktionen haben. Es ist zwar nicht immer einfach, eine Handlung in einem Wienerschnitzel zu finden, und manchmal begegnet man einem Buch, das schwer zu verdauen ist, aber das sind vernachlässigbare Unterschiede, deren Zweck Ablenkung und Verwirrung ist. Es ist wichtig, auf die Gemeinsamkeiten der beiden Produkte hinzuweisen, um den Methoden zu widerstehen, mit denen die Literatur sich selbst ihr selbst erzählt, das heißt ihren Schreibern und Lesern.

Die Vertreter, Agenten und Sponsoren der Literatur mögen es, sie als eine Galaxie von Worten zu betrachten, als eine Gemeinschaft von vielen Stimmen, Kämpfen und Meinungen, als einen mitreißenden und aufwühlenden Wind, als ein frühlingshaftes Feld, das in Tausenden von Titeln blüht, als ein mit Pedimenten, Kolonnaden, Sälen und Gärten gespickter Palast, als schreiende Wunden und wispernde Krankheiten, als Heilung der Nation und als Labung der Seele, als düstere Prophezeiungen und als göttliche Erkenntnis, als zerstückelte Einheit und als sprechendes Schweigen. Schriftsteller und Literaturwissenschaftler sehen sich gerne als geistige Lehrer, voraussehende Warner oder Volkstribunen, die sich mit den wichtigsten und gravierendsten Themen der menschlichen Existenz befassen. Das literarische Schaffen wird als Schicksal, als Berufung, als quälender psychischer Prozess, als mühseliges tagtägliches Handwerk, als orphisches Hinuntersteigen in den Hades oder als ikarussischer Aufstieg in den Himmel beschrieben, und das Lesen als psychische, geistige und existenzielle Expedition ins Jenseits der Sprache, des Verstehens und Bewusstseins dargestellt, zu einem Ort, wo das Sein in verschiedenen Farben und Stimmen schillert. Aber diese imaginäre Expedition scheitert, wenn die Literatur dem Monster: dem Hamburger begegnet. Das Monster ist ein abnormales Wesen, dessen Glieder und Teile von überall zusammengesammelt sind. (Die Definition des Monsters basiert auf Horaz in seinem Buch „Ars poetica“, wo er zu Beginn des Buches ein schlechtes Gedicht, das an Einheitlichkeit, Geschlossenheit und Harmonie mangelt, mit einem Monster vergleicht. In diesem Essay werde ich versuchen zu zeigen, dass die Einheitlichkeit, Geschlossenheit und Harmonie in der Literatur nicht weniger monströs sind.) Der Hamburger, zusammengesetzt aus Dutzenden von geschlachteten und verarbeiteten Kühen, Mehl, Maissirup, Öl, Lecithine, Salz, Calciumsulfat, Calciumcarbonat, Kaliumsorbat, Xanthan, Lebensmittelfarben, Stabilisatoren, Hefe, Zucker, Essig, Kopfsalat, sauren Gurken, Zwiebeln, Eiern, Paprika, Senf (und das ist nur ein Bruchstück der Liste), ist das Monster der Nahrungsmittelindustrie. Ein Monster mit mythologischen Ausmaßen. Sein Name ist weltbekannt, seine Filialen verschlingen ganze Familien und Jugendliche, und auf dem Altar seines Appetits opfern die Bürger ihr Geld und ihre Zeit. Ein Monster, das seinen Opfern Rätsel aufgibt. Wenn die Literatur dem Monster Hamburger begegnet, und dieses Buch wird ihm mehrmals begegnen, erstarrt sie. Sie erstarrt, weil sie versteht, dass dieser abscheuliche Gräuel ein Spiegelbild ihrer selbst ist. Sie sieht, dass sie selbst eine abnormale Form ist, zusammengesetzt aus gefällten und zerstückelten Bäumen, Leim, Verpackungen, Umschlägen, Regalen, Sätzen, Kopien, Abschriften, Lektoraten, Setzern, Pigmenten, Werbezetteln, Preisen, Kosten, Ehrungen, Bildern (und das ist nur ein Bruchstück der Liste), die von überall zusammengesammelt sind. Angesichts des Monsters Hamburger erstarrt die Erzählung und gibt sich als Produkt zu erkennen, die Literatur erschaudert und offenbart sich als Industrie, und die Literalität fährt zusammen und erscheint als Warencharakter der Sprache.

Die Gegenüberstellung von Hamburger und Buch hat den Zweck, der mit Hierarchien verbrämten, erfundenen Intertextualitäten und heiligen Traditionen literarischen Vergötterung zu lästern, und die Literatur zu ihrem Ursprung zurückzuführen: dem sprachlichen und materiellen Produktionsprozess, den wirtschaftlichen Interessen und den Klassenbedürfnissen. All diese stehen vor jedem Schreiben. Der Hamburger beleuchtet im blendenden Neonlicht der Gastronomie, die auch ausgetüftelte Ergonomie ist, die düstere Mechanisierung des literarischen Apparates, dessen Ziel es ist, Konsumenten zu produzieren, die der Mechanik gehorchen, die sie als Konsumenten produziert. Das Hamburger-Ideal der Literatur ist der Konsum. Der Konsum ist das Ideal, und der Weg zur Erfüllung dieses Ideals ist Konsum: „Wenn ihr konsumiert, ist es kein Märchen!“ [im hebr. reimt sich das mit dem berühmten Satz von Herzl. U.S.] Das Ziel der Handlungen, der Charakteren und der Sprachebenen ist die Rechtfertigung des Buchpreises, die Normierung der Verkäufe, nicht nur des einzelnen Buches, sondern der Literatur als solcher, und die Darstellung des Buchkaufs und des Konsums im Allgemeinen als zivile und geistige Pflicht, als gesellschaftliche Verantwortung, als ethische Tätigkeit und als Selbstverwirklichung. („In den meisten Fällen verdeckt natürlich der Inhalt die eigentliche Funktion des Mediums. Er verkleidet sich als Botschaft, aber die wahre Botschaft (womit sich der öffentliche Diskurs nur in einer Fußnote beschäftigt) ist die tiefe strukturelle Veränderung (der Maßstäbe, der Form, des Habitus), der in den menschlichen Beziehungen ereignet.“ Jean Baudrillard, „Der unmögliche Tausch“, das Buch ist 2000 auf Deutsch erschienen, aber die Übersetzung hier ist von mir. U.S.) Die Literatur produziert menschliche Beziehungen, die auf Objektifizierung, Kauf und Eigentum basieren. Ihre Kunst beruht darauf, von der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Ordnung, die sie produziert, abzulenken und sie zu verniedlichen, das wirtschaftliche System, das die Finger des Schriftstellers auf der Tastatur bewegt, zu ignorieren, die Augen vor der Ungerechtigkeit zu verschließen, die sie ermöglichen, und sich an einer Engstirnigkeit festzuklammern, die nur ständig ihre Erhabenheit, ihre Wichtigkeit und ihre Errungenschaften deklamiert. In der Erzählung, die die Literatur über sich selbst erzählt, spielt sie nie die Rolle des Bösewichts. Sie ist immer die Heldin und hat immer recht.

Das Buch „Der Bücher viele“ stellt die Literaturindustrie vor, und insbesondere die israelische Literaturindustrie, als ausgeklügeltes System von politischer, kultureller und gesellschaftlicher Unterdrückung – ein System, das die Schriftsteller, die Leser und die Literaturwissenschaftler unterdrückt, das sie dazu erzieht, ihm zu gehorchen, mit ihm einverstanden zu sein, es zu betätigen und selbst zu Unterdrückern zu werden. Das Ziel der Unterdrückung ist einfach: eine ungerechte Verteilung der Ressourcen, oder, genauer gesagt – wirtschaftliche Ausbeutung.

Die Literatur ist das zentrale Organ der Verbreitung der kapitalistischen Werte (Ein schwerwiegender Fehler ist es, schreibt Fernand Braudel (Civilisation and Capitalism, 1984), anzunehmen, der Kapitalismus sei nur ein wirtschaftliches System, denn er ist auch eine gesellschaftliche Ordnung. Franco Moretti (The Bourgeois, 2013) zeigt, dass es bis zu Beginn des Zwanzigsten Jahrhunderts in der Wissenschaft klar war, dass das kapitalistische Bürgertum oder der bürgerliche Kapitalismus die beiden soziologischen und ökonomischen Seiten der gleichen Münze sind.) – dieselbe Literatur, die Gleichheit, Humanismus und gegenseitige Verantwortung propagiert, aber de facto Klassenunterschiede, wirtschaftliche Ungleichheit unterstützt; dieselbe Literatur, die gegen Gewaltanwendung ist, denn ihre eigene ist legal; dieselbe Literatur, die zu Toleranz und zum Respekt des Anderen erzieht, denn sie fordert die Toleranz ihres Diktats und ihrer Macht; die Barmherzigkeit und Nächstenliebe auf ihre Fahnen geschrieben hat, was ihre Gleichgültigkeit und ihre Gewalttätigkeit rechtfertigt; die von Wohltätigkeit und Philanthropie an den Ressourcen und der Arbeit überquellt, die sie raubt; die ganz Ohr ist der Musikalität der menschlichen Seele, die die Schreie totschweigt, die sie erzeugt; die sich an der Schönheit der Natur labt, deren Ressourcen sie verschmutzt und zerstört; die Multi-Kulti und ethnische und Gender-Vielfalt befürwortet, denn sie sieht in jedem einen potenziellen Konsumenten. Kurz, die Literatur propagiert moralische Normen, um Mittel (sich selbst) zu verkaufen, die ihre Verwirklichung verhindern.     

Man muss ein Buch als eine kleine Maschine erkennen, sagt Gilles Deleuze, und sich fragen, ob sie funktioniert, wie sie funktioniert, wie sie für mich funktioniert; wenn sie nicht funktioniert, nimmt man ein anderes. Man braucht das Buch nicht zu interpretieren, man muss es nicht erklären, man muss es nicht verstehen. Das Lesen eines Buches sei einem Anschluss an einen elektrischen Stromkreis gleich: Wir betätigen das Buch, und das Buch betätigt uns, und wenn der Strom läuft, erschaudern wir. Diese technologische Fantasie hat auch eine andere Seite, denn wenn viele kleine Maschinen arbeiten, die an viele kleine Betätiger angeschlossen sind und das Erschaudern nicht aufhört, dann wird die Literatur zu einer Fabrik. Deshalb sollte man die deleuzische Erkenntnis erweitern und auch fragen, wie die Literaturindustrie arbeitet, wie verkauft sie uns Bücher, wie verbindet sie uns mit dem elektrischen Stromkreis des Konsums, wie bringt sie uns dazu, das nächste Buch zu kaufen. Diese Fragen sind so einfach und banal, dass es scheint, es lohne sich nicht einmal, sie zu beantworten, und trotzdem glaube ich, dass sie voller Widersprüche und Geheimnisse sind: Warum kaufen Leute Bücher, wenn sie sie kostenlos aus der Bibliothek holen oder viele davon im Internet runterladen können? Warum werden Bücher als Geschenke gekauft? Warum kauft man ein Buch, auch wenn man zu Hause noch Bücher hat, die man noch nicht gelesen hat? Warum kaufen einige Bücher und lesen sie nicht? Warum werfen Leute Bücher in den Müll? Warum werfen Leute Bücher nicht in den Müll? Warum kaufen die Leute Bücher?

Die Anziehung der modernen Literatur liegt nicht in der einmaligen Begegnung zwischen dem Leser und dem Buch, sondern in der ideologischen Organisierung dieser Begegnung. Die geistige, moralische und intellektuelle Entwicklung, die die Bücher den Lesern anbietet; das Kennenlernen des Anderen, das Kennenlernen von Traditionen, des Systems, das sie ermöglichen; der philosophische, historische und kulturelle Kontext, dem sie Form geben; der Genuss, die Befriedigung, der Schmerz und die Empathie, die sie hervorrufen – all dies sind nebensächliche Aspekte. (Die Erbauung vom Werk ist Produkt von Annahme der literarischen jahrhundertealten Konventionen, die überhaupt nichts mit dem spezifischen Werk und mit dem Bewusstsein, das ihm begegnet, zu tun haben. Sie ist eine permanente, automatische, geregelte und voraussehbare Reaktion. Den Schriftstellern, den Lesern, den Kritikern, den Literaturwissenschaftlern, den Verkäufern und den Händlern bleibt nichts anderes übrig, als weiterhin am Laufband der Erbauung, das ihre Notwendigkeit sichert, zu arbeiten.)

Der Inhalt des Buches verhüllt seine eigentliche Funktion – und diese ist die Reproduktion Produktions- und Konsumsbedingungen (es regt nicht nur zum Konsum des Buches selbst, sondern zum Konsum im Allgemeinen an). Die moderne Literatur produziert, verbreitet und verkauft Narrative mit technologischen Mitteln. Sie kommodifiziert das Wissen, die Sprache, die Auffassung der Realität, und nötigt uns zum falschen Gedanken, dass nur was erzählbar ist, was man als Erzählung organisieren und konsumieren kann, Existenz und Wert hat. Noch vor dem Fernseher, dem Internet und dem Smart-phone organisierte die moderne Literatur die Existenz als Tätigkeit, die alle menschlichen Phänomene in sich vereinigt, indem sie sie zu Produkten macht. Sie konstituierte mit technologisch-literarischen Mitteln die Konsumkultur und entwickelt sie weiter. (Die Druckprodukte, sagt Marshall Mcluhan, haben die Zivilisation verändert, weniger wegen ihrer (ideologischen, wissenschaftlichen, informativen) Inhalte, sondern mehr wegen der technologischen Organisierung, die sie auf die Leser ausüben. Die visuelle Einteilung, die Buchstaben, die Wörter, die Seiten – all diese haben größeren Einfluss als die Symbole, die Ideen, die Inhalte und die Handlungen. Der Effekt der Literatur entsteht nicht im Bereich der Ideen oder der Begriffe, sondern in der Wahrnehmung und der Art des Sinnreizes, die die technologische und visuelle Organisierung verändern und festlegen, ohne Widerstand (Marshall Mcluhan: Understanding Media, 1964). Die Unmöglichkeit, der Literatur zu widerstehen, liegt a priori im Akt des Lesens; wie in jedem Bereich der Massenmedien hat der Leser keine Möglichkeit zu reagieren (Jean Baudrillard, „Requiem für die Medien“, die Übersetzung hier ist von mir. U.S.). Die fehlende Kontrolle der Leser ist wesentlich für die Literatur, die keine Reaktion erzeugen, sondern sie kontrollieren will: Die Reaktion des Lesers ist die Bezahlung, das heißt er muss im Voraus und regelmäßig auf jede literarische Botschaft reagieren. Die industrielle Poetik werde ich hier „Nötigierung“ nennen. [Ich habe für die Übersetzung absichtlich ein „Unwort“ kreiert, da das hebräische drei ganz verschiedene Bedeutungen hat, was sich unmöglich in einem Wort ins Deutsche übersetzen lässt: Einerseits bedeutet es die Bildung einer Notwendigkeit, zweitens etwas zu etwas Konsumierbares machen, und drittens – mit kleinem Schreibfehler – die Rochade im Schachspiel. U.S.] Dieser Begriff unterwandert den Grundsatz der Literaturwissenschaft, die „die Reaktion des Lesers“ heißt, und vor allem den Grundsatz der „Unbestimmtheit des Textes“ (Wolfgang Iser: „Der Akt des Lesens“, 1976), gemäß derer das literarische Werk dem Leser eine Beteiligung bei seinem Entstehen gönne; die Leser setzen den Text zusammen, wie die Käufer den Schrank zusammensetzen, den sie bei IKEA gekauft haben.) Die literarischen Werke, und vor allem Belletristik, fusionierten den Konsum – die Basis der modernen Wirtschaft – mit der Kultur, das Feld, in dem die Kunst- und Gefühlsenergien der Gesellschaft zum Ausdruck kommen. Die Literatur war und ist die vereinende Kraft der modernen Industriegesellschaften, deren Struktur nicht auf Legitimierung, Gerechtigkeit, demokratische Teilnahme und logischen Argumenten basiert, sondern von verflochtenen sprachlichen und emotionalen Manipulationen beherrscht wird, die begrenzten Machtgruppen das Recht und die Fähigkeit geben, Güter und Kapital anzuhäufen.

Diese These soll keine Reduktion der Literatur im Stil des vulgären Materialismus aus der Epoche des naiven Marxismus sein, der das materielle Interesse als objektive Wahrheit und als Basis für jede kulturelle Praxis darstellte, der jeden Gegensatz als Klassengegensatz sah und die Gleichheit als historische Notwendigkeit postulierte. (Die post-marxistische Kritik stellt fest, dass die Fixierung auf Klassengegensätze und wirtschaftliche Ausbeutung die geschlechtlichen, ethnischen, nationalen und kulturellen Aspekte unkenntlich macht und den Menschen aus einer verengten und totalen Perspektive richtet, die zu Unterdrückung, Vereinheitlichung und Eliminierung von Minderheiten führt, mit dem Hinweis auf die Unterdrückung der ethnischen Gruppen im kommunistischen Block im Namen von Gleichheitsideologie (Ernesto Laclau and Chantall Mouffe: „Hegemonie und radikale Demokratie“, 1991). Die Privilegien der Bourgeoisie und die wirtschaftliche Asymmetrie zwischen Arbeitern und Arbeitgebern werden als Aspekt der subjektiven Identität betrachtet. Die wirtschaftliche Ausbeutung und Unterdrückung sind Teil der Ansammlung von bösen Taten des modernen Zeitalters, neben Sexismus, Rassismus und Homophobie, und deshalb sollte parallel gegen verschiedene Arten von Unterdrückung gekämpft werden. Die wirtschaftliche und gesellschaftliche Ungleichheit wird als Charaktere des Subjekts aufgefasst, als Identität, und nicht als Grundform der modernen Gesellschaft. Von hier ist der Weg kurz zur „bourgeoisen Gerechtigkeit“: Gleichberechtigung für ein paar Minderheiten, was verspricht, dass die ungerechte Verteilung der Ressourcen erhalten bleibt.) Aber die Darstellung der wirtschaftlichen Interessen der bourgeoisen Hegemonie und die Forderung gerechter Verteilung der Ressourcen ist unumgänglich, damit eine kritische Erkenntnis der Kunst möglich wird. Ohne Diskurs über das Netz der gesellschaftlich-wirtschaftlichen Beziehungen, die der Literatur ihre logischen, poetischen und funktionalen Prämissen aufzwingt, über die materiellen Bedingungen, die die Erfüllung der ethischen Begriffsbildung ermöglichen, und über eine moralische Wirtschaft bleibt jedes Nachdenken über die Literatur ein in sich selbst verschlossenes Königreich, eine sprachliche performance, deren Ziel nicht weiter reichte als die Literaturkränzchen, die Literatursparten in den Zeitungen, die Kongresse und die Artikel. Die Literatur, die im Mantra gefangen ist, sie verzichte auf materiellen Interessen (für die Kunst, für eine bessere Gesellschaft, gegen die Okkupation der besetzten Gebiete), was ihr ethische und politische Legitimität verleiht, bejaht de facto und vervielfacht die Positionen, gegen die sie antritt.

Die Literatur gaukelt sich vor, sie kämpfe, damit dieser Kampf Einbildung bleibt, sie protestiert, damit der Protest eine Geste bleibt, sie zerlegt ihr Produktionssystem, um die Zerlegung weiter zu produzieren. (Die stilistische und formale Entwicklung in der Literatur geben die Entwicklung der Beziehungen zwischen Literatur und Gesellschaft wieder. Wenn der Stellenwert der Literatur, ihre Funktion und ihre Anerkennung in der Gesellschaft infrage gestellt werden, erscheinen neue Schreibtechniken, die als neue Protokolle der Beziehungen zwischen der Literatur und der Realität und zwischen der Literatur und der Leserschaft aufgefasst werden, die hauptsächlich neue Verhaltens- und Kommunikationsformen sind, auch wenn sie einen kommunikativen, sprachlichen und gesellschaftlichen Bruch ausdrücken (Raymond Williams: „Marxism and Literature“, 1977). Da die sich verändernden Stile noch immer durch die Literaturprodukte konsumiert werden – durch den Laden, die Kreditkarte oder das elektronische Lesemittel -, werden sie in die Sprache der Produkte übersetzt. Die kulturelle Krise verkümmert zur Konsumfrage, die die Klassenbeziehungen in der Gesellschaft aufrechterhält. Aus dieser Sicht sind die verschiedenen Epochen der Literatur in der modernen Zeit und ihre Stile – die romantische, die dekadente, die impressionistische, die expressionistische, die moderne und die postmoderne Literatur – ein hartnäckiger Kampf um die Konsumierbarkeit der Literatur. Wie schwerelose Ballerinen machen die Bücher sprachliche Pirouetten, um die Regale zu verlassen, aber sie können der Gravitationskraft der Konsumkultur nicht widerstehen. „Und so kehrt der Text zurück und wird in eine kollektive Wirtschaft eingebettet: Gerade die Nutzlosigkeit des Textes ist es, die ihn für den Potlatch nützlich macht…“ (Rolan Barthes: „Die Lust am Text“, 1974, meine Übersetzung, U.S.)

Solange Bücher verkauft werden, solange Schriftsteller, Lektoren und Literaturwissenschaftler von der Literatur Einkünfte beziehen, und solange Leser und Literaturliebhaber für sie bezahlen, schreibt sie in der Sprache der Konsumgesellschaft. Der Hamburger und das Buch teilen dieselbe Sprache. Ich behaupte nicht, dass diese Sprache der Hegemonie dient. Nein, dieselbe Sprache ist die Hegemonie.

Die Aufgabe der Literaturwissenschaft ist, die Trennung zwischen der Hamburgersprache und der Literatursprache aufrechtzuerhalten. (Wenn man die fast-food-Sprache mit der Literatursprache verkoppelt, entsteht ein grotesker komischer Effekt. Das Groteske, sagt Bakhtin, verwischt die willkürliche Unterscheidung zwischen dem Erhabenen und dem Niedrigen, zwischen dem Ewigen und dem Alltäglichen, es enthält sprachliche Gefüge, die überraschende Zusammenhänge zwischen verschiedenen Kommunikationsebenen erzeugen. (Michail Bakhtin: The Dialogic Imagination, 1981)

Die Literaturwissenschaft überzeugt sich und seine Schüler, dass die literarischen Produkte sprachliche Produkte von speziell großer Qualität sind, die den Weg zur Freiheit, zur Moral, zum Verständnis der menschlichen Seele und zur menschlichen Geschichte und Kultur ebnen. (Deshalb unterscheidet die Literaturwissenschaft zwischen zwei Arten von Arbeit: zwischen Handwerk und Schöpfung, Erschaffung, zwischen Nicht-Kunst und Kunst, zwischen Literatur und populärer Literatur, zwischen Kultur und Massenkultur. Das ästhetische Erlebnis eines Kunstwerks trägt zur Aufrechterhaltung der Arbeitsteilung zwischen den Klassen bei, als Konsumform [Williams, 1977, 153-154])

Die durch Alliteration, Assonanz, Reimalternanz und dergleichen kultivierten Ohren der Literaturwissenschaftler filtern die Schreie der Werbung aus, ihre an Tippen und Blättern gewöhnten Finger beschäftigen sich nicht mit schweren Kisten und mit Bücherbergen, ihre vom Wind der Dichtung und von der Klimaanlage gestreichelte Haut wird nicht von den chemischen Dünsten der Druckereien verbrannt, ihre nach Zeichen, Namen, gedankliche Fäden sprachlichen Mustern suchenden Augen hüpfen frisch munter über Katalogpreise und Preissenkungsaufkleber hinweg. Während die Literaturwissenschaft im Fussel der Sprachebenen des literarischen Topos versinkt, sich der Tradition und der Interpretation hingibt, sich an am Erblühen von Metaphern und an der Bedeutung des Welkens derselben erbaut, funktionieren weiterhin die Objekte ihrer Forschung, ohne Rücksicht auf ihre Folgerungen, wie ein Konsumalgorithmus, der Dialekte standardisiert, Klassenunterscheidungen konserviert, Verhaltensweisen kontrolliert und materieller und formeller Ausdruck der gesellschaftlichen Ordnung bedeutet.

All das bedeutet nicht, dass die Literaturwissenschaft irrt. Im Gegenteil, selten irrt sie sich. Die Interpretationen sind klug, die Analysen ausgezeichnet und überzeugend, die Werke werden sensibel, mit viel Wissen und auf bewegende Art gelesen. Je komplexer, köstlicher, reicher, mit mehr melodischen Zeilen und angenehmen, die Fantasie stimulierenden Stimmen ausgestattet die Literatur ist, desto komplexer, anteilnehmender, tiefgründiger und erfahrener sind die Artikel und Bücher über sie. Der Professionalität und Qualifikation der

Literaturindustrie entsprechen die Professionalität und Qualifikation der Literaturwissenschaft, und je besser beide Systeme sind, desto schleierhafter, flüchtiger, philosophischer, fragwürdiger, poetischer die Gründe für Arbeit dieser beiden Systeme. Man kann nicht umhin als angesichts der Poesie eines Bialik sich ergötzen, und man kann sich an den Interpretationen von Bialik nur ergötzen, aber man kann nicht fragen: Wozu das Ganze?

Mit dieser langjährigen Symbiose bereichert die Literaturindustrie die Literaturwissenschaftsindustrie mit Materialien und Ressourcen, und die Literaturwissenschaft, ihrerseits, verwischt den Industriecharakter der Literatur. Diese Symbiose basiert auf einer ständigen Produktion von fiktiven Widersprüchen: Intellektuelle gegen Bürgerliche, Gelehrte gegen Kapitalisten, Bücher gegen Hamburger. Kurz, das Ziel der Literaturwissenschaft ist, das System zu verteidigen, von dem es lebt, und es zu verbreiten.

Das vorliegende Buch hebt den Kopf aus dem Sand der schönen, klugen und wahren Worte, der großzügig auf den Blättern verstreut liegt. Es klappt das schöne Buch, alle schönen Bücher, zu, und hört auf zu lesen. Das Bewusstsein, das an die Scheuklappen der geordneten Zeilen, an die Angstriemen der geschliffenen Syntax, an die Zügel der schönen Metaphern und an die Trense der melodischen Sprache gewöhnt ist, verwaist. Rinnt aus. In der Wüste der nicht-literarischen Realität, deren Horizont so schmal und düster, deren Verkehrswege mit Straßen und Einkaufszentren versperrt, deren Luft mit Abgasen, Ruß, Werbung und Klingeltönen von smart-phones verschmutzt ist, entdeckt das Bewusstsein, wie es sanft und nachdrücklich zum Konsumtrog getrieben wird, wie ihr Mittelmäßigkeit, Kriecherei und Konformismus aufgezwungen wird, wie die gesellschaftliche Ordnung ihr eingeprägt wird, wie sie erzogen, gehätschelt, verarbeitet, gegrillt und verpackt wird. Wie sie zu einem literarischen Hamburger wird, zu einem Hambuch.

„Der Bücher viele“ betont den zentralen Stellenwert der Literatur in der kapitalistischen Konsumgesellschaft. Es liest sie als Ware, als Marke und als Statussymbol und konzentriert sich auf die Wege, mit denen sie die Leser zu Konsumenten macht. Anstatt sich in die Windungen der Handlungen, den Seelenschmerzen der Helden, den nationalen Allegorien, den revolutionären Symbolen, der Sprache und ihrer Ebenen und dem historischen Kontext zu vertiefen, befasst es sich mit Plastikbeuteln, Umschlägen, Austauschzettel, Preissenkungsaktionen, der Anzahl Wörter auf dem Blatt und den Kapitalen an Kopf und Fuß des Buchrückens. Durch die ’nebensächlichen‘ Aspekte der Literatur (die erstaunlich denen des fastfood ähneln) versucht es, das Lesen der schönen Literatur als etabliertes Verhalten darzustellen, das seine Adressaten dazu erzieht, der Produktionskultur und der Konsumideologie zu gehorchen und zu zeigen, wie eng der Zusammenhang zwischen Klassenbildung und intellektuellem Rassismus ist, der im Herzen des literarischen Gedanken liegt.

Uri Shani ist in der Schweiz geboren und lebt seit 35 Jahren in Israel. Er ist professioneller Übersetzer für Literatur aus dem Hebräischen ins Deutsche. Sein "Übersetzer-Credo" könnt ihr im Link nachlesen:

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The Dude
The Dude
4 Jahre

Es entbehrt natürlich nicht einer gewissen Ironie, dass ein Buch (das ja konsumiert, oder zumindest gekauft werden soll) gegen sich selbst argumentiert – im Gegensatz zum Big Mac, der hat meines Wissens nicht für seine Selbstanschaffung plädiert…

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