Uri Shani
In den letzten dreißig Jahren hat sich viel im israelischen Büchermarkt verändert. Das Einzige, was sich nicht verändert hat, ist die Zahl der publizierten Bücher: Damals wie heute sind es etwa 5000 Bücher. Aber damals war die hebräischsprechende Bevölkerung wesentlich kleiner, damals gab es noch keine digitalen Medien, damals hatte der Staat Israel eine mäßig bis stark kontrollierte Wirtschaft, damals waren es noch Bücher, heute sind es „Produkte“. In unserer Literatursparte finden Sie Auszüge aus der neueren israelischen Literatur, aus Büchern, die alle in diesen letzten dreißig Jahren geschrieben wurden. Einige davon erzählen Geschichten aus dem heutigen Israel, andere aus einer anderen Zeit, vorher, aber sie werden aus der heutigen Sicht beschrieben. Gemäß dem Bericht, der von der Kulturministerin rund um den Streit um das Büchergesetz (siehe unten) eingereicht wurde, kamen in den Jahren 2010-2014 jedes Jahr etwa 5000 neue Bücher heraus, davon etwa 800 hebräische Prosabücher und etwa 1200 übersetzte Prosabücher. In dieser Zeit gab es in der Welt etwa neun Millionen Menschen, die hebräisch sprechen. (Im Vergleich: etwa 75000 Bücher auf deutsch mit einer weltweiten deutschsprachigen Bevölkerung von etwa 185 Millionen.)
Ein Jahr nach Amos Oz‘ Tod. Zu diesem Anlass habe ich mit Chaim Pessach gesprochen. Pessach ist verantwortlich für die große Veränderung, die sich in den Achtziger Jahren in der hebräischen Belletristik ereignet hat. Er war Verlagslektor der wichtigsten Verlage: Am Oved, Zmora-Bitan, Keter, außerdem von Babel, Pen, Matar, Yediot und weiteren. Er ist in Tel-Aviv geboren und lebt in Tel-Aviv.
U: Schalom, Chaim!
Ch: Schalom!
U: Ich möchte mit einer sehr großen Frage beginnen: Was ist ein gutes Buch?
Ch: Oh, darauf war ich nicht vorbereitet. Äh… niemand hat mich das jemals gefragt, während all der Jahre, in denen ich Hunderte von Büchern lektoriert habe. Ich glaube, ein gutes Buch gibt dir Wissen. Wenn es ein Sachbuch ist, gibt es dir Wissen über den Computer, das Auto usw. In der Belletristik lernst du etwas über den Menschen. Denn ich kenne kein Buch, also Belletristik, in dem es keine Menschen oder zumindest menschenähnliche Figuren gibt. In dieser Hinsicht sind wir immer noch in der romantischen Epoche. In einem guten Buch, wir reden jetzt über Belletristik, lernst du etwas dazu, über den Menschen.
U: Was hat sich im israelischen Büchermarkt in den letzten dreißig Jahren verändert?
Ch: Ich kann dir von meiner reichen Erfahrung in den letzten fünfunddreißig Jahren erzählen. Ich wohnte und studierte damals in England, und da hat mich Benjamin Tammus hergerufen, zunächst schrieb ich für „Haaretz“, und dann wurde ich der Verlagslektor von „Am Oved“. Ich muss dir das nicht alles erzählen, steht ja alles auf Wikipedia… Und das ist gut, dass Du mich das fragst, denn ich habe das wirklich miterlebt. Ok, das ist ein wenig lang. Ich werde es unterteilen. Beginnen wir mit dem Stil. Damals, Ende Achtziger Jahre, öffneten die Leser ein Buch, und wenn es in einer reichen, gehobenen Sprache geschrieben war, haben sie es gekauft. Denn du liest nicht nur das Buch, du lernst auch Hebräisch. Egal, was drin steht. Das ist weniger wichtig. So war das. Das kam von den Russen, die hier die hebräische Literatur begonnen haben. Das war so, weil das neue Hebräisch noch nicht genug etabliert war. Man war sich der Sprache noch nicht sicher. Man musste sich um sie kümmern. Sie pflegen. Sie hinkte, und die Leute sagten: ‚Vorsicht, sie fällt.‘ Und dann kam die Wende, an der ich ein bisschen Teil hatte. Nein, nicht ein bisschen, sondern maßgebend. Mit solchen, die begonnen haben, in der gesprochenen Sprache zu schreiben. Damals publizierte ich Etgar Keret, Orli Kastel-Blum und andere.
U: Das heißt, diese Wende kam von einem Gefühl der Sicherheit.
Ch: Ja, ich glaube, davor hatten die Leute Angst. Aber jetzt war hier schon eine Generation von Normalen, die wollten etwas in ihrer Sprache lesen.
U: Also eine Normalisierung, ein Wort, das in politischem Zusammenhang eine ganz andere Bedeutung hat.
Ch: Wir sind ein abnormales Volk mit einer abnormalen Sprache. Das, wovon ich hier spreche, geschah in Italien im 14. Jahrhundert. [lacht] Mit Dante, und Petrarca. Und bei uns am Ende der Achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts. Wir hatten Agnon, und Schlonski, und niemand schrieb in der gesprochenen Sprache. – Und die Reaktion war sehr aggressiv. Wirklich aggressiv! Die Leute hielten mich auf der Straße an und riefen mir „Orli Kastel-Klum“ zu [Klum = nichts]! Ich kann dir auch sagen, wer! Sie wurde in den Schmutz gezogen. Und heute gehört sie zum Kanon. Und Etgar Keret ist in der Welt berühmter als hier. In einem der Kongresse, zu dem ich eingeladen wurde, nahm ich einen Text von Agnon und einen Text von Etgar Keret und sagte: ‚Jetzt versucht mal, den Text von Agnon in der Sprache von Keret zu lesen, und den Text von Keret in der Sprache von Agnon.‘ Und das geht nicht, denn der Inhalt ist mit der Sprache verbunden.
U: Und das bringt uns zum anderen Aspekt: Was geschah mit dem Inhalt der Literatur in den letzten dreißig Jahren?
Ch: Auch der Inhalt änderte sich. Es wurde über den Alltag geschrieben.
Der Schriftsteller als Moralapostel
U: Heißt das, dass die Schriftsteller von der politischen Bühne abgetreten sind?
Ch: Das ist eine sehr gute Frage. Die Schriftsteller dachten, dass sie – das ist etwas, das sie noch von Russland hatten – es hat ja alles bei uns in Russland begonnen, das ist vielleicht nicht gut, ja gut, so war das. Und der Schriftsteller ist nicht nur Schriftsteller, er ist ein Führer, ein Lehrer, „Zofe leBet Israel“, ein Moralapostel. Das war auch in Frankreich so, Emil Zola usw. Und das war auch in der Generation von Amos Oz so, den habe ich ja auch lektoriert, aber das ist vorbei. Peres hat Amos Oz zu politischen Beratungen berufen, wer wird heute zu politischen Beratungen eingeladen, Etgar Keret? Das ist vorbei. Das hat nichts mit rechts und links zu tun. Diese Rolle, diesen Stellenwert in der Gesellschaft, den hat der Schriftsteller heute nicht mehr. Und das hat natürlich einen ungeheuren Einfluss auf den Markt, auf den Bücherpreis. Als ich bei Zmora-Bitan war, da war der alte Zmora, Israel Zmora, noch da. Der hatte zu Beginn einen kleinen Verlag, der pleite ging. Warum? Weil er eben das herausgab, was er liebte. Er liebte gute Literatur. Aber er hatte auch ein paar Erfolge. Er publizierte damals, da lebten hier vielleicht sechshundert Tausend, die hebräisch sprachen, einen Gedichtband von Altermann und verkaufte vierzehn Tausend Exemplare. Stell dir das mal vor! Wenn heute ein Dichter tausend Exemplare verkaufen kann, ist das schon ein Schlager, und damals war die Bevölkerung, die hebräisch sprach, fünfzehn mal kleiner. Auch meine Eltern, die hatten das zu Hause, die lasen das nicht, aber das muss zu Hause sein! Nicht nur Altermann, auch andere, Amos Oz, der war wahrscheinlich der letzte mit so einem Stellenwert.
U: Wir sprechen nachher noch ein bisschen über Amos Oz, denn der Jahrestag seines Todes ist ja eigentlich der Grund für dieses Gespräch. – Du wolltest etwas zum Büchermarkt sagen.
Ch: Es ist kein Geheimnis mehr, dass jeder Verleger, nicht nur die kleinen, auch die sogenannt öffentlichen, die großen, sich vom Schriftsteller bezahlen lässt. Zwischen zwanzig bis zu achtzig Tausend Schekel. Und dazu kommt, dass danach nichts mit dem Buch geschieht. Und ich kann dir genau sagen, was in jedem Stadium geschieht. Soll ich weitermachen?
U: Ja, ja.
Ch: Du weißt, wenn ich mal beginne, dann kann ich dir sehr viel darüber erzählen. Und es gibt solche, die sind wirklich begabt. Aber ich erhielt tausend Manuskripte pro Jahr. Was soll ich da machen? Ich kann nicht tausend Bücher pro Jahr lesen. Und so habe ich mir eine Technik angeeignet, wie ein Schuhmacher, der sieht am Leder schon, ob es was wird… Und so kann ich heute einen einzelnen Absatz lesen und dir sagen, ob der begabt ist oder nicht.
U: Aber vielleicht hast du gerade einen nicht so gelungenen Absatz gelesen, der das Buch nicht repräsentiert?
Ch: Nein. – Nein. – Ich nehme in Kauf, dass der erste Absatz nicht gelungen sein kann, dann lese ich einen aus der Mitte. Das ist wie bei einer Blutprobe, du musst nicht das ganze Blut abzapfen, um zu wissen, was in dem Blut ist. Was auch interessant für dich sein könnte: Zu meiner Zeit war dieser Beruf ein Männerberuf. Heute – nur Frauen. Jedes Jahr wirft die Akademie ein paar Dutzend Literaturdoktoren auf den Markt, und das sind zumeist Frauen. Und was sollen die machen? Einige unterrichten, aber auch da gibt es nicht allzu viel Platz. Auch die meisten Leser sind Leserinnen. Die Verlage haben das untersucht. Der durchschnittliche Leser ist eine Frau im mittleren Alter, mit einem Schulabschluss, aus der Umgebung Tel-Aviv, und aschkenasisch. Kinder und Jugendliche lesen gar nicht. Aber was die Verlage verpassen, das sind die Pensionäre. Es gibt viel ageism in Israel, viele denken, die Alten, die haben nicht mehr alle Tassen im Schrank. Aber das stimmt nicht. Und die lesen. Viel.
Amos Oz, der Häuptling des weißen Stammes
U: Ein paar Worte bitte zu Amos Oz. Vor einem Jahr ist er gestorben. Woher stammt sein besonderer Stellenwert?
Ch: Er ist ein ausgezeichneter Schriftsteller. Ich lernte ihn in Oxford kennen, bevor ich meine Karriere begann, von der wir zu Beginn gesprochen haben. Und er repräsentierte ganz genau das, was heute „die alte Elite“ genannt wird. Als er starb, schrieb Beni Zipper: ‚Der Häuptling des weißen Stammes ist gestorben‘. Was natürlich Blödsinn ist. Was heißt schon weiß? Wir haben gar keine Weißen hier. Wir sind doch alle irgendwie durchmischt. Amos Oz war ein bisschen links, wenn du willst, aber nicht radikal. Aber er repräsentierte wirklich am besten die alte Mapai. Er war der Kompass, der Leuchtturm…
U: Und jetzt ist der Leuchtturm erloschen, niemand lenkt mehr die Schiffe…
Ich habe auch mit Orna Akad gesprochen. Sie ist die Autorin von „Wadi Milech“, das ich ins Deutsche übersetzt habe. Ich habe sie auch über Amos Oz gefragt. Als Regisseurin bearbeitete sie einen seiner Romane zu einem Theaterstück, und er hat eine warme Empfehlung für „Wadi Milech“ geschrieben.
O: Amos Oz hatte eine ausgesprochen seltene Begabung, sowohl im Bereich der Sprache wie im Bereich der Handlung. Er hatte ein unendliches Wissen, über die hebräische Sprache, über Brenner, und Agnon, und er hat natürlich einen guten marketing-Mann und gute Übersetzung, aber alles beginnt damit, dass er gut ist. Außerdem war er ein begnadeter Redner; als er jünger war, war er auch ausgesprochen schön, ein bisschen kleingewachsen, aber schön. Ich als seine Studentin war fasziniert von seinen Worten, seinem Blick.
Ich sprach mit ihr auch über den heutigen Büchermarkt in Israel und über das „Büchergesetz“, das 2014 in Kraft trat. Das Gesetz bestimmte, dass der Preis eines Buches in den ersten achtzehn Monaten nicht geändert werden darf und bestimmte auch Tantiemen für die Schriftsteller. Innerhalb kürzester Zeit wurde das Gesetz schrittweise ausgehöhlt, bis nicht mehr viel bis gar nichts mehr von ihm übrigblieb.
O: Was ist ein Esel? Das ist ein Kamel, der den Gang durch die Kommissionen gemacht hat. Zuerst kürzt man ihm die Höcker weg, dann den Hals usw. Das ist, was mit diesem Gesetz geschehen ist. Das ist schade, denn es ist ein gutes Gesetz.
Wir werden hier auf Re:Levant auf jeden Fall weiterhin Auszüge aus den Prosabüchern der letzten Jahre, ins Deutsche übersetzt, publizieren. Da gibt es lustiges und trauriges, erfundenes und biographisches, mit Figuren aus dem heutigen Israel und aus dem, das es schon lange nicht mehr gibt. Schauen Sie rein und, wenn Sie wollen, können Sie da oder dort einen Kommentar hinterlassen. Unsere Autoren freuen sich auf jede Reaktion!
Sehr interessant! Man kann natuerlich noch viel mehr erwaehnen, wie den Markt fuer Uebersetzungem hebr. Literatur, israelische Schriftsteller, die nicht in Israel leben, aber auf Hebraeisch schreiben und Sonderangebote, vor allen in der „Buchwoche“, wo Buecher zu Dumpingpreise verkauft werden („4 fuer 100“, also 4 Buecher fuer umgerechnet 25 Euro)…
[…] Von Uri Shani Erschienen bei: Re:Levant, 03.01.2020 […]
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