Emanuela Barasch Rubinstein ist Schriftstellerin und Akademikerin. Nachdem sie drei akademische Bücher über den Holocaust publizierte, wandte sie sich der Belletristik zu. „Five Selves“, ein Buch mit Kurzgeschichten, die sie selbst ins Englische übersetzte, erschien 2015 in England und erhielt beste Kritiken. Ihr Buch „Geburt“ erschien 2018. Sie unterhält den Blog „On Ourselves and others“, ist in Jerusalem geboren und lebt in Tel-Aviv.
„Geburt“ (Hakibbutz Hameuchad, 2018) ist ein Roman, der aus Monologen von sechs Personen besteht: Die jungen Eltern des Neugeborenen, der Großvater, die Großmutter und ein junges Paar, das beschließt, keine Kinder auf die Welt zu bringen. Jedes Kapitel beginnt mit einer Frauenstimme und danach folgt die Stimme des Mannes. Der Roman handelt von den Ängsten vor der bevorstehenden Geburt, vom Schmerz, von der Änderung im Selbstbild und von den Schwierigkeiten, die mit der Elternschaft zu tun haben. Besonders betont wird die eingreifende Veränderung im Leben der Großeltern, und der Roman gibt auch, ohne zu verurteilen und sogar mit Sympathie, der jungen Frau, die beschließt, nicht Mutter zu werden, ihren Platz. Die Handlung spielt sich vor allem in Tel-Aviv und auch in Jerusalem ab.
Der folgende Auszug ist der Beginn des Romans, und er ereignet sich nach der Geburt.
Geburt
von Emanuela Rubinstein
Übersetzung: Uri Shani
Nach der Geburt
Als alles vorüber war – nach dem ersten Schrei des Lebens wurde das Baby, das ich umarmte, in den Händen der erfahrenen Hebamme zum Wägen und Messen gebracht, das Blut und das Fruchtwasser gewaschen, der kleine Schnitt zugenäht, der Schweiß von meiner Stirn gewischt – brach ein Stöhnen der Erschöpfung aus mir heraus, fast gegen meinen Willen. Trotz des Tumultes im Gebärzimmer, der Hebammen, die in ein erregtes Gespräch vertieft waren, dem Sanitäter, der immer wieder den Boden aufwusch, dem jungen Arzt, der sich am Telefon mit einem Hauptarzt beriet, kam es mir vor, als wäre es still um mich herum. Niemand fordert von mir, ich solle kräftig atmen, oder meinen Körper bis ins Unerträgliche anstrengen, oder meinen Schmerzschrei ersticken. Man ließ mich in Ruhe, als wäre ich ein antikes Instrument, aus dem mit viel Müh und Not einen alten Ton herausholen konnte und jetzt wird es wieder vorsichtig in die Verpackung gelegt.
Amir ist hinausgegangen, um den Verwandten telefonisch zu berichten, dass das Baby gesund sei. Jetzt höre ich seine erregte Stimme im Korridor, ein wenig gebrochen, er versucht, sachlich zu sein, aber das Zittern in seiner Stimme ist hörbar. Der Säugling wiegt fast drei Kilo; als er geboren wurde, drehte ihn der Arzt mit dem Kopf nach unten, und er begann lauthals zu schreien. Er weiß nicht, wem er gleicht, wahrscheinlich uns beiden, aber seine Haut ist verrunzelt wie ein Greis, vielleicht weil er zwei Wochen länger als erwartet in der Gebärmutter weilte, und zum Schluss auch im Fruchtwasser. Amir beendet hektisch sein Gespräch und ruft jetzt meine Eltern an, und wieder erzählt er die Geburt in allen Einzelheiten, vergisst nichts, als hätte er es auswendig gelernt.
Ich liege schlaff auf dem Bett, mein Körper sauber und bandagiert, ich kann mich nicht bewegen. Ein unsichtbares Schütteln durchfährt mich, ein letztes Zucken von Schmerz. Etwas bewegt sich in meinen Füssen, steigt zur blutenden Wunde hinauf, am Bauch vorbei und hinauf, vereinigt sich mit dem pochenden Herzschlag und behindert ein wenig den Atem, mein Körper wehrt sich gegen die Tortur. Ich drücke meine Augen zu und sage zu mir: Ich bin Mutter, es ist alles vorbei, der Schmerz ist vorbei, nur eine blutende Anspielung davon ist noch da, aber der Schwindel, der mich erfasst, bezeugt, dass ich die Qual nicht einfach wegwischen kann. Das Zimmer ist schon sauber und steril, die blendende Beleuchtung wurde gelöscht, ich bin mit einer angenehmen Decke bedeckt, die Krankenschwester reicht mir ein Glas Wasser, ich höre, dass jemand sagt, man müsse das Zimmer räumen, denn eine neue Geburt soll gleich beginnen. Ich verstehe nicht, wie die gigantische Belastung, die in meinem Bauch immer grösser geworden war, plötzlich gänzlich verschwunden ist, und alles, was ich fühle, ist eine Erinnerung an einen Schmerz, der scharf und vehement war und jetzt nur noch oberflächlich.
Amir kehrt ins Zimmer zurück und blickt mich besorgt an. Er steht neben mir, streichelt mein Haar. „Ruh dich aus, alles ist gut herausgekommen. Der Säugling ist gesund, du bist gesund, alles ist gut.“ Trotz des ruhigen Tones wendet er seinen Blick gespannt auf die großen Lampen, den Berg Tücher neben dem Bett, die auf einem blanken Tablett liegenden Spritzen, er greift nach einer Flasche mit einer rosaroten Flüssigkeit, hebt sie und stellt sie wieder zurück. Sein Haar ist ein bisschen ergraut und verschwitzt, das T-Shirt zerknittert und voller Flecken, er starrt die Wände wie ein Kind an, das mit einer entfernten Tante verweilen muss, er gibt sich Mühe, seinen Drang aufzustehen, zur Tür zu rennen, hinauszueilen, ohne sie zu schließen, zu verstecken, er bleibt sitzen und versucht sogar, so etwas wie ein Gespräch zu führen.
Nach einem Moment streichelt er wieder mein Haar und sagt still, als gäbe er ein Geheimnis preis: „Ich schau mir das Baby an.“ Endlich hat er die Ausrede gefunden, die ihm ermöglicht, sich von mir mit einem Kuss zu verabschieden und zu gehen. Die Blicke, die er zur Tür wirft, sind so eindeutig, dass ich es vorgezogen hätte, hätte er einfach gesagt: „Dafni, ich halte es nicht mehr aus, ich möchte verschwinden.“ Aber er besteht darauf, noch ein wenig zu bleiben, bevor er mit zagendem Schritt hinaustritt, indem er so tut, als brauche er einen guten Grund.
Ein schrecklicher Schrei ertönt im Korridor. Eine Frau schreit: „Ich kann nicht mehr, ich kann nicht mehr!“ Zwei Krankenschwestern stürmen ins Zimmer, bedecken mich und schieben das Bett fort, auf dem ich liege. Hier kommt schon die Nächste, sie hat schon eine sechs-cm-Öffnung, man muss schnell Platz machen, die Geburt steht kurz bevor, ich höre ihr Gespräch, sie bringen mich in ein anderes Zimmer, stellen das Bett neben das Fenster und eilen zur nächsten Gebärenden. In diesem Zimmer herrscht eine undurchdringliche Stille, und schreckliche Schmerzensschreie hört man hier nicht.
Endlich ist die Geburt zu Ende. Ich halte es in diesem Zimmer keine Sekunde länger aus. Die Blutflecken sind zwar weggewischt, als wären sie nie dagewesen, alle diese Flüssigkeiten, die der menschliche Körper von sich gibt, wurden gesäubert, Dafni liegt im Bett und ihre Augen sind friedlich geschlossen, aber ich muss hier raus, durch den Korridor, am Restaurant am Eingang des Krankenhauses vorbei und hinaus. Oh Gott, wie gerne möchte ich ein wenig frische Luft, ich glaube, ich ersticke hier gleich. Die dreckigen Tücher gingen zwar in die Wäsche, und Dafni wurde gewaschen und verbunden, aber ihre schrecklichen Wehschreie blieben im Zimmer, Schreie, die zu einem erdrückten Wimmern zwischen schweren und beängstigenden Atemstößen wurden. Die Hebamme nahm den Säugling, eingewickelt in ein Handtuch, zur Kontrolle, der Arzt verließ das Zimmer, und trotzdem fällt es mir schwer zu glauben, dass dieser unendliche Schmerz jetzt einfach vorüber ist.
Dafni öffnet ihre Augen. Sie fragt sanft, wo der Säugling ist, streicht leicht mir der Hand über meine Hüfte, schaut mich mit einem entfernten Blick an, und für eine Sekunde habe ich das Gefühl, dass ich einen Schweif von Verzweiflung in ihren Augen sehe. „Man wird ihn gleich bringen“, sage ich ihr und denke: Wenn sie jetzt kommen, kann ich nicht gehen. Ich setze mich neben sie. Ihr dunkelrotes Haar sieht fast schwarz aus, vielleicht vom vielen Schweiß. Schweiß auf ihrer Stirn, auf ihren Augenbrauen, sogar ihre Backen sind verschwitzt.
Es fällt mir schwer, jetzt neben ihr zu sitzen. Während der Schwangerschaft schien es mir, dass dabei etwas lustig ist, an diesem Bauch, der sich mehr und mehr aufbläht, der schlanke Körper, der sich wie ein Ballon aufblast. Es war zwar vor allem der Bauch, der immer grösser wurde, aber die Rundung war auch im Gesicht spürbar, das weicher wurde, ihre herrlich schönen Brüste, die sich füllten, die Arme, die nicht mehr jungfräulich aussahen, sogar die Beine erweiterten sich ein bisschen.
Aber jetzt betrachte ich sie, und sie sieht leer aus. Ich versuche, ein belangloses Gespräch mit ihr zu führen, aber die ganze Zeit schaue ich auf ihren Körper, und ich kann nicht anders als zu denken, dass Dafni ausgeleert ist, etwas, das sie ausgefüllt hat, ist weg, und jedes einzelne Teil an ihr bezeugt es. Ihr Gesicht, das rosa-gesund war, ist bläulich bleich. Man kann sehen, wie der Bauch, der sich aufgebläht hatte, um dem Baby Platz zu machen, jetzt zerquetscht ist. Ihre Beine, die noch immer geschwollen sind, liegen reglos auf dem Bett, und in ihren Augen (es fällt mir schwer, sie anzusehen) ist eine Verzweiflung, die ich noch nie gesehen habe. Sie sagt mir, dass ich gehen kann, sie wolle sich ausruhen, aber das dünne Lächeln, mit dem sie das sagt, unterstreicht nur ihr Leiden. Ich möchte zwar so gerne raus, aber meine Hand geht von alleine zu ihrem Kopf und streichelt ihr Haar. „Genug, Dafni, es ist alles vorbei“, sage ich. Ich selber bin erstaunt über diese Worte. Seltsam, über die Geburt des ersten Sohnes, gesund und quicklebendig, als „vorbei“ zu sprechen. Ich spüre, dass die ganze Spannung, die sich in den letzten Wochen vor der Geburt angestaut hat, plötzlich weg ist, aber nicht so, wie es sollte. Ich hatte eine Erleichterung erwartet, ein befreiendes Stöhnen, aber jetzt fehlt mir das angespannte Erwarten vor den Wehen. Plötzlich ist da eine unerwartete Niedergeschlagenheit. Ich glaube, Dafni erwartet, dass ich das Baby in den Händen hielte, dass ich ihn küsse? Aber ich möchte nur raus. Vielleicht draußen, an der frischen Luft, verschwindet dieses Etwas, das sich in mir breit macht, wie wenn das, was aus Dafni entströmt ist, in mir jetzt ist, schwer und erdrückend, verdrängt das grenzenlose Glück, das eigentlich über mich kommen sollte.
Wow!
Hier ist der Link zu Emanuelas Blog (der hauptsaechlich auf Englisch ist):
http://onourselvesandothers.com/