Yaron Avitov wurde in Haifa geboren und ist Schriftsteller, Dichter, Filmregisseur, Literaturkritiker und Reiseführer. Er publizierte 12 Bücher auf Hebräisch und 11 auf Spanisch. Außerdem gibt es Übersetzungen in andere Sprachen. Er erhielt sieben Literaturpreise, unter anderem den Premierministerpreis für Literatur (2005) und den Preis für „Botschafter hebräischer Literatur in Lateinamerika“ (2012).
Die Geschichte „Das Radio“ erschien 2021 auf Hebräisch und Spanisch.
„Ud Mutzal“ (länger: ud mutzal me’esch) ist ein Ausdruck, dessen Ursprung aus Zacharias 3,2 kommt, etwas im letzten Augenblick aus dem Feuer Geretteten. Der Ausdruck wird im Neuhebräischen vielfach für die Überlebenden des Holocaust gebraucht, oder, weniger häufig, für wertvolle Gegenstände, die den Holocaust „überlebt“ haben.
Die Sendung „Wir suchen die Angehörigen“ („Hamador leChipuss Krowim“) wird seit 1945 (mit einer Unterbrechung von 2002 bis 2007) im israelischen Radio gesendet. In dieser Sendung geben Personen Angaben über ihre verschwundenen Angehörigen an, in der Hoffnung, dass jemand etwas über sie weiß.
Das Radio
von Yaron Avitov
Übersetzung: Uri Shani
Ich war sechs Jahre alt, und mehr als alles andere hatte ich mir vorgenommen, das Geheimnis des kleinen Mannes, der im Inneren des Radios sitzt, zu lüften. Ich wartete nur auf eine Gelegenheit, mein Unternehmen anzupacken.
Meine Mutter war es, die mir als erste über den kleinen Mann im alten Radio erzählte, und sie sagte es flüsternd und mit einem geheimnisvollen Ton, als handele es sich um eine vertrauliche Information, die ich niemandem erzählen durfte. Es war ein viereckiges Radio aus braun-rotem Mahagoni-Holz, das mehr wie ein Museumsstück als wie ein Radio aussah. Es sah nicht nur uralt aus, sondern roch auch so, mit einem scharfen Geruch von Gewürznelken, aber es wurde gehütet und gepflegt wie ein seltenes Stück Porzellan, und das Holz hatte keine einzige Ritze und keinen Kratzer.
Die Vorderseite des Radios war mit feinen und gewundenen Holzschnitzereien geschmückt, deren Farbe wie Kükenflaum war, und sie sahen in meinen Augen wie musikalische Noten aus, die ein Künstler geschnitzt hatte. Auf seinem Anzeigefenster hüpften die Zahlen von weit entfernten Stationen, die ich nicht entschlüsseln konnte. Darunter waren fünf Knöpfe angebracht, die meine Neugierde erweckten. Ich verstand die Bedienung von zweien von ihnen, an- und ausstellen, und die Bestimmung der Lautstärke. Die anderen Knöpfe wagte ich nicht zu berühren. Sie sahen für mich wie die Rettungsringe der Boote im Hafen aus.
Mutters Geschichten über den kleinen Mann und seinen Wunderkasten versüßten mir ein wenig die Tage und die Nächte meiner Kindheit, die auch nach all den Jahren als ziemlich trüb in meiner Erinnerung geblieben ist.
Eine düstere Stimmung umhüllte das Haus meiner Kindheit, und es vermischten sich darin wie eine Rußwolke die endlosen Streitereien meiner Eltern, die immer schärfer wurden, mit dem Schweigen über das geheimnisvolle Schicksal der Familienmitglieder von Großmutter, während des Krieges.
Das Radio hatte Mutter als Erbstück von meiner Großmutter erhalten, die als junge Frau aus Europa mit einem besonderen Zertifikat der „Jugendalijah“ entflohen war, ein Zertifikat, das sie erhalten hatte, kurz bevor sich mit Ausbruch des Krieges die Tore zum Ausgang schlossen. Als meine Großmutter ihre beiden Koffer packte, gab ihr ihre Mutter das Radio und sagte: „Man wird uns sowieso alles wegnehmen, nimm also das Radio, als Maskottchen, dann kannst du dich auch in Palästina an die Gerüche und die Stimmen erinnern.“
Meine Großmutter erreichte Palästina im letzten Augenblick, auf einem Schiff, das noch älter war als das alte Radio und fast im Mittelmeer versank. Der griechische Kapitän bat Poseidon um Hilfe, und Großmutter, die sich sehr fürchtete, besann sich des Radios, zog es aus dem Koffer, und drückte es an ihr Herz, so wie sie in ihrer Kindheit ihre Puppe an ihr Herz gedrückt hatte, und betete still.
Das Schiff ankerte schließlich im Hafen von Haifa. Inzwischen war in Europa der Krieg ausgebrochen, und besorgt hörte Großmutter im Radio die Nachrichten über die Eroberungen der Wehrmacht, die die Tore ihrer Heimatstadt erreichten. Manchmal schien es ihr, als hörte sie im Radio die erschreckten Stimmen ihrer Familie, die von den Nazis verschleppt wurden und die sie nicht retten konnte.
Das Radio wurde für Großmutter zu einem „Ud Mutzal“, einer letzten Erinnerung, die ihr von ihrer Familie geblieben war, und im Laufe der Jahre auch zu einer Quelle des Trostes, auch als sie über den Vormarsch der Truppen hörte, die ihre Heimatstadt befreiten, und dann, als sie sich die Sendung „Wir suchen die Angehörigen“ anhörte.
Manchmal beschnupperte Großmutter das alte Radio, so wie Mama ihre Handgelenke beschnupperte, nachdem sie sie mit Parfüm bespritzt hatte. „In diesem Holz sind die Gerüche meines Vaters und meiner Mutter begraben“, sagte sie mit zitternder Stimme.
Nicht nur Großmutter lebte mit diesem Radio. Auch Mama wuchs mit ihm auf, und es war für sie gleichwertig wie die Wunderlampe von Aladin. Als sie mit mir schwanger war, war Großmutter schon sehr krank. Sie rief sie zu sich ans Bett und beschwor sie: „Bewahre das Radio, so wie du dein Baby bewahrst. Das ist alles, was von einer ganzen Familie geblieben ist, das Radio.“
Das Radio stand auf einer Theke im Wohnzimmer. Am Anfang fürchtete ich mich ein wenig vor ihm, denn es sah eine wie grosse und schwere Truhe aus, in der ein schreckliches Geheimnis über viele verstorbene Menschen meiner Familie versteckt war. Es sah so groß aus, dass ich gar nicht verstand, wie Großmutter es geschafft hatte, es den ganzen Weg auf dem Schiff und alleine mitgeschleppt hatte.
Mama erlaubte mir nicht, das Radio zu berühren. Sie behauptete, wenn ich es berühre, könne es runterfallen, oder etwas anderes Schreckliches könne geschehen. Nicht einmal Papa durfte es berühren, und ich glaube, die Scheidung war eine Erleichterung für sie, und er besuchte uns nicht mehr.
Als Mama das erste Fernsehen kaufte, mit dem Geld, das sie von Papa nach der Scheidung erhalten hatte, fand sie keinen Platz, wo sie ihn hinstellen konnte, und das Radio wurde in mein Zimmer gestellt, wie König, der seine Krone verloren hatte. Mama stellte es auf den großen Schrank mit den Sommerkleidern und sagte: „Da ist es sicherer.“
Ich freute mich, aber Mama war ein bisschen traurig, dass sie im Wohnzimmer keinen Platz mehr für das Radio gefunden hatte. „Hauptsache, es blieb im Haus“, sagte sie mit einem Ton der Entschuldigung.
Sie beschwor mich, es zu hüten, so wie sie es behütet hatte, und so wie ihre Mutter vor ihr es behütet hatte. „Das ist alles, was von einer ganzen Familie geblieben ist“, wiederholte sie, was ihr ihre Mutter gesagt hatte.
Eines Tages fragte ich sie neugierig, wie das Radio funktioniere. Mama erklärte mir, dass auf der anderen Seite ein kleiner Mann wohne, und dieser betätige ihn und mache alles. Er sei der Nachrichtensprecher und der Sportreporter, der Sänger und der Plattenspieler.
„Hast du ihn einmal gesehen? Hast du mit ihm gesprochen?“, fragte ich Mama.
„Nein“, antwortete sie.
„Wie weißt du das denn?“
„Das hat mir Oma erzählt, als ich klein war, und ich glaubte ihr, ich glaube ihr alles, was sie sagte.“
Ich war damals, wie gesagt, sechs Jahre alt, und auch ich glaubte alles, was Mama mir erzählte. Der kleine Mann im Radio war so klein, so winzig, dass er sich im Radio verstecken konnte, das sein Haus war.
„Aber ich möchte ihn kennenlernen! Mit ihm sprechen!“
„Uri, wage es nicht!“ Für einen Moment füllte sich Mamas Gesicht mit so vielen Falten, dass ich ihre Augen fast gar nicht sehen konnte. Mamas Falten sahen wie das Knäuel der Kabel im Radio aus. „Er will mit niemandem sprechen. Er hat es gut so, und wenn du ihn erschreckst, wird er fliehen, und dann gibt es niemand mehr, der das Radio betätigt und die Nachrichten liest. Das Radio kann kaputtgehen, mach also nur keine Dummheiten, verstehst du?!!“
Aber ich war schrecklich neugierig und wollte den kleinen Mann im Radio kennenlernen, so wie sich Aladin in seiner Wunderhöhle versteckt, und ich konnte mich nicht zurückhalten. Er war bestimmt schon sehr alt, der kleine Mann im Radio. Mama hatte mir erzählt, dass Oma gestorben sei, und ihre ganze Familie sei schon gestorben, aber der kleine Mann im Radio lebte immer noch, und er konnte mir bestimmt Vieles erzählen über meine Familie, die in der Shoa umgekommen ist. Ich verstand das Wort Shoa nicht, bestimmt etwas sehr Schlimmes, wenn alle dort gestorben sind, aber Mama wollte nicht darüber sprechen, und sagte immer wieder: „Frag den kleinen Mann im Radio.“
Ich verstand Mama nicht. Wie konnte sie mir einerseits verbieten, mit dem kleinen Mann zu sprechen, aber andererseits schickte sie mich zu ihn, wenn ich wissen wolle, was in dieser Shoa geschehen war.
Und deswegen musste ich das Radio umdrehen, um ihn zu finden!
Ich wartete, bis Mama sich für ihren festgesetzten Mittagsschlaf hinlegte und die Tür hinter sich schloss. Ganz leise stieg ich auf den Stuhl, ich stützte meine Ellbogen auf den Schrank und versuchte, ins Radio hineinzuschauen.
Das Radio stand ohne Zwischenraum an der Wand, und ich konnte die hintere Seite des Radios nicht sehen. Es war auch sehr schwer, und ich konnte es nicht von der Stelle bewegen. Ich konnte nur eine kleine Lampe sehen, und ich dachte, dass dies vielleicht die Leselampe des kleinen Mannes sei.
„Kleiner Mann! Kleiner Mann!“, begann ich zu rufen, in der Hoffnung, dass er mich höre, aber da las er gerade die Nachrichten und hatte offenbar keine Zeit für mich.
Ich wartete auf das Ende der Nachrichten. Ich stellte das Radio ab, damit der kleine Mann mich hören konnte, wenn ich rief, aber er schwieg immer noch.
Ich strengte mich an, das Radio von der Wand wegzuschieben, ohne Lärm zu machen. Das nahm sehr viel Zeit in Anspruch, denn das Radio war schwerer als der Felsen, der den Eingang von Aladins Höhle versperrte. Hinten war das Radio mit einer Platte mit kleinen Löchern verschlossen. Ich wusste nicht, wozu die Löcher waren. Ich guckte hinein und sah nur Lautsprecher und lauter verwickelte Kabel, aber keinen kleinen Mann. Vielleicht war er so winzig, dass man ihn gar nicht sehen konnte, sagte ich bei mir. Und vielleicht hatte ich ihn erschreckt, und er versteckte sich hinter den Lautsprechern und unter den Kabeln.
Ich beschloss, den kleinen Mann zu finden, auch wenn ich dafür das Radio auseinandernehmen musste. Zuerst entfernte ich die Platte, die das Radio von hinten bedeckte, prüfte die Lautsprecher, betastete die Kabel, aber ich fand ihn nicht.
Er versteckt sich bestimmt in den Lautsprechern, sagte ich bei mir, und nahm auch sie auseinander.
Wo war er nur verschwunden? Mama hatte mich schon davor gewarnt, dass er mir entfliehen würde, aber ich war ja auch klein, wovor sollte er sich also fürchten? Ich wollte ja nichts von ihm. Ich wollte ihn nur kennenlernen, mit ihm sprechen, ich wollte, dass er mir Geschichten erzähle und Lieder singe. Ich träumte so lange davon, ihn zu treffen, und jetzt war ich wütend, dass er nicht mit mir sprechen wollte.
Ich wollte das Brett wieder an seinen Platz zurücktun, aber ich schaffte es nicht. Ich weinte schon fast wegen dieses kleinen Mannes, und auch wegen Mama, die jeden Moment aufwachen und mich anschreien konnte, dass ich das Radio kaputtgemacht habe.
Als Mama aufwachte und das auseinandergelegte Radio sah, wurde ihr Gesicht so rot, dass ich richtig erschrak. „Uri, was hast mit dem Radio gemacht?“ Sie kreischte so laut, als hätte sie den Knopf des Radios bis ans Ende gedreht.
„Ich habe nichts mit dem Radio gemacht.“ Ich zitterte wie der Zeiger am Radio, der die Stationen angab.
„Ich sagte dir, du sollst es behüten wie dein Wertvollstes, hab ich das?“
„Aber ich habe doch…“ stotterte ich.
„Dieses Radio kaputtmachen, das ist die letzte Erinnerung vernichten, die ich von meiner Familie habe.“ Mama war den Tränen nahe. „Nach dem Krieg saß deine Oma Stunden über Stunden am Radio und hörte sich „Wir suchen die Angehörigen“ an. Sie hatte so gehofft, etwas über ihre Familie zu hören.“
„Aber ich schwöre dir, ich wollte nur den kleinen Mann suchen.“
„Welchen kleinen Mann?“
„Den kleinen Mann, von dem du mir erzählst hast.“
„Aber ich habe dir doch gesagt, dass er jetzt mit niemandem sprechen will, und dass er sich fürchten wird und fliehen, hab ich das? Jetzt ist er bestimmt wegen dir entflohen, und jetzt wird niemand mehr das Radio betätigen. Schau, was für einen schrecklichen Schaden du angerichtet hast.“
Ich erschrak. Wer sollte jetzt das Radio betätigen?
Ich hielt die Schreie meiner Mutter nicht mehr aus, hielt mir die Ohren zu, ich wollte davonrennen, so wie Aladin vom bösen Zauberer davonrann.
Ich schrumpfte mehr und mehr von Mamas Schreien, bis ich ins Radio schlüpfte, behutsam den Deckel schloss, und selber zum kleinen Mann wurde, sogar noch kleiner.
Vielleicht wird sich Mama jetzt beruhigen, wenn sie entdecken wird, wer der kleine Mann ist, der das Radio betätigt.
Und vielleicht, wenn der kleine Mann entdecken wird, dass ich selber zu einem kleinen Mann geworden bin, wird er zurückkehren und bereit sein, mir die Geschichten zu erzählen, die Mama mir nie erzählen wollte.
Sehr schoen! Ich wusste uebrigens nicht, dass es den „Mador“ noch gibt (bzw wieder gibt)…
Kurze Frage an den Uebersetzer: heisst das Buch nicht „Radio“ im Original? Warum „das Radio“ in der Uebersetzung?
Gefühlssache… Die Geschichte ist aus dem Blickwinkel des kleinen Uri erzählt. Für ihn ist es nicht irgendein Radio, sondern DAS Radio. Findest Du, ich habe hier die mir erlaubte Grenze überschritten? – Zum „Mador“: Ja, ich höre die Sendung auch heute noch, mit großem Interesse.
Danke fuer deine Antwort. Du hast natuerlich keine Grenze ueberschritten – auch Uebersetzer haben kuenstlerische Freiheit, ich wollte nur wissen, warum du es geaendert hast (und nach deiner Antwort frage ich mich, warum der Autor sein Buch nicht *das* Radio nannte).
Zum Mador – in welchem Radiosender und wann?
Sonntag bis Donnerstag, 14:50-15:05