„Ich schreibe, seit ich sechs Jahre alt bin, die ganze Zeit. Alles, was ich in meinem Leben erlebt habe, hat sich mir eingeprägt und ist ein Teil von mir geworden. Ich bin an die Erde gebunden, seit meiner Kindheit, und wurde in einem abgelegenen Dorf einige Jahre nach der Gründung des Staates in einer Familie geboren, die aus Argentinien gekommen war. Es ist mir wichtig, über Frauen zu schreiben, über ihre Bewältigung von Schiwerigkeiten. So ist Leil geboren, die nicht ich ist, aber all das in sich vereinigt, was ich erlebt habe.“
Der Name Leil wird wie die Wörter steil, Seil, Pfeil, ausgesprochen. Leil bedeutet Nacht.
Leil
von Aliza Galkin-Smith
Übersetzung: Uri Shani
Am Anfang schuf
Am Anfang wanden sich Schani und Ofel ineinander wie Schlangen und versanken im Strudel, und purpurfarbene Tropfen entstanden und fielen hinunter in die Tiefe. In ihrer Mitte war ein schwarzer Punkt, eine namenlose Blase, mit Krümeln von Lichtstrahlen, die sich in ihr fingen. Das bin ich, bevor ich ich wurde, losgelöst und schwebend, getragen von den Wellen. Und dann war Stille. Eine schreckliche und bedrohliche Stille. Und nach unendlicher Zeit waren Stimmen von Menschen und Tieren im Hintergrund zu hören, und darüber breitete sich Todesangst aus.
So wurde ich geboren und in die Welt geworfen, in einen brodelnden Kessel von Sorgen und Ängsten.
Ich wurde in einer Baracke auf dem Gipfel eines hohen Berges geboren, nicht weit von der Wiege Jesu Christi, im Winter, in der Nacht. Kein Stern war am Himmel, und keine Könige kamen in dieser Nacht in unsere Baracke. Ein Tisch, ein eisernes „Ssochnut“-Bett, und zwei Klappstühle standen bang da, zusammen mit einem verrußten Herd, auf einer Kiste in der Ecke. Als die Wehen begannen, verzerrte sich das Gesicht meiner Mutter vor Schmerz. „Oh Gott, wann kommt endlich der Morgen?“ stöhnte sie. Eine Freundin, die zur Not als Hebamme amtierte, stand ratlos dabei, wrang sich die Hände und murmelte unverständliche Worte. Wilde namenlose Tiere jaulten in der Nähe des Fensters.
„Ich muss ins Krankenhaus“, hauchte Mutter. „Ich will heim.“
„Du weisst, dass es jetzt unmöglich ist, ins Krankenhaus zu gelangen, das ist zu weit. Es ist gefährlicher, in diesen Stunden mit der Karre zu fahren, als hier zu gebären“, streichelte die Freundin ihre Stirn. „Es wird alles gut werden, du wirst sehen.“
Mutter schrie nicht. Sie stöhnte, biss sich in die Hand, und Tränen flossen auf ihre Wangen. Sie begann, in einer anderen Sprache zu weinen, der MutterVatersprache. Vater lief draußen herum, und sein Hauch bildete kurvenreiche Wege, in der Hin-und-Her-Route, in der er ging. Er fühlte sich überflüssig.
Mutter presste, quetschte mich hinaus. Ihre Gebärmutter spie mich aus, ich wurde entnabelt und schwamm auf den Wellen. Ich kam hinaus in die kalte Luft der Welt und schrie und schlug um mich: „Ich will nicht. Ich will nicht hier sein. Ich will zurück in die Gebärmutter. Ich will nicht sein.“ Niemand fragte mich nach meinem Willen, niemand hörte mir zu, niemand verstand. Eine Glocke, die mit ihrer hohlen Stimme viermal schlug, verkündete meine Ankunft in dieser Welt, und die Melodie der Worte, die ich hörte, trieb mich dazu, weit weg von der Realität des Nichts und der Leere zu wandern: Krippe, Könige, Kirche, Krypta. Oh, kleine Kinder, die auf den Besuch der drei Könige und das Geklingel der Glocken warten.
Je leiser und bruchstückiger die Stimmen der Hebamme, das Weinen meiner Mutter, das Frohlocken meines Vaters und das Jaulen der Hyänen im Hintergrund wurde, desto stärker schrie ich. Ich wollte die schreckliche Stille des Universums um mich herum zum Verstummen bringen. Meine Eltern, meine Erzeuger und Schöpfer, umzingelten mich, mein Weinen erschreckte sie, und die Hebamme sagte zufrieden: „Ein Nachtkind, das ist es.“
Und sie nannten mich Leil.
Drei ganze Monate lang bekämpfte ich die Welt. Ich weinte, schrie, weigerte mich zu essen, weigerte mich zu schlafen. Eines Nachts, als es ganz still wurde, lag ich gespannt auf dem Rücken in der Kiste in der Ecke der Küche, unter mir das weiße Laken, schräg über mir ein schmaler Spalt, durch den ich die Sterne und den Mond sah. Alle schliefen. Wenn ich jetzt einschlüfe, wer würde über mich wachen? Meine Augenlider wurden schwer. Ich hob mein rechtes Bein, sodass ich es sehen konnte, und entdeckte zu meinem Schreck, dass eine meiner Zehen zu kurz war. Mein Bauch tat weh, mir war schwindlig. Ich beriet mich mit meiner großen Zehe: „Ich bin defekt. Ich gehöre nicht in diese Welt. Ich habe Angst. Es fällt mir schwer. Nur du verstehst mich. Sie verstehen mich nicht. Ich versuchte, mich verständlich zu machen. ‚Was für ein Schreihals‘, sagen sie nur.“
Plötzlich hörte ich die Stimme meiner Mutter. „Was wird nur mit dir sein?“ flüsterte sie in der MutterVatersprache und beschwerte sich nicht wie sonst. „Sie isst nicht genug, verliert Gewicht. Deshalb ist sie unruhig und weint.“
„Schläfts du?“ fuhr sie fort, als Vater nicht antwortete.
„Nein“, sagte er, und danach: „Ich hab dir doch gesagt, dass das nicht der richtige Moment ist, um Kinder auf die Welt zu bringen.“
„Wenn sie beginnt, genügend zu essen, wird alles in Ordnung sein.“
„Vielleicht hast du nicht genug Milch.“
Es war still.
„Versuche morge, zu Milchpulver zu kommen, vielleicht hilft das.“
„Gut. Ich weiß, dass es schwierig hier ist. Wir brauchen Geduld. Würdest du lieber wieder dorthin zurück gehen?“
Ich hielt den Atem an. Ich durfte die Antwort nicht verpassen.
„Natürlich nicht. Das geht jetzt nicht. Es gibt kein zurück. Ich bleibe mit dir“, sagte sie, und ihre Stimme klang nicht überzeugt.
„Es wird alles gut werden“, beruhigte er sie. „Sie wird wachsen, dieser Ort hier wird sich entwickeln, alles wird in Ordnung gehen.“
Er schaffte es immer, sie zu beruhigen. Ich lauschte nach draußen. Die Stimmen der Füchse und Hyänen verstummten hinter dem kahlen Berg, den niemand nachts zu durchqueren wagte. Mutters Ängste hingen in der Luft. Ich atmete sie und sie keimten in mir. Ich schlief erschöpft ein. Mit dem ersten Licht der Dämmerung wachte ich auf und entschloss mich zu essen. Ich schmiegte mich an meine Mutter, saugte und lutschte mit lautem Schmatzen. Schau nur, Mama, ich esse, wie du wolltest. Auch wenn du nicht genug Milch hast. Alles wird gut werden, flüsterte ich ihr zu, du wirst sehen. Aber sie verstand nicht.
Am Abend kam Vater müde, hungrig und mager nach Hause. „Wir müssen Milch finden, Milchpulver, irgendwas“, weinte Mutter. „Ich muss das Baby ernähren. Sie verhungert. Schau doch nur, wie sie aussieht, nur Haut und Knochen. Ich habe nicht genug Milch, verstehst du?“
Vater schwieg. Ich verstand. Ich war hungrig. Die ganze Zeit.
Mutter geriet außer sich. „Warum antwortest du nicht? Ich kann nicht mehr hier leben, in diesem Ödland. Keine Freunde, kein Essen, keine Bäume, keine Kultur, nichts gibt es hier. Nur immer Forderungen an uns. Wir sind Sklaven, und von wem? Wofür? Es gibt Milchpulver, ich weiß es, sie haben es für die Kälber gekauft. Können wir nicht ein bisschen davon haben? Ich fürchte mich hier. Alles ist schrecklich hier.“
Vater schwieg immer noch. Es gibt keinen Ausweg, es gibt keinen Ausweg. Ich weinte in mich hinein.
Er schob einen kleinen Trichter in die Öffnung der Lampe und goss Petroleum hinein. Gluck-gluck, gluck-gluck, schluckte der dicke, gläserne Behälter das Petroleum, und ich streichelte in meiner Einbildung die Wölbungen des Behälters. Der dicke, schwarze Geruch kitzelte in meiner Nase, und ich versuchte, das Husten zu unterdrücken, das aus mir hinausbrechen wollte. Sie schluckt Petroleum, die gute Lampe, die die Ängste der Dunkelheit verscheucht, wie ich, die Mutters Milch schluckt.
Vater drehte eine kleine Schraube, und der Docht fuhr nach oben, gewoben wie ein weißes Festkleid, dessen Saum angebrannt ist. Er schnitt vorsichtig die schwarze Spitze ab, drehte die Schraube zurück, und der Docht verschwand im metallenen Schlitz. Er pumpte und entzündete mit einem Streuchholz den mit Petroleum aufgesogenen Docht, danach bedeckte er ihn mit der Glasglocke, deren Form die einer Ballettänzerin mit langem Hals und aufgeblähtem Rock war. Ich blickte auf das Glas, das sich langsam mit Rußflecken bedeckte und mir auf den Wänden und der Decke ein zitterndes Schattentheater vorspielte. Ich döste und aß abwechselnd. Ein bisschen. Ich war noch hungrig, als man mich zum Schlafen hinlegte. Ich betrachtete das tanzende Licht der Lampe auf dem einzigen Fenster der Baracke, ballte meine Hände zu Fäusten und öffnete sie, hob einen Arm in die Luft und zeichnete den Lichttanz nach.
Meine Eltern gähnten, gingen ins Bett und löschten die Lampe.
Die Dunkelheit legte sich auf die Welt, und ich war wach. Ich bewachte das Weltall, damit dieses mich, meine Eltern und unsere Baracke beschütze. Ich roch das verbrannte Petroleum, weinte nicht, denn das Weinen hätte die Stille bedeckt und mich gestört, darauf zu achten, was draußen geschah. Von weitem jaulten die Füchse und die Hyänen, und die Mutigen unter ihnen näherten sich unserer Baracke, ohne zu wissen, dass sie keine Chance hatten, etwas Essbares zu finden. Ich hörte die Schritte der Wachmänner, die vor unserer Baracke hin und her gingen, bis sie sich entfernten, und ich begann, mir selber Geschichten zu erzählen. Auch meine Geschichte als Säugling.
Mutter erhitzte Wasser auf dem Herd und rührte Pulver hinein. Ich schnupperte. Ein süßer und gelber Geruch. Ein Geruch von Säuglingen. „Bist du verrückt?“ Vater war wütend. Er kam früher als normal nach Hause. „Das ist Diebstahl! Du kannst nicht einfach das Milchpulver der Kälber nehmen und damit Leil ernähren, das gehört allen.“
„Stimmt. Und es wäre Mord, wenn sie verhungern würde. Und wer wäre daran schuld?“
Vater schwieg. Er schwieg immer, wenn sie in diesem Ton sprach. Er ging wieder hinaus.
Ich wuchs. Man nahm mich aus der Kiste und legte mich auf ein Stück altes Tuch, das sie auf die festgepresste Erde legten, die der Boden der Baracke war. Die Erdkrümel drückten sich in mein Fleisch und bildeten rosarote Mulden. Ich kroch in der Baracke herum und fand Schätze, winzig kleine Pflänzchen, die in den Ecken sprossen, und Insekten, die langsam herumliefen. Ich streckte meine Hand aus und hob kleine Kieselsteinchen vor mein Gesicht. Jedes Kieselsteinchen und sein Ausdruck. Sie waren meine ersten Freunde.
Sehr schoen!
Frage an die Autorin: wie symbolisch sind die Namen? Es faengt mit Ofel (=Dunkelheit) an, und im naechsten Satz wird schon von einem Schwarzen Loch gesprochen. Im Gegensatz dazu Shani (Biblisch: Farbe rot, Waerme, Zuneigung).
Und natuerlich Leil – ich assoziere damit nicht nur (eine) Nacht, sondern 1001 Naechte. Und auch „Laila & Madschnun“, eine arabische Romeo & Julia Geschichte aus dem 12. Jahrhundert.
Aber vielleicht interpretiere ich da zuviel hinein…
A propos Namen – Smith (Nachname der Autorin) ist ja nicht sehr israelisch, und auch nicht argentinisch.mm
Antwort der Autorin: „Was ist ein israelischer Name??? Wir kommen doch aus allen Ecken der Welt. Die Familie Galkin ist zu Beginn des 20. Jh. nach Argentinien eingewandert, und Smith ist der Name meines Ehemannes. Zu Leil: Tja, stimmt. Auch im Arabischen bedeutet „Leil“ Nacht. Uebrigens: Leila ist das uebliche Wort im Hebraeischen, Leil ist literarischer. Keinerlei Bezug zu 1001 Nacht.“
Liebe Frau Galkin,
ich schreibe ohne die Fähigkeit eine Rezession verfassen zu können. Das überlasse ich den Geübten/Fachleuten.
Ein kleiner Funke begann heller und heller zu werden, bis schließlich ein hilfloses Menschlein das Licht der Welt erblickte, in eine Welt, die eben erst genau wie das Menschlein, geboren wurde. Die Geburtswehen für Mutter, Kind und Land waren von Angst, Sorgen und Problemen gekennzeichnet.
Die kleine Leil, Protagonistin, beschreibt ihr Werden, Wachsen und Ankunft in eine ihr bedrohliche Welt. Die Autorun gibt LEIL eine emotionsstarke und einfühlsame…….ja sogar eine wissende Stimme, die mich stark berührt und erstaunt. Der Wunsch wächst in mir, die kleine LEIL auf ihrem Lebensweg zu begleiten.
Liebe Autorin, bestimmt ein spannendes Buch, geschrieben in einer blumenreichen und nur dir eigenen Sprache, die auch das kleinste Detail zum Leben erweckt, eine Sprache, die man nicht nur lesen, sondern auch riechen, schmecken und fühlen kann.
Monika Bublitz