Kindheit, Roman, Familie, Israel

Wörter und Schweigen

Lilli ist ein Mädchen, das im Schatten von verstrittenen Eltern lebt. Während ihrer mühseligen beginnenden Pubertät sucht sie die Liebe, sich selbst und ihre Stimme, die – wie es ihr scheint – manchmal verstummt. Die Erfahrungen ihrer Kindheit begleiten sie gegen ihren Willen.

Ihr Erstlingsbuch „Wörter und Schweigen“ (Niv, 2020) schrieb Efrat Gal aufgrund einer kurzen Geschichte, die sie für die Aufnahme in einen Schriftstellerworkshop geschrieben hatte. Efrat Gal ist Dramatherapeutin und Paar- und Familientherapeutin.

Wenn jemand in der hebräischen Umgangssprache eine Frau oder ein Mädchen „Prinzessin“ (auf Hebräisch) nennt, ist das ein Kosewort, eine Liebesbekundung, ein Kompliment, aber wenn es „Prinssessa“ ausgesprochen wird, ist damit meistens etwas Schlechtes gemeint: eine verwöhnte, heikle, anspruchsvolle Göre. Ein „Fränke“ war in den ersten Jahren nach der Staatsgründung eine abfällige Bezeichnung eines Juden aus einem Land, in das die Juden nach der Vertreibung aus Spanien geflüchtet waren, wozu vor allem die Mittelmeerländer, aber auch Bulgarien gehörten. Die bulgarischen Juden waren keine Aschkenasen, sondern Sepharden.

Lilli ist ein Mädchen, das im Schatten von verstrittenen Eltern lebt. Kostprobe aus dem Roman von Efrat Gal

Prinzessin

Von Efrat Gal

Übersetzung: Uri Shani

Lilis Blick verfolgte hinauf und hinunter das Seil, das sich hinauf- und wieder hinunterschlängelte und dann mit einem dumpfen Schlag auf dem Asphalt aufschlug. Hinauf und hinunter. Das Gelächter der Kinder und das Brummen der miteinander vermischten Wörter erzeugte einen fröhlichen Gesang. Einen leichten, anstrengungslosen Gesang.

„Wenn ich mir Mühe gebe, schaffe ich es vielleicht“, dachte sie. Sie erkannte eine der Mädchen, die in der Klasse der Lehrerin Tamar war. Die anderen Kinder kannte sie nicht, sie sahen wie eine zusammengehörige Gruppe aus. „Jetzt bin ich schon in der dritten Klasse. Ich kann aufhören, mich zu schämen. Vielleicht kann ich auch zur Gruppe gehören.“ Sie zog das gelbe Sportshemd hinunter, noch weiter hinunter, bis es wie ein Kleid aussah, das ihre kurzen Hosen bedeckte, die mit einem Gummiband endeten und sich an ihre Oberschenkel schmiegten. Sie stand von der Gruppe entfernt und träumte. Ihre Augen genossen, was sie sahen, und ihre Ohren bewahrten die Stimmen. Sie bildete sich ein, schon dort zu sein, als
Teil der Gruppe zu lachen und mit den Händen zu klatschen. Es schien fast… aber sie blieb, wo sie stand. Die Stimme eines anderen Mädchens weckte sie von ihren Träumen.

„He, Mädchen, willst du herkommen?“ Ja, sie wollte, aber sie schwieg.

„Ich hab dich gestern gesehen“, fuhr das Mädchen fort. „Du hast mit deinen Zöpfen gespielt.“

Sie wollte antworten, aber etwas versperrte ihr den Mund. Die Worte stiegen hinauf, von ihrem Bauch bis in die Kehle, kitzelten dort, hielten dann inne, und verschwanden plötzlich. Sie schämte sich darüber, lief die Treppen hinauf, keuchend, öffnete die Tür und rief:

„Mama!“

Papa stand da im Wohnungseingang, neben dem runden Tisch. Seine schwarze Tasche lag auf dem Tisch, und seine Polizeiuniform, die er schon abgestreift hatte, liegt auf dem roten Sofa. Sie hatte gar nicht gesehen, dass er nach Hause gekommen war. Er hatte sich schon neu angekleidet, seine langen Strümpfe umfassten seine Knöchel und stiegen aus den polierten Schuhen bis zu den Knien. Er starrte sie mit eindringlichem Blick an, ihr Bauch schnürte sich zu einem Klumpen zusammen, aber sie streckte ihren Hals und erwiderte den Blick. Wie zwei Ringkämpfer, so bewegten sie sich in der Wohnung, prüften die Schwachstellen des anderen, der anderen.

„Wie viele Male habe ich dir gesagt, du sollst zu dieser Stunde nicht draußen herumlungern.“

Sie schwieg.

„Antworte, wenn ich dich etwas frage!“

Sie schwieg.

„Prinssessa!“

Das schreckliche Wort stand in der Luft. Sie verstand es nicht, aber sie empfand die Beleidigung, die damit gemeint war.

„Lass doch das Mädchen“, hörte sie die Stimme ihrer Mutter aus dem Zimmer, und gleich darauf erschien ihre kleine Schwester, Gali, hüpfend, direkt in Papas Arme, und dieser hebte sie hinauf in die Luft. Lilli ging in ihr Zimmer und schloss die Tür, aber die Stimmen, die von der anderen Seite der Tür kamen, konnte sie nicht abwehren.

„Deine Tochter hat von dir gelernt, ungehörig zu sein, sie macht jetzt schon, was sie will.“

„Diese Tochter hat einen Namen.“

Lilli hielt Ausguck aus ihrem Zimmer. Papa hatte Gali auf den Boden gestellt, und diese war wieder in ihr Zimmer gehüpft.

„Was gibt’s heute zu essen?“

Niemand antwortete. Von ihrer Spähposition hinter der Tür sah Lilli, wie er sich an den Tisch setzte, seine große, schwarze Tasche öffnete, ein großes Buch, Hefte, einen Maßstab, einen Bleistift und einen Spitzer hinausholte. Der Bleistift schien ihr gespitzt, aber er steckte ihn in der Spitzer, drehte ihn wieder und wieder, blies in das Loch des Spitzers, um ihn zu reinigen, und begann dann, die kleinen Vierecke im Heft mit Zahlen zu füllen. Er schrieb sie langsam und genau. Jede Zahl passte auf vollkommene Weise in ihr Viereck. Wie machte er das?

Manchmal, am Schabbat, kam sein Freund Meir, um mit ihm zu lernen, und dann veränderte sich bei ihm etwas. Er wurde normaler. Sprach… so wie man mit Freunden sprach. Ohne Spannung, und dann wurden die Zahlen in den Vierecken auch festlich. Meir erzählte Papa über seine Frau und seine Kinder. Manchmal wollte sie Meirs Tochter sein. Er war bestimmt ein guter Vater, erzählte seinen Kindern eine Geschichte vor dem Einschlafen. Aber wenn sie nicht Meirs Tochter sein konnte, konnte sie sich wenigstens so wie in einem anderen Haus benehmen. In den Häusern, wo man ohne Angst sprechen konnte, wie zum Beispiel bei Nawa, der Nachbarin. Dort roch man zwar gleich den Geruch von Rizinusöl, wenn man in die Wohnung kam. Nawa musste jeden Tag einen Löffel von diesem schrecklichen Öl schlucken, und trotzdem, obschon das Haus stank, wurde viel gelacht in diesem Haus. Die Eltern sprachen miteinander während den Mahlzeiten. Man sprach und umarmte sich. Es schien, als liebten sie sogar ihren Gestank, dieser Gedanke brachte sie zum Lächeln… sie genossen tatsächlich ihren Gestank….

Die Stimme ihres Vaters holte sie aus ihren Gedanken zurück.

„Morgen kommen Ssimcha und ihre Tochter Miri zu Besuch für ein paar Tage.“

Mama antwortete nicht, vielleicht hatte sie ihn nicht gehört, aber Lilli wusste, dass Mama Ssimcha nicht ausstehen konnte.

„Hast du nichts dazu zu sagen? Du musst nichts tun, ich werde ein paar Tage frei nehmen und mit ihnen sein.“

Es war still.

„Versuch wenigstens, nett zu sein.“

„Sag mal“, hörte sie jetzt Mamas Stimme aus dem anderen Zimmer, „glaubst du nicht, du müsstest dich mit mir absprechen, bevor du Gäste einlädst?“

„Und glaubst du nicht, du solltest manchmal etwas Warmes auf den Tisch bringen? Muss ich immer müde von der Arbeit kommen, und nichts erwartet mich?“

„Deine Schwester soll dir deine bulgarischen Gerichte kochen, du Fränke!“

Er würde ihnen bestimmt das Theater des guten Vaters vorspielen, dachte Lilli bei sich und ging still aus dem Zimmer. Sie schlich sich wieder hinunter im Treppenhaus, hielt sich am verrosteten Geländer fest. Das Geländer zerbröckelte langsam, aber man konnte sich trotzdem an ihm festhalten, sodass sie nicht hinunterstürzte. Bei der dritten Wende nahm sie das runde merkwürdige Fenster wahr, in diesem merkwürdigen Treppenhaus. Sie blickte auf das Stadtteil, in dem Neues und Altes wahllos beieinander lag. Vielstöckige Wohnhäuser neben kleinen mit roten Dächern. Sie liebte, die kleinen mit den roten Dächern zu betrachten, die in ihren Augen wie eine Postkarte aussahen. Sie betrachtete den Himmel, wo die Wolken ihre Form veränderten und Figuren bildeten, die ihre Münder öffneten und schlossen. Sie mochte es, menschliche Figuren in ihnen zu suchen. Es gab verärgerte, und es gab solche, die genussvoll im Himmel schwebten, aber plötzlich mit den roten Dächern zusammenstießen. Was geschah bei einem solchen Zusammenstoß zwischen einer Wolke und dem Dach? Sie betrachtete den Himmel ganz genau und sah eine kleine, schüchterne und erschrak, denn es schien ihr, dass eine große Wolke die kleine aufaß, aber schon entschlüpfte die kleine und entfernte sich.

Sie glättete ihre Zöpfe und ging hinunter. Draußen hörte sie wieder die Stimmen. Vielleicht wird sie es diesmal schaffen und die Worte würden aus ihr herauskommen. Sie sah das nette Mädchen, das sie vorhin angesprochen hatte, aber sie war schon mit anderen Kindern beschäftigt und spielte mit ihnen.

Lilli ist ein Mädchen, das im Schatten von verstrittenen Eltern lebt. Kostprobe aus dem Roman von Efrat Gal

Uri Shani ist in der Schweiz geboren und lebt seit 35 Jahren in Israel. Er ist professioneller Übersetzer für Literatur aus dem Hebräischen ins Deutsche. Sein "Übersetzer-Credo" könnt ihr im Link nachlesen:

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Benjamin
Benjamin
3 Jahre

Sehr schoen geschrieben! Frage an die Autorin: vom Abschnitt bekomme ich den Eindruck, dass er in einer Stadt spielt. Ich habe aber gelesen, dass die Autorin in einem Kibbutz aufgewachsen ist. Warum diese Aenderung?

Benjamin
Benjamin
3 Jahre
Antworten  Uri Shani

In diesem Fall gehe ich davon aus, weil er in einem Schreib-Workshop entstand…

אפרת גל
3 Jahre
Antworten  Benjamin

תודה לך, על השאלה הנכונה. אכן גדלתי בעיר ,רק בתקופה מאוחרת יותר עברתי לקיבוץ.

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