Auf den Spuren von Else Lasker-Schüler
Professor Nathan Wassermann wurde 1962 in Jerusalem geboren, der Stadt, in der er den größten Teil seines Lebens lebte, außer einer kurzen Zeit, die er in Paris verbrachte. Er ist Professor für Altorientalistik (=Assyriologie) und Spezialist für Keilschrift, besonders für Literatur der altbabylonischen Zeit. Er unterrichtet an der Hebräischen Universität in Jerusalem und hat enge akademische Beziehungen zur Universität Leipzig. Parallel zu seiner akademischen Arbeit schrieb und publizierte er fünf Gedichtbände und ein Prosabuch: „Schwarz und stern“. Im Jahr 2008 erhielt er den Jehuda Amichai-Preis für Lyrik.
„Schwarz und stern“ handelt von Nathan Wassermanns Versuch, sich der deutsch-jüdischen Dichterin Else Lasker-Schüler (kurz: ELS) anzunähern. Nach langer Irrfahrt erreichte die berühmte Dichterin in hohem Alter Jerusalem, wo sie auch starb. Das Buch hat keine Kapitel, sondern ist in Abschnitte eingeteilt, einige länger, ein paar Seiten, einige nur einen Absatz lang.
Zum Titel des Buches: Eine Sammlung von ELS’s Gedichten heißt „Gottfried Benn“, Untertitel: „Der hehre König Giselheer / Stieß mit seinem Lanzenspeer / Mitten in mein Herz.“ Das zweite in dieser Reihe heißt „Giselheer dem Heiden“, und darin sind die beiden Zeilen „Sieh meine Farben / Schwarz und stern“. Zum Kaf-Tet be-November im ersten Satz des Auszuges: Am 29. November 1947 beschloss die damals noch ganz neue UNO die Teilung des Mandatsgebietes Palästina in einen jüdischen und einen arabischen Staat (wobei Jerusalem einen Sonderstatus erhalten sollte). Es war dies der letzte und wichtigste Meilenstein auf dem Weg zur Gründung des Staates Israel. Die hebräischen Massen tanzten und feierten. In einigen Städten in Israel gibt es Straßen, die nach diesem Datum benannt sind. Der Begriff „29. November“ auf Hebräisch ist ein eigentümliches Gemisch: Die Zahl 29 wird mit hebräischen Buchstaben geschrieben und ausgesprochen (Kaf ist 20, Tet ist neun), so wie vor Urzeiten gezählt wurde und so wie bis heute das hebräische Datum geschrieben und ausgesprochen wird; aber das Datum ist nicht das hebräische, sondern das gregorianische. Zum Messias, Sohn des Josef: In der jüdischen Tradition gibt es zwei verschiedene Messiasse: „Der Messias, Sohn von David“ (d.h. ein Nachkomme des Stammes Judas) und „der Messias, Sohn von Jossef“ (d.h. ein Nachkomme des Stammes Ephraim). Der Messias, Sohn von Jossef, ist der „praktische“, kommt vorher und bereitet die Erlösung militärisch, wirtschaftlich und gesellschaftlich vor. Der Messias, Sohn von David, ist dann der eigentlich geistliche Erlöser.

Schwarz und stern
von Nathan Wassermann
Übersetzung: Uri Shani
…. (Seiten 11-22 von 175 Seiten)…
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Wie hieß die Straße des Kaf-Tet be-November vor dem 29. November? Im Haus Nummer 24 in dieser Straße wohnte Professor Trude Dotan, die Tochter des Architekten Leopold Krakauer aus Wien. Dani Dotan, Trudes Sohn, machte über seine Mutter einen Film („Die Königin von Jerusalem“, 2008), und durch diesen Film erfuhr ich, dass sich ELS‘ Totenmaske in Trude Dotans Wohnung befindet. Trude, als Kind, lernte ELS im Haus ihrer Eltern kennen, dem Ehepaar Krakauer, die sich um die vereinsamte Dichterin kümmerten, als sie verarmt in Jerusalem lebte.
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In der Nacht des 29. November wurde A., die Mutter meiner Tochter, in aller Eile in die Gebärstation gebracht. Zwölf Stunden danach, hundert Jahre nach der Geburt meines Vaters, wurde im Krankenhaus Hadassa En-Kerem meine jüngere Tochter Ada geboren.
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Einige Wochen lang zögerte ich, bevor ich Trude Dotan anrief, und dann, um ein Uhr dreißig mittags (einer ‚gefährlichen‘ Stunde. Wie ich in meiner Kindheit gelernt hatte, benutzt man das Telefon zu so einer Zeit nicht, außer in Notfällen) rief ich plötzlich an. Nach fünf Klingeltönen, als ich schon dachte, ich müsste eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter hinterlassen, antwortete mir eine blecherne, spröde, herrische Stimme. Trude Dotan war distanziert, aber zugleich aufmerksam. Ich stellte mich stotternd vor (vielleicht erinnert sie sich an mich von der Universität? Nein, sie erinnert sich nicht), und sofort, da ich nichts sonst zu sagen hatte, fragte ich sie, ob sie die Totenmaske von ELS besitze.
Do we have the mask of Else? fragte Trude in einem akademischen Englisch, das noch an die Zeit des britischen Mandates erinnerte und das ich schon lange nicht mehr gehört hatte, seit Tadmors Tod, und jemand neben ihr antwortete sofort: Yes. Könne ich vielleicht vorbeikommen und die Maske fotografieren? fragte ich, ob das nicht übertrieben sei? Nichts ist übertrieben, sagte Trude, und ich kam mir gerügt vor. Was für ein Tag ist heute? fuhr sie nach einer kurzen Pause fort. Ich wusste die Antwort nicht. Mittwoch, nein, Donnerstag, versuchte ich es nochmals. Wir schwiegen, der eine in des anderen Schweigen gefangen, auf beiden Seiten der Leitung. Ich war verlegen. Nur wer sich der Welt abgesagt hat, weiß nicht, welcher Wochentag heute ist. Trude darf es nicht wissen, aber ich hatte noch eine Funktion in der Welt. Die Verlegenheit löste sich vom anderen Ende der Leitung. Egal, sagte sie, komm, wann du willst, um fünf Uhr dreißig. Wenn ich mich recht erinnere, endete das Gespräch ohne Abschiedsworte.
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Obschon die Straße des Kaf-Tet be-November sehr nahe an meiner Wohnung liegt, kam ich zu früh, um nicht zu spät zu kommen. Ich lehnte mich an einen Zaun in der Nähe von Trude Dotans Haus. In Europa hatte ich oft Straßen gesehen, die nach historischen Daten benannt waren, aber in Israel erinnerte ich mich nur an die Straße des 5. Ijar [das hebräische Datum der Staatsgründung, der Übersetzer] und an die Straße des Kaf-Tet be-November. Warum heißt das Datum, an dem in der UNO über das Ende des britischen Mandats beschlossen wurde, nicht der 29. November? Und warum eigentlich nicht der 17. Kisslew, das hebräische Datum desselben Tages im Jahr 5708? Diese eigentümliche Mischung zwischen dem hebräischen und dem gregorianischen Kalender beschäftigte mich. Die Straße des Kaf-Tet be-November beginnt bei der Straße der jüdischen Legion und endet in der Straße der Eroberer von Katamon. In der Nähe befinden sich die Straße derer, die die Blockade durchbrochen haben, die Straße der 35 Helden, die Straße des Palmach. Die Straßenkarte, wie eine nachträgliche Prophezeiung, lehrt uns mit ihren Verweisen auf den Krieg von 1948, dass die Uno-Resolution, die die Gründung von zwei Staaten, einen jüdischen und einen arabischen, im Land beschloss, keine großen Chancen hatte. Nicht weit von Trudes Haus war bis 1948 die irakische Botschaft, und in der Nähe auch die Geburtsklinik „Missgaw laDach“, wo ich geboren wurde. Jetzt ist dort eine Synagoge und ein religiöses Gemeindezentrum für jüdische Jugendliche aus Amerika.
Menschen kamen von ihrer Arbeit nach Hause zurück. Ein großes weißes Taxi hielt, und ein fröhlicher junger Mann mit offensichtlichen körperlichen und geistigen Beeinträchtigungen, aber einer Seele, die wie ein farbenfroher Papagei auf dem Schiffmast sang, stieg aus. Der junge Mann hüpfte vom Wagen, der ihn von der Institution brachte, wo er die Tagesstunden verbrachte, und verschwand in einem der Häuser. Dann überquerte ein blonder, etwa zehnjähriger Knabe die Straße, und vor ihm ging, wie in einem festlichen Umzug, ein riesiger Hund ohne Leine: Dogue de Bordeaux. Ein Gemälde von Velazquez, ich weiß nicht mehr welches, kam mir in den Sinn.
Und hinter den Häusern von Kaf-Tet beNovember zieht sich die Rafaiterebene (auf hebräisch: Tal der Riesen) hin, mit der langen und belebten Straße der Rafaiterebene, und noch weiter südlich, das Baka-Viertel. (Man muss sagen: Unter-Baka, denn zur Zeit des englischen Mandates gab es in Jerusalem auch das Ober-Baka, erzählte mir S. aus Ostjerusalem, bevor er nach London ausgewandert war, aber dieses Viertel ist völlig verschwunden und stattdessen stehen dort jetzt die Viertel Arnona und Talpiot.) Und weiter, hinter Baka, am Ende des Weges nach Hebron, die Militärsperre neben dem Mar Elias-Kloster und Tantur, und dann Bethlehem, die Stadt, in der vor Urzeiten, so sagt man, König David geboren wurde, und wo eines Tages der Messias, Sohn des Josef, geboren werden wird.
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Im Jahr 1982, als ich im Schlafsack auf dem Boden des Materiallagers der Abteilung für militärische Aufklärung, auch Nachrichtendienst genannt, schlief, wo ich meinen Militärdienst absolvierte, rings um mich Kartonschachteln mit Uniformen, die von der Wäsche zurückgekommen waren und nach einer menschlichen Existenz rochen, die sich zwischen Schweiß, Chlor und Erbarmen bewegte, weckte mich I. auf und sagte mir, dass Scholem tot sei. Wer ist tot? fragte ich verwirrt. Scholem, Gershom Scholem. Er ist tot. Ich setzte mich in meinem Schlafsack auf. Scholem ist tot. Karl Jung ist tot. Auch Dostojewski ist schon tot. Diese drei, deren Bücher ich in jenem Jahr gelesen hatte, waren alle schon tot.
Es waren die Tage von vor, während, und schließlich nach dem Krieg. Die Aktion „Kiefern groß“, an deren Stelle dann „Kiefern klein“ kam und die dann zur Aktion „Frieden für Galiläa“ wurde, die zum Ersten Libanonkrieg wurde. Der Krieg und seine Vorbereitung waren für mich ein langer und endloser Prozess von Verteilen von Material, das dann wieder zurückkam, dreckig und kaputt, meistens nachts. Formular 1008, das Formular, mit dem man etwas aus dem Materiallager holt, war der hauptsächliche Text, den ich während dreier Jahre schrieb. Ich war ein Pedant. Ich galt als guter Materiallagerchef. Ich diente auch im Waffenlager und im Optiklager. Am Ende des Krieges, als weniger Offiziere dort waren – vor allem weil die politischen Ereignisse und das Gefühl der Niederlage so ziemlich die Lust dazu verdorben hatten – wollten sie, dass ich in den Offizierskurs ginge. Ich war nicht bereit, Materiallageroffizier zu werden. Zweimal wurde ich zu Tests geschickt und fiel absichtlich durch. Ich wurde gewarnt, dass ich bestraft würde, wenn ich nochmals absichtlich durchfallen sollte. Im Reservedienst lohnt es sich, Offizier zu sein, so sagte man mir zu, aber ich sah schon am Horizont das Ende meines regulären Dienstes und zog es vor, weiterhin Farbbänder für die Schreibmaschine meines Vaters und Pakete von Tippex-Kleber vom Lager zu klauen, dessen Schlüssel mir als verantwortlichem und treuem Soldaten gegeben worden war. Ich wusste, dass ich sofort mit dem Studium beginnen würde. Die Tippexpakete befinden sich noch immer auf dem Schreibtisch im Haus meiner Mutter, dreißig Jahre, nachdem ich sie gestohlen habe. Ich habe nie auch nur eines davon geöffnet. I. war mein einziger Freund in der Kaserne. Nach dem Militärdienst fuhr er nach Kalifornien, um zu lernen, wie man Tiere von Krankheiten heilt. Ich habe nichts mehr von ihm gehört, außer einem einzigen, verblüffenden und unverständlichen Brief, den ich einmal erhielt, mit zwei Fotos darin (er und seine Frau an einem Fluss, im strahlenden Sonnenlicht blinzelnd, aus einem merkwürdigen Winkel fotografiert; er und seine Frau neben einem großen Baum, dessen Spezies ich nicht kenne). Dreißig Jahre später erfuhr ich, dass er nach Israel zurückgekehrt war. In den Nachrichten hörte ich, dass ein Autofahrer namens I. wegen Fahrens unter Drogeneinfluss und fahrlässiger Tötung verhaftet worden sei. Sein Foto war in den Zeitungen: Er stand dort neben der Straße an einem zerstörten Zaun und zerfledderten Sträuchern, wahrscheinlich während der polizeilichen Rekonstruktion, verwirrt, einsam, als würde er im Militär ein Wochenende in der Kaserne als Strafe absitzen.
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Die 92-jährige blickte mich mit hellblauen Augen an. Sie sah wie mit Bleistiftfarben gezeichnet aus. Sie hatte eine durchsichtige Qualität, wie die Luft, die manchmal über den Moab-Bergen hängt, wenn man von der Brücke, die zur Cinemathek führt, über die Mauer in Jerusalem hinwegsieht. Trude Dotan wurde 1922 geboren. ELS wurde 1869 geboren und war 53 Jahre älter als Trude. Wenn sie heute leben würde, wäre sie 145 Jahre alt.
Ich glaube, ich bin der letzte noch lebende Mensch, der Else gekannt hat, sagte mir Trude. Das stimmt nicht: Eine ELS-Forscherin erzählte mir, dass eine Freundin der Dichterin, die in einem Kibbutz im Norden wohnt, noch lebt, und auch Rafi Weiser, der legendäre Archivar der Nationalbibliothek, erzählte mir, dass einer der Bibliothekare als Kind ELS im Kreuztal traf. Auch ich traf sie einmal. [Rafi Weiser ist im Juli 2019 gestorben. Der Übersetzer]

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Roneli, Trudes philippinische Pflegerin, legte ELSs Totenmaske vor mir hin (ich flüsterte auf Deutsch „Totenmaske“). Die Maske war in Packpapier in einer rot-weißen Kartonschachtel eingepackt, in der einmal wahrscheinlich ein Toster oder ein Mixer verpackt gewesen war. Auf der Kartonschachtel stand auf Hebräisch, in runder und sicherer Handschrift und mit blauer Tinte: „Else“, und eine Zeile darunter: „Lasker-Schüler“.
Als ich begann, die Gipsmaske zu photographieren, wurde Trude argwöhnisch. Plötzlich verstand sie nicht mehr, wer ich war und was ich in ihrem Haus machte. Hast du eine Visitenkarte? fragte sie verängstigt. Ich gab ihr meine universitäre Visitenkarte. Sie sah sie an, war aber noch nicht beruhigt. Sie sah verwirrt aus, verloren in der Dämmerung ihres Greisenalters. Ich wusste nicht, wie ich mich verhalten sollte, deshalb stellte ich das Stativ auf und versuchte, die Kamera anzuschrauben. Das war kein kluger Schritt. Trude wurde feindselig. Ich ließ das Stativ beiseite und fotografierte die Totenmaske so schnell wie möglich.
Und dann fragte ich: Wer hat eigentlich die Totenmaske angefertigt? Trude war erstaunt über die Frage. Der Gedanke an die Totenmaske, die sie so viele Jahre lang schon kannte, beruhigte sie und brachte sie zurück in den Stollen der entfernten Erinnerungen, die Gefilde der Kindheit, die nicht verwelken. Ich glaube, meine Mutter, sagte sie versonnen. Und dann fragte sie wieder: Wie bist du auf mich gekommen? Ich sagte ihr nochmals, dass eine Kollegin vom archäologischen Institut mir ihre Telefonnummer gegeben hätte. Ich bin froh, dass du gekommen bist, sagte sie lächelnd. Auch ich bin froh, sagte ich. Und bei wem studierst du? Bei Schefer und Tadmor, sagte ich nochmals und auch, dass ich schon längst meine Dissertation beendet hätte. Hast du Kontakt mit ihnen? fragte sie. Nein, nicht wirklich, sie sind schon vor einigen Jahren gestorben, antwortete ich. Ja, das war eine blöde Frage, sagte Trude in klarem Bewusstsein und ohne jede Verlegenheit, als gebe sie einen akademischen Fehler vor fortgeschrittenen Studenten in einem M.A.-Seminar zu. Aber die Wahrheit ist, dass ich Kontakt mit ihnen habe, fuhr ich fort, versuchend, sie aus einer Verlegenheit zu retten, die gar nicht da war, ich spreche mit ihnen im Kopf fast jeden Tag. Diese Bemerkung erntete keinerlei Reaktion. Ich fühlte mich wie ein Schüler, der versucht, sich beim Lehrer einzuschmeicheln und gegen eine Wand von durchsichtiger Verachtung rennt. Trudes Licht erlosch langsam auf ihrem Thron, wie die Statue der Heiligkeit Sainte Foy de Conques.
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Aber Trude Dotan irrte, so dachte ich jedenfalls. Ich erfuhr, auf eine Weise, die ich nicht beschreiben werde, wer die Totenmaske von ELS gefertigt hatte, und auch – eine Tatsache, die mich völlig überraschte – dass es nicht eine, sondern mehrere davon gab. Eine weitere Totenmaske von ELS befindet sich im Museum des deutschsprachigen Judentums in Tefen in Galiläa. Diese Maske hat dem Museum Frau Hanna Kaplan-Kogan vermacht, die Tochter von Andreas Meier, einer der damaligen Förderer von ELS in Jerusalem. Es stellte sich heraus, dass ELS Meier ihre Totenmaske versprochen hatte, und es wurde beschlossen, dass der Bildhauer Jakob Löb sie anfertigen sollte. Diese Entdeckung bringt mich in Verlegenheit. Wurde die Dokumentation von ELSs Tod schon vorher vorbereitet und dann zu einem Kunstereignis, von dem es mehrere Reproduktionen gibt, wie bei einer neuen Herausgabe eines Gedichtbandes?
Horst Meister, der deutsche Bildhauer, der seine Bronze-Skulptur „Ein Engel für Jerusalem“ zum Andenken an ELS neben dem Kennedy-Memorial aufstellte (die Skulptur wurde nach zehn Jahren gestohlen), besuchte mich in meinem Haus zu Beginn des Sommers. Ich befragte ihn über ELSs Totenmaske. „Ich glaube, dass Trude dir die Wahrheit sagte, denn auch mir berichtete Trude, dass Frau Krakauer es war, die Jakob Löb bestellt habe, die Totenmaske herzustellen“, sagte er. Ich bin nicht überzeugt.
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Horst Meister erzählte mir, wie Roneli, die philippinische Pflegerin, schnell wieder in der Küche verschwand, nachdem sie die Kartonschachtel mit ELSs Totenmaske aus dem Schrank gebracht hatte. Die Philippinen könnten es nicht verstehen, wie man sich so zu einem Toten gesellen könne, auch wenn er nur als alte Gipsmaske in einer Kartonschachtel erscheint.
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In Leipzig entdeckte ich zwei andere Totenmasken. Die erste ist die von Felix Mendelssohn-Bartholdy, die in seinem Haus ausgestellt ist, das zu einem Museum wurde, die zweite von Napoleon Bonaparte, die im Museum neben dem Völkerschlacht-Denkmal ausgestellt ist, dem gigantischen Denkmal, das in einem Außenquartier von Leipzig zum Gedenken an jene Schlacht gebaut wurde, bei der der Kaiser von einer multinationalen Koalition geschlagen worden war.
Wenn man die beiden Totenmasken anschaut, sieht man, wie imposant und machtvoll das Gesicht von Napoleon ist und wie schrumpelig jenes von Mendelsohn. Des Kaisers Größe blieb ihm auch nach seinem Tod erhalten. Sein Gesicht schlüpft sozusagen aus einer Membran heraus, wie ein Fötus. Seine Lippen sind noch offen und atmen durch den Gips hindurch, und unter seinen Augenlidern plant er geniale politische und militärische Manöver. Mendelsohns Schläfen sitzen tief in seinem Schädel. Dort, über seinen Ohren, sitzt seine Genialität, aber seine Lippen haben eine Wendung der Pein, vielleicht Scham, eine Abneigung gegen den Tod, die der bürgerliche Mendelsohn nicht verstecken konnte. Napoleon starb 1821 im Alter von 52 Jahren, sieht aber jünger aus als Mendelsohn, der 26 Jahre später im Alter von 38 Jahren starb.
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Das Ngram-Programm ermöglicht die Suche nach Schlüsselwörtern in Hunderttausenden von Büchern, die von Google gescannt wurden, und zeigt das Ergebnis dann grafisch auf einer Zeitlinie an. Mein Schlüsselwort war: Else Lasker-Schüler. Sprache: deutsch. Die Jahresskala, die ich angab: 1910-2010. Das Ergebnis ist eindeutig: ELS ist nach ihrem Tod noch weitaus lebendiger geworden als davor.
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ELS starb im Hadassa-Krankenhaus auf dem Skopusberg am 22. Januar 1945. An einem winterlich stürmenden Tag. Die angegebene Todesursache war „Angina pectoris“, ein Herzschlag. Sie wurde dorthin etwa eine Woche davor von Freunden und Bekannten gebracht. Ihr Leiden war lange und ihr Tod schwer. Wer rief den Bildhauer Jakob Löb, dass er ihre Totenmaske herstelle, in deren Gesichtszügen Leid, Enttäuschung und auch Bosheit vermischt sind?

Sehr schön! Nebenbei hat Google zu Erinnerung an Else Lasker-Schüler (die im Januar Todes- und im Februar Geburtstag hat) ein Doodle: https://g.co/doodle/k2mem
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