Interview mit Joëlle Weil, Journalistin aus Zürich, die seit 6 Jahren in Israel lebt.
„Jetzt ist meine Geduld zu Ende…“
…sagt Joëlle Weil, steht von ihrem Platz im Café Robina (benannt nach der legendären israelischen Theaterschauspielerin Chana Robina) auf, geht zu dem Auto, das seit fünf Minuten hupt, weil es auf dem Weg zum Parkplatz des Volkstheaters Israels, „HaBima“, im Stau steht, und klopft ans Fenster. Verdutzt rollt der Autofahrer das Fenster herunter. „Was denken Sie sich eigentlich?!?“ sagt Joëlle (auf Hebräisch), laut genug, dass alle, die im Café Robina draussen sitzen, es hören können. „Denken Sie, dass das Auto vor Ihnen auch nur ein Millimeter im Stau vorwärts kommt, wenn Sie hupen? Sehen Sie nicht, dass der Stau sich nicht bewegt? Und warum muss die ganze Strasse unter IHRER Frustration leiden?“
Ohne auf die Antwort zu warten geht Joëlle ins Café zurück, wo sie mit Applaus und sympathischen Blicken von den Gästen empfangen wird. Eine Szene, die in Joëlles Heimat Zürich undenkbar gewesen wäre. „Ich glaube, ich habe mich hier gut eingelebt“, sagt sie, während sie an ihrem Weinglas sippt, das sie dort zurückgelassen hat.
Joëlle Weil wurde in Zürich geboren, wo sie an der renommierten MAZ-Journalismusschule studierte und vor allem für das Verlagshaus Ringier AG gearbeitet hat.
Dann wollte sie für ein paar Wochen etwas Tapetenwechsel in Israel haben. Die paar Wochen waren vor sechs Jahren.
Re:Levant: Joëlle, gibt es nach sechs Jahren hier einen Lieblingsplatz in Israel?
Joëlle: In der Tat, und wir sitzen davor. Ich meine natürlich die „HaBima“, mit ihrer wunderschönen Architektur, den großen Plaza davor, wo im Garten klassische Musik läuft, und den vielen Cafés rundherum. Der Platz selbst erinnert mich an Europa. Man sieht von hier auf den bekannten Rothschild-Boulevard und auf die für Tel Aviv typische Bauhausarchitektur. Hier kommt alles zusammen.
Überhaupt bin ich für ein Café willens kilometerweit zu gehen, und wenn ich von einem neu eröffneten Café höre, mache ich mich, meist zusammen mit meinen Hunden und Laptop, auf dem Weg.
Aber noch hat HaBima keine Konkurrenz bekommen.
Re:Levant: Joelle, welche Erfahrung in Israel war für dich einschneidend?
Joelle: Grundsätzlich würde ich sagen, dass jeder Tag eine neue, meist dramatische Entscheidung bringt. Denn in Israel ist nicht nur das Tempo anders als in Europa, sondern vor allem die Dramatik – beispielsweise geht es bei jeder Wahl um essentielle Fragen des Lebens, nicht um Kleinigkeiten, und das ist ganz anders als beispielsweise in der Schweiz.
Besonders geprägt hat mich natürlich der Gaza-Krieg 2014. Hautnah mitzuerleben, wie Politik stündlich über Menschenleben entscheidet, war mir eine neue Erfahrung. Auch in einem Raketenbunker war ich zuvor nie. Im Alltag und vor allem in Tel Aviv vergisst man den Konflikt leichtsinnig. Das wurde mir 2014 bewusst.
Re:Levant: Was fasziniert dich an Israel?
Joelle: Es ist die Vielschichtigkeit: Alleine die jüdische Mehrheit kommt aus allen Herren Länder und den verschiedensten Kulturen und Kontinenten. Ähnliches kam man über die arabische Minderheit sagen, wo es Druzen, Beduinen, Christen und Muslime unterschiedlicher Ausrichtungen gibt, von den schiitischen Ahmadim in Haifa bis zu Anhänger der vier sunnitischen Schulen, und bis zu Gruppierungen, wie die Bahai, In jeder dieser Gruppen gibt es auch große Unterschiede und dennoch fühlen sich alle am selben Ort daheim.
All dies hat unglaublich viel Konfliktpotential, aber ist auch Inspiration für die Geschichten, die jeden Tag, jede Stunde das Leben schreibt.
Re:Levant: Ein Schlusswort, bitte!
Joelle: Es gibt, wenn es um Israel geht, kein Schlusswort. Hier ist alles ständig in Bewegung, in Entwicklung, manchmal auch im Rückschritt… Wer für Israel ein Schlusswort sprechen kann, hat diesen Ort noch nicht verstanden.
Habe mich sehr mit der Eingangsszene identifiziert! Ich mach das öfters. Manchmal habe ich schon mein Fahrrad auf die Strasse geschmissen, wenn jemand hinter mir gehupt hat und bin zum Fahrer gegangen. Der Fahrer ist übrigens nicht selten eine Fahrerin.