„Mama, steh auf!“ ist im April 2019 erschienen und steht seit Juni und bis jetzt auf der Bestsellerliste von allen israelischen Buchläden.
Der zwölfjährige Juda, der in den Achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts mit seiner Mutter in einer Wohnung lebt, von der man auf den Machane-Jehuda-Markt in Jerusalem sehen kann, dachte immer, dass sein Vater tot sei. Dies hier ist der Anfang des Romans, in dem seine Mutter ihm offenbart: „Dann denkst du jetzt, dass er lebt. Du hast eine halbe Stunde, darüber nachzudenken.“ Nach diesem ersten Kapitel, das wir hier dem Leser und der Leserin zur Verfügung stellen, handelt der Roman von Judas absurden und abenteuerlichen Versuchen, seinen Vater zu treffen. Der Roman ist von seiner zwölfjährigen Sicht und in seiner Sprache geschrieben. Juda liebt. Er liebt seine Mutter und beteiligt sich an all ihren Kämpfen. Er liebt den Offizier Abott, die Markthändler, die französischen Artisten, und natürlich seine Freundin Ronit. Und er hat merkwürdige Obsessionen, auf die er nicht stolz ist.
Der Titel „Mama, steh auf“ ist auf hebräisch zugleich eine Alliteration zu „Talita Kumi“, einem historischen Gebäude in der King-Geoge-Str., einem der Schauplätze im Roman.
Eldad Cohen, Schriftsteller von Romanen und Theaterstücken, ist in Jerusalem aufgewachsen. Sein Stück „Repertoire-Theater“ ist auf Englisch und Rumänisch übersetzt worden und hat Preise erhalten. Eldad Cohen erhielt den Fringe-Preis „Goldigel“ als Stückeschreiber des Jahres 2013.
Eldad Cohen: Mama, steh auf!
Prolog
Wenn in einem Hosenbein ein Riss entsteht, mach ich einen gleichen im andern. Wenn dann der Riss im zweiten Hosenbein größer geworden ist als der im ersten, erweitere ich den Riss im ersten ein bisschen, damit er gleich groß ist wie beim zweiten. Wenn er dann größer geworden ist als der Riss im zweiten, erweitere ich den im zweiten ein bisschen, damit er gleich groß ist wie im ersten. Manchmal geschieht es auf dem Weg in die Schule, wenn ich hinten sitze, denn Mama erlaubt mir nicht, vorne zu sitzen, bis zur Bar-Mitzwah. Wir fahren in die Schule, und während der ganzen Fahrt beschäftige mich mit den Hosenbeinen. Manchmal sind meine Hosen schon ganz zerrissen, wenn wir in der Schule ankommen. In der Schule darf man nicht in der Unterhose herumlaufen. Dieses Gesetz gilt für alle. Sogar der Schulleiter darf das nicht. Deshalb muss meine Mama kehrtmachen, zurück zum Markt fahren, wo wir wohnen, denn in der Umgebung der Schule gibt es keinen Kleiderladen, obschon dieses Viertel so groß ist, dass es einen Kleiderladen haben sollte.
Und so kommt meine Mama schon wieder zu spät in die Schule, und der Schulleiter schreit sie wieder an, denn er ist nicht bereit, dass die Lehrer zu spät kommen. Das Geschreie geht auf mich weiter, wenn wir nach der Schule wieder nach Hause fahren. Ich verstehe sie und bin nicht böse. Ich versuche ihr nur zu erklären, dass es nicht meine Schuld sei. Ich habe das Gleichheitsgesetz der Hosenbeine nicht geschaffen, auch nicht andere Gesetze. Ich weiß nicht, wie diese Gesetze geschaffen wurden. Die Knesset hat sie nicht gemacht, das ist sicher. Ich kenne auch niemanden außer mir, der sich an diese Gesetze hält. Ich mache große Anstrengungen, sie zu annulieren. Ich habe mir sogar schon gedacht, zum Psychiater zu gehen. Das sage ich ihr nicht, denn meine Mama mag Psychiater nicht. Sie hat einen guten Grund. Mein Papa ist Psychiater.
- Kapitel
Mein Papa ist Chefarzt in einem Krankenhaus in der großen Stadt, die Tel-Aviv heißt, die zwar kleiner ist als Jerusalem, aber trotzdem als „die große Stadt“ bekannt ist, und das ist ein grundsätzlicher Fehler, denn Jerusalem ist viel größer und auch Hauptstadt.
Mama hat mir immer gesagt, dass mein Papa Arzt ist. Aber heute sagte sie mir zum ersten Mal auch, dass er lebt.
Jetzt steht sie in seinem Büro im Krankenhaus und spricht mit ihm. Mich hat sie im Korridor gelassen, denn es gibt, Dinge, die der Vater über seinen Sohn wissen sollte, bevor er ihn sieht. Zum Beispiel, dass er einen Sohn hat. So warte ich jetzt also, dass die Tür sich öffne, dann kann ich vielleicht endlich sehen, wer direkt dafür verantwortlich ist, wer ich bin. Mama hat mir immer gesagt, dass er einen großen und fetten Bauch habe, aber ich kann ihn von hier nicht sehen. Auch ihren Bauch kann ich von hier nicht sehen. Und sie hat einen schlanken und hohen Bauch. Sie sitzt ihm bestimmt gegenüber, schaut auf ihn, wie er schon lange nicht mehr betrachtet wurde, mit bohrendem Blick, der keinen Millimeter weicht.
Mama ist Rechenlehrerin, und sie unterrichtet jeden Tag sechs Stunden. Sie ist sehr gut, und der Schulleiter will, dass sie sogar mehr Stunden nähme, aber das ist es halt eben, was er vom Erziehungsministerium erhalten hat. Mama liebt ihre Arbeit und verpasst keinen Tag, aber gestern erhielt sie einen Anruf von der Bank und entschloss sich, ausnahmsweise einen Tag frei zu nehmen. Sie bat den Bankbeamten, menschlich zu sein, rücksichtsvoll zu sein, zu verstehen, dass es außer ihm noch andere Menschen gebe. Sie versuchte, höflich zu bleiben und nicht aufzubrausen, und das machte sie nicht schlecht. Der Beamte dachte lange nach. Am Schluss sagte er, dass er nachdenken werde. Erst als wir losfuhren, erlaubte sich meine Mama zu explodieren, sagte, dass er ein Schwein sei, dass er sich einen Dreck kümmere, dass der Zins, bis er fertig nachgedacht habe, sich blähen würde, bis er aus sich selbst zerplatze und dann gäbe es nichts mehr nachzudenken. „Wir kommen ins Gefängnis“, sagte sie. „Du und ich. Ich hätte auf ihn spucken sollen. Aber er ist es nicht wert. Wir fahren zu deinem Vater. Jetzt. Wir nehmen ein Taxi und fahren zu ihm. Es ist Zeit, dass du deinen Vater kennenlernst. Findest du nicht?“
„Ich dachte, er sei tot.“
„Dann denkst du jetzt, dass er lebt. Du hast eine halbe Stunde, darüber nachzudenken. Vielleicht bitten wir den Taxifahrer, dass er auf dich Rücksicht nimmt und langsam fährt. Aber denkst du, er wird das? Hast du schon mal einen Mann gesehen, der Rücksicht nimmt? Nein. Hast du nicht. Auch dein Vater hat nie Rücksicht genommen. Er hatte nicht mal vor, ins Krankenhaus zu kommen, um dich zu sehen nach deiner Geburt. Er hat keinen Gedanken darüber verloren. Jetzt gehst du also in sein Krankenhaus, und wenn du einen dicken, runden Mann siehst, weißt du, das ist dein Vater.“
Meine Mama ist eine hohe und schöne Frau. Und sie sorgt für unseren Unterhalt. Sie ist auch sehr klug und sieht immer voraus. Aber in Sachen Zeiten versteht sie nicht viel. Zwischen Jerusalem und Tel-Aviv sind es sechzig Kilometer, und dann nehmen wir auch kein Taxi, sondern fahren in unserem kleinen Auto, obschon es langsam fährt und nicht sicher ist, ob er es überhaupt bis Tel-Aviv schafft, und auf dem Weg ist Stau, sodass der Weg zwei Stunden dauert. Aber auch wenn er drei Stunden oder einen ganzen Tag gedauert hätte, bin ich nicht sicher, dass es genug gewesen wäre, um mir vorzustellen, dass mein Papa lebt, nachdem ich mein ganzes Leben lang gewohnt war, dass er tot ist. Ihr kennt mich noch nicht, aber das ist mein hauptsächliches Problem – Gewohnheiten ändern.
Ich wäre froh, wenn ich dieses Problem lösen könnte, bevor ich meinen Papa treffe. Andererseits, vielleicht kann er mir dabei helfen. Er ist ja Arzt. Und zwar nicht einfach irgendein Arzt, sondern ein Psychiater.
Als ich mal meine Mama fragte, wo mein Papa begraben sei, sagte sie, dass seine Grabstätte unbekannt sei. Aber wo er lebt – na, stellt sich heraus, dass sie das sehr gut wusste.
Das Gesprächsthema zwischen meiner Mutter und meinem Vater ist offenbar Geld. Aber ich höre sie nicht von hier, sodass ich annehme, dass das Gespräch höflich verläuft. Das heißt ohne Geschrei. Ich stelle mir vor, dass mein Papa das Gespräch mit Fragen wie wo sie heute wohne, was sie arbeite, und wie sie hierher gekommen sei begonnen hat, und dass Mama bestimmt mit selber Münze geantwortet hat, wie „ich wohne heute, wo ich gestern nicht gewohnt habe, und ich arbeite wo ich auch morgen arbeiten werde“, Antworten, die sie immer gibt Leuten gibt, die ihr sachliche Fragen stellen und eigentlich etwas ganz Anderes meinen.
Mama hat Mühe, höfliche Gespräche zu führen, wenn sie innerlich schreien möchte. Das ist eine Mission, die die volle Hingabe ihres Körpers bedingt, und wer sie kennt, kann das sehen, besonders an den Venen an ihrem Hals, die sich blähen, je länger das Gespräch anhält, bis es aussieht, als würden sie gleich platzen. Ich habe in solchen Momenten immer Mitleid mit ihr.
In der Schule ärgert sie sich öfters, aber sie würde dort nie jemanden anschreien, schon gar nicht einen Schüler. Und auch wenn sie Lust hat, den Schulleiter anzuschreien – und das geschieht recht oft – wartet sie damit, obschon sie ein großes und breites Maul hat, das besonders auf dem Hintergrund der kleinen Nase hervorsticht. Normalerweise erlaubt sie sich nur zu Hause, dieses Maul zu benutzen und Flüche daraus zu befreien, die nur ich und sie hören. Ich lasse sie mich anschreien, weil ich weiß, dass es ihr wichtig ist. Danach werden ihre Venen am Hals weicher, nach all der Höflichkeit, den ganzen lieben Tag lang in der Schule, und sie legt eine Platte von Julio Iglesias auf den Plattenspieler, das ist der Sänger, der sie am meisten beruhigt, dann setzt sie sich auf dem Balkon auf ihren Schaukelstuhl und bittet mich, ich solle ihr einen Kaffee machen, und zündet sich eine Zigarette an.
Nach einer halben Stunde, während derer ich mir meinen Papa in verschiedenen Größen und Formen vorstelle, einmal mit einer kleinen Nase und einmal mit Schlitzaugen und einmal mit einem langen Kinn, und ich denke, ich könne mich schon nicht mehr zurückhalten, da kommt aus dem Büro ein Mann, auf dessen Namenschild auf seinem Hemd „Hauptkrankenschwester“ steht. Ich überlege mir, ob er das Hemd von der Hauptkrankenschwester genommen hat, oder vielleicht ist er selber die Hauptkrankenschwester. Bei anderer Gelegenheit hätte ich die gebührende Zeit dafür freigemacht, um mir diese Frage zu überlegen, aber momentan ist das nicht möglich. Der „Schwester“ lässt die Tür offen und ich versuche, den kleinen Spalt auszunutzen, um meinen Papa zu sehen. Es ist schwierig, von hier sein Gesicht zu sehen. Der Rücken meiner Mama versperrt mir die Sicht. Zwischen ihm und Mama ist ein Tisch und darauf liegen Formulare, die sie ihm gebracht hat, dass er sie anschaue, und nach der Stille zu beurteilen, liest er sie jetzt. Ich warte, dass Mama ihren Rücken ein wenig bewege, oder wenigstens den Kopf, damit ich etwas von meinem Papa sehen könne – wenigstens um zu sehen, ob er tatsächlich so rund und dick ist, wie Mama sagte, aber derweilen sehe ich nur, dass er glatzköpfig ist und muss mich damit begnügen. Ich versuche, mir dieses Bild zu merken. Damit ich es nicht vergesse. Man weiß ja nie, wann ich ihn wieder sehen werde.
Als „Hauptkrankenschwester“ zurückkommt, schickt er mir ein verständnisvolles Lächeln, bevor er wieder ins Büro eintritt. Ich finde ihn ok, vielleicht hat er die Tür absichtlich offengelassen, denn vielleicht denkt er wie ich, dass ich das Recht habe, meinen Papa zu sehen.
Plötzlich zerbricht die Stille in ein Geschrei. Ich bin sicher, dass sie sich Mühe gegeben hat, dass sie wirklich versucht hat, so höflich wie möglich zu sein. Aber das wars jetzt. Sie schafft es nicht mehr, vor ihm zu schmelzen. Alles bricht aus ihr heraus. Sie schafft es nicht mehr, alles in ihrem Bauch zu behalten, was sie empfindet, und es ist ihr egal, ob ihre Venen zerplatzen oder nicht. Sie wirft ihm alle Gedanken an den Kopf, die sich in ihr während all der Jahre, in denen sie ihn nicht gesehen hat, angestaut haben und kombiniert es mit nicht wenigen von den Flüchen, die ich von zu Hause kenne. Dann verlässt sie das Büro mit schletzender Tür und geht. Sie ruft mich nicht einmal. Sie weiß, dass ich hinter ihr kommen werde. Ich gucke ins Büro, sehe meinen Papa vertieft in den Formularen, sein Bauch verbirgt sich hinter dem Tisch, aber man kann sehen, dass er rund und dick ist, wie Mama sagte. Ich sage ihm fast Auf Wiedersehen, aber im letzten Moment verzichte ich darauf und laufe hinter Mama zum Auto her.
Auf dem Rückweg sprechen wir nicht über das, was geschehen war. Auch nicht über irgendwas Anderes. Mama schont ihren Hals, und ich kann das gut verstehen. Die ganze Fahrt von Tel-Aviv nach Jerusalem schweigen wir und auch, als wir schon in die Stadt hineinfahren. Erst neben dem Sacher-Park hält Mama das Auto und fragt mich, ob ich Fußball spielen möchte. Wir gehen viel in den Sacher-Park, um Fußball zu spielen. Meistens, wenn Mama Lust hat, jemanden zu treten. Der Sacher-Park ist in der Nähe unserer Wohnung. Weniger als zehn Minuten. Und man kann hier immer einen Ball finden, den jemand liegengelassen hat, oder jemanden fragen, der schon spielt. Und das ist es genau, was jetzt geschieht. Wir sehen einen Ball in einem Strauch, Mama holt ihn und sagt, wir brauchen nicht zwei Tore, wir beginnen sofort mit Elfmeterschießen. Wir legen zwei Steine hin, Mama macht eine Geste mit der Hand, die besagt, ich solle ins Tor gehen, misst elf Meter mit ihren Schritten, legt den Ball hin und bereitet sich zum Schuss vor. Mama hat sehr starke Schüsse, wie Uri Malmilian von Betar-Jerusalem, den die Verkäufer im Markt mögen und seinen Namen jedes Mal schreien, wenn Betar gewinnt. Sie geht zwei Schritte zurück und schreit: „Bereit?“ Dann schießt sie den Ball mit ihrem starken Bein. Ich versuche schon gar nicht, den Ball zu stoppen, ich lass ihn durch und fliehe zur Seite. Mama lacht, aber ich finde es nicht lustig. Der Ball hat mich fast geköpft. „Nochmal“, sagt sie, nimmt Anlauf, läuft und schießt mit aller Kraft und lacht wieder. Nach fünf Schüssen, die ich nicht stoppen kann und auch nicht versuche, sie zu stoppen, scheint es, dass sie es geschafft hat, alles zu vergessen, was wir heute durchgemacht haben.
„Komm, Juda, wir gehen nach Hause“, sagt sie. „Ich glaube, du hast heute genug trainiert.“
Zu Hause geht Mama in ihr Zimmer und sinkt sofort ins Bett, mit den Kleidern. Ich gehe auf den Balkon hinaus und schaue mir die Menschen an, die hin- und herlaufen. Wir wohnen im zweiten Stock, und man sieht sehr gut diejenigen, die hinlaufen und die die herlaufen. Ich denke, jeder hat auch eine Mama und einen Papa, und bei diesem Gedanken beginne ich zu weinen. Ich schaue mir die Menschen gut an und sehe deutlich auf der einen Schulter von jedem seine Mama und auf der anderen seinen Papa. Neben dem Stand der Gebrüder Ari ist ein höheres Paar als die andern ringsherum. Sie warten geduldig, um Petersilie zu kaufen oder Koriander oder irgend ein anderes grünes Blatt, und beim Warten küssen sie sich sehr schön, und von hier kann man ganz deutlich den Papa und die Mama von jedem von ihnen auf ihren Schultern sehen, und dann auch den Papa und die Mama von ihrem Papa und ihrer Mama, und der Papa und die Mama von Papa und Mama von Papa und Mama auf den Schultern. Ein hoher Turm von Vätern und Müttern, bis in den Himmel.
Ich hoffe, dass dieses Buch bald auf deutsch zu haben ist!
Das hoffen wir auch!