Alon Misrachi (geboren 1973), Werbetexter und Publizist, schreibt Artikel in „Ssicha mekomit“ („lokales Gespräch“), eine der wichtigsten Alternativmedien der letzten Jahre. Im Jahr 2020 erschien sein Buch „Freiheit. Manifest“ (Lokus-Verlag).
„Ich komme vom Landeszentrum und von der Peripherie. Von hoher Bildung und von der Straße. Der klassische Typ vom dazwischen, wenn ihr wollt. Ich verachte Zugehörigkeit und Definitionen, und ich musste die Freiheit lieben und ihr mein Leben, das nicht immer frei war, widmen. Ich beschloss niederzuschreiben, was ich über die Freiheit weiß, und das ist alles natürlich durch und durch politisch, und auch ganz persönlich, und eigentlich völlig emotional. Es gibt nichts Erhabeneres als das Emotionale.
Ich bin 47 Jahre alt, in einer Beziehung mit meiner Partnerin Schulamit, und mit ihr habe ich ein Baby.
Das folgende Kapitel ist das letzte im Buch.“
Wir sind zu Gast
von Alon Misrachi
Übersetzung: Uri Shani
Der Mensch kann viele Weltanschauungen wählen und ändern, in seinem Leben, aber es scheint, dass es zwei gibt, die so grundlegend sind, dass die Spannungen zwischen diesen beiden fatal ist, und wenn wir den Unterschied zwischen diesen beiden herausstreichen, kann das zu einem Katalysator zu einer echten Genesung von einigen Krankheiten führen, an der unsere Welt leidet.
Diese beiden Weltanschauungen sind die des Hausherrn und die des Gastes.
Der Hausherr ist der, dem die Dinge gehören. Er denkt nur an den Besitz. Er ist der Herr, der Patriarch, der Manager, der von einer Dynastie von Herrschern und Auserwählten abstammt, den Mächtigen, dem Reichen, dessen Worte befolgt werden.
Der Hausherr bestimmt das Schicksal der Menschen, die in seiner Umgebung leben und keine Hausherren sind. Als Gleichwertige achtet er nur andere Hausherren, deren Herrenhaus ähnlich groß wie seines ist oder größer.
Wegen der Verwirrung, in die ihn sein eingebildeter Besitz über seine Immobilien zieht, wird der Hausherr in seinen eigenen Augen auch Herr über die Zeit: Er ist aus der Geschichte heraus geboren, die in gerader Linie zu ihm führte, und er ist auch Herr über die Zukunft; er hat das Recht zu beschließen, wie die Zeit und Raum seiner Generation und der Generationen der Zukunft aussehen sollen.
Besitz des Raumes und der Zeit führt (ganz natürlich) zum Besitz des menschlichen Körpers, also zum Besitz der Körper, deren Zeit und deren Träume, von denjenigen, die nicht wie er Hausherren sind.
Zum Schluss wird der Hausherr ein kleiner Gott, der durch das Schicksal dazu bestimmt ist, über alles zu verfügen und die schwere Verantwortung über das Schicksal Anderer zu tragen.
Der Hausherr ist das Abbild der alten feudalen Welten: Seine Vorfahren waren Gräfe, Rittergutsbesitzer, Könige und Prinzen; ihr Geld und ihr Stand waren eins, und wie sie, auch ohne Adelstitel, möchte der Hausherr sich als a priori rechthabend sehen, und er pflegt sein Eigenbild mit Hilfe von Legenden, die er mit großer Einbildungskraft erfindet und mit Hilfe derer, die glauben, durch Dienstleistung und Anbiederung auch Hausherren werden zu können.
Hausherren sehen in sich selbst den Inbegriff der Gerechtigkeit und der Moral, und ein Angriff auf sie ist immer eine Verletzung von heiligen Prinzipien und nicht von Menschen wie jeder andere.
Aus diesem Selbstverständnis als Inbegriff des Rechtes und der Moral und seinem natürlichen und moralischen Besitz des Raumes, des Körpers und der Zeit, glaubt der Hausherr von kleinlicher Rücksichtnahme auf das Leben Anderer befreit zu sein. Er wird alle immer daran erinnern, wenn er mal einem Mittellosen mit etwas Kleinem geholfen hat, aber er denkt nie an seine Ausnützung und Rechthaberei, sodass die Mittellosen niemals sicher sein können und niemals eine Stimme haben.
Deshalb konzentrieren sich die Güter der Welt immer mehr in den Händen von einer immer kleiner werdenden Zahl von Hausherren, die die Ordnung und das Schicksal der Anderen bestimmen, auf ganz persönlicher wie auf allgemeiner Ebene (die Zerstörung der Erde und ihrer Ressourcen, oder die Verschiebung des internationalen Kapitals in die Hände von wenigen Familien, sodass nichts mehr übrige bleiben wird, um das Leben zu verbessern).
Der Hausherr ist sowohl Archetyp wie ein tatsächlicher Mensch: Er ist derjenige, den wir sein oder fürchten sollen, bis zur eigenen Verleugnung.
Herr sein, Herrscher sein, Macht haben, über andere; andere daran hindern, an Gewinn, Ehre, Genuss und Macht teilzuhaben; mehr haben als andere, und wenn du genug „mehr“ hast, dich darum bemühen, den anderen auszubeuten, aus intuitivem Verständnis, dass du nur so wachsen, dich verbreiten und anreichern kannst.
Nicht anhalten und über die Konsequenzen nachdenken, oder über die Moral. Denn die Moral – das bist du.
Der Archetyp des Hausherrn lebt in uns, in allen Kulturen und überall, wirft seinen Schatten auf die große Mehrheit, und wirkt wie ein Zauber auf Wenige, die jeden Weg suchen, um zur oberen Klasse aufzusteigen.
Die Kriege waren immer schon Kriege zwischen Herren, während sie die Vollmacht, die ihnen gegeben wurde, benutzten, um das Schicksal von Raum, Zeit und Körper zu bestimmen, unzählige Leben zu beenden und weiter als Herren zu gedeihen.
Wir können nicht und wollen nicht gegen einen Herr im Namen eines anderen kämpfen. Im Namen eines anderen Patriarchen oder Patron. Wir wollen, müssen, für uns kämpfen.
Und für uns kämpfen heißt eine andere Weltanschauung annehmen und sie als erwünscht verbreiten, gegensätzlich zu derjenigen des Hausherren, und das ist die Weltanschauung des Gastes.
Was ist ein Gast? Was charakterisiert ihn?
Sagen wir es einfach: Überall wo der Hausherr vertikal ist, ist der Gast horizontal.
Der Hausherr schaut hinauf und hinunter. Der Gast schaut auf die Seite.
Der Hausherr will anhäufen, mit Hilfe von Unterdrückung und Ausbeutung; der Gast will teilen, aus Freundschaft und Gemeinsamkeit.
Der Hausherr will etwas in Bezug auf die anderen; der Gast will, weil er es will, in diesem Moment, oder diesem Jahr, oder diesem Jahrzehnt.
Der Hausherr will Besitz, er will eine Fahne stecken, eine Brandmarke einbrennen, und er will, dass nur jene mit ihm weitergehen, die seine genetische-politische-moralische Linie weiterführen; der Gast will erleben und den Ort ein bisschen angenehmer hinterlassen, als er ihn erhalten hat, denn nach ihm kommen andere Gäste.
Der Gast weiß, dass er ein Wanderer ist, und dass seine Sichtweise eine des Erlebens und nicht der Zugehörigkeit ist, eine widerhallende und nicht eine herrschende, und deshalb ist er offen für alle Menschen. Der Hausherr ist immer auf der Hut: Wer kommt da, um seine Gerechtigkeit, seine natürliche Moral zu verletzen und ihm seine Güter wegzunehmen?
Der Gast weiß, dass er sich angleichen muss; er passt sich an die Umwelt an und versucht, Teil von ihr zu werden; der Hausherr verwendet und deformiert seine Umwelt zu seinem Zweck, das heißt, um seine politische Geschichte und die Machtverhältnisse, die seinen übertriebenen Reichtum speisen, zu unterstützen.
Während der Gast sich mischen, kennenlernen, lernen, lieben will, will der Hausherr sich abgrenzen, eingrenzen, Abstumpfung und Dummheit pflegen und Hörigkeit fördern.
Der Gast sieht sich als Teil seiner Umwelt und der Landschaft, der menschlichen wie der natürlichen; der Hausherr sieht sich als Schloss oder Burg, die die richtige Ordnung beschützt, eine Ordnung, die es mit List und Gewalt aufzuzwingen gilt, wenns sein muss. (Und wann muss es schon nicht sein?)
Der Gast ist nicht mit Anhäufung und Eigentum beschäftigt, und da seine Zeitauffassung eine ehrliche ist, ist er nicht mit dem Land verwurzelt und ist überall zu Hause; aus seiner Liebe zur Erfahrung und zur Bewegung will er die Mauern und Begrenzungen in der Welt verringern (und der Hausherr genau das Gegenteil).
Der Gast ist neugierig und bescheiden; der Hausherr ist besserwisserisch und herrscherlich.
Unsere Kultur, die bis in die Wurzeln ihrer Existenz eine patriarchalische, religiöse und republikanische ist, fast überall auf der Welt, hat uns gelehrt, den Gast zu verachten und die Figur des Hausherrn anzuhimmeln, zu ihm zu streben, obschon wir nicht in diese kleine und geschlossene Gruppe hinein können, und allerhöchstens gibt man uns einen mickrigen Abschmack von Herrschaft, mit der Erlaubnis zu hassen und anderen gegenüber überheblich zu sein, auch wenn, was wir erhalten, nur eine Parodie von der Herrschaft ist.
Um für die Menschheit einen anderen Weg zur Zukunft zu bahnen, um uns aus diesem törichten Krieg zwischen Herren, für den jene mit ihrem Leben, ihrem Platz und ihrer Zukunft bezahlen, die nie Hausherren sein werden, zu retten, müssen wir einen anderen Archetyp pflegen, eine leichten, anziehenden und klügeren, als die primitiven, die uns immer noch anhaften.
Menschen, Frauen wie Männer, die in dieser Welt mit einem verinnerlichten Bewusstsein von Gästen leben, solche, die ihre Mitmenschen respektieren und Herrschaft und Überheblichkeit, Eigentum und Gewalt, ablehnen, solche, die in ihrer Umwelt aufgehen und sie nicht beherrschen und für ihre Zwecke ausbeuten wollen.
Menschen, Frauen wie Männer, die ihr Leben aus dem Verständnis heraus leben, dass ihre Existenz endlich ist, und dass deshalb ein Festhalten an Symbolen von Stand und Eigentum entsetzlich absurd ist, solche die erleben und kennenlernen, sich anfreunden, überall frei sein wollen – das ist die Zukunft, zu der wir streben können, das ist der heilende, der regenerierende Archetyp, der die zerstörerischen Modelle der patriarchalischen, hierarchischen und ausbeuterischen Vergangenheit abwechseln kann und muss.
Die Ideen sind nicht neu (Marx kfar amarnu?), aber klar und versraendlich geschrieben, und mit aktuellen Bezug! Auch die Uebersetzung von Uri Shani finde ich sehr gelungen…