Roman, Israel, Meer, Kibbuz, Terror

Dünen

Yossi Shmueli war Kibbuzmitglied von Kibbuz Sikim, im Süden des Landes, studierte in Tel-Aviv, programmiert Computer und unterrichtet Systemanalyse. Außerdem hat er einen M.A. in Archäologie und den Kulturen des alten Nahen Ostens.  

„Dünen“ (2019, Josippon) ist sein zweites Buch. Es erzählt die Geschichte von einer Liebe zwischen zwei jungen Menschen, Galit und Gonen, die in einem fern und abgeschieden liegenden Kibbuz inmitten von Dünen, in der Nähe des Meeresstrandes, an der Grenze zu Feindesland, leben. Gonen muss den Kibbuz verlassen, und die beiden trennen sich, in Trauer und Schmerz. Nach Jahrzehnten treffen sich die beiden wieder, und beide haben inzwischen Familien gegründet. Zofit und Amit sind Kinder der beiden, die sich damals liebten, und sie kehren in den Kibbuz zurück, wo sich Zofits Mutter und Amits Vater geliebt hatten. Udi ist der Sohn von Amit und Zofit (die Amerikaner würden Tsofit schreiben). Der Kibbuz heißt in diesem Roman „Pleschet“ [das hebräische Wort für das Land der Philister, wovon später auch das Wort Palästina abgeleitet wurde]. Alle Namen, außer Udi, werden auf der zweiten Silbe betont.   

Zofit und Amit leben mit ihrem kleinen Sohn Udi in einem Kibbz am Meer. Auszug aus dem Roman "Dünen" von Yossi Shmueli.

Dünen

von Yosi Shmueli

Übersetzung: Uri Shani

Udi war jetzt schon zwei Jahre alt. Ein lächelnder Knabe, sein glattes, goldenes Haar glitt wie ein Wasserfall von seinem Kopf, und seine blauen Augen glänzten und betrachteten die Umwelt voll Neugier.

Normalerweise kleidete ihn Zofit mit Overall-Hosen. Udi hatte die Gewohnheit, die beiden Schultergürte mit beiden Händen zu fassen, mit den Daumen hinten, und so sah er wie ein kleiner wichtiger Mann aus, so einer mit Ansehen und Ruf.

An einem Morgen, während die Sonne noch ihren Weg am östlichen Horizont machte, kleidete Zofit ihn mit leichten Kleidern und verkündete feierlich, sie gingen ans Meer.

„Willst du das, Muttersüßes?“

„Ja.. ja.. Wasser.. Wasser..“, murmelte der Kleine und kicherte heiter.

„Dann komm“, lächelte sie zurück, nahm seine Hand und ging mit ihm aus dem Haus in Richtung Meeresstrand. Um zum Strand zu kommen, musste Zofit die beiden Dünen überqueren, die zwischen dem Haus und dem Meer lagen. Es war der kürzeste, aber auch der schwierigste Weg. Udi und Zofit stiegen frohlockend, im Sand watend, auf die erste Düne. Udi mit seinen winzigen Sandalen und Zofit barfuß; sie gab sich Mühe, mit Udi Schritt zu halten. Auf der Düne wuchsen Artemisia und weißer Ginster, und zwischen ihnen andere Stachelpflanzen. Die beiden gingen auf den sandigen Wegen zwischen den Pflanzen. Nachdem sie die Düne erklommen hatten, liefen sie den Abhang hinunter zur zweiten Düne hin.

Das Meer war still, nur kleine Wellen brandeten mit einem monotonen Klang am Strand. Weit und breit keine Menschenseele. Nördlich ihres Standortes wuchsen zwei hohe Palmen. Merkwürdig, wie zwei so große Palmen am salzigen Strand wachsen konnten.

„Komm, Kleiner, zieh die Sandalen aus“, sagte Zofit und streichelte seinen Kopf. Der tat fröhlich, wie ihm geheißen, und ging, seiner Mutter Hand haltend, zum Meer.

„Wir wollen Muscheln sammeln“, sagte sie. „Musch…Musch..“, bestätigte er und lief hin und her, sammelte Muscheln, von denen es viele auf dem grauen und harten Streifen gab, der vom Wasser umspült wurde.

Zofit schaute in die Ferne, zuerst dem Strand entlang nach Norden, und dann nach Süden. Als sie aufs Meer hinausschaute, sah sie weit draußen, zwischen den Wellen, ein kleines Boot, und darin einen Ruderer, mit Badehose bekleidet. Es näherte sich dem Strand von Nordwesten. Es war zunächst nichts Besonderes, aber dann sah sie etwas Merkwürdiges, das sie irritierte. Zwischen den Beinen des Ruderers lag etwas, das mit einem hellen Tuch eingewickelt war. Das Tuch war in der Farbe des Bootes, und vom Himmel betrachtet hätte man es nicht erkennen können. Aber von ihrem Standort sah es verdächtig aus. Es schien ihr, dass sich darin etwas bewegte, es war eine Bewegung, die nichts mit der Bewegung des Bootes auf den Wellen zu tun hatte.

Zofit ging zu Udi, der sich auf der Suche nach Muscheln von ihr entfernt hatte, und rief nach ihm, aber die Wellen erstickten ihren Ruf. Sie blickte wieder aufs Meer und sah noch zwei kleine Boote mit demselben in Tuch eingewickelten Gegenstand. Auch in diesen beiden Booten saßen Ruderer in Badehosen. Das eine kam von Südwesten, das dritte ihr gegenüber. Alle drei näherten sich in gleichmäßiger Geschwindigkeit. Zofits Herz begann zu pochen.

Sie schrie mit allen Kräften, um die Wellen zu übertönen: „Udi, komm schnell zu Mama.“

Sie rannte zu ihm hin und schaute weiterhin aufs Meer. Als sie Udi erreichte, nahm sie ihn fest in die Arme, blickte noch einmal aufs Meer und rannte dann zu den Dünen hin.

Als sie laut nach ihrem Sohn rief, erhob sich aus der Düne neben den Palmen ein junger Mann, der sich dort mit seiner Freundin versteckt hatte, schaute sich jetzt um und sah die Boote, die sich dem Strand näherten. Zu seinem großen Erstaunen sah er, wie aus den Tüchern, die am Boden der Boote lagen, schwarz gekleidete maskierte und bewaffnete Männer stiegen. Die Männer sprangen ins seichte Wasser und begannen sofort, die Frau mit dem Kind zu verfolgen, die offenbar vor ihnen flüchtete.

Der junge Mann war nackt, versteckte sich wieder hinter der Düne und sagte seiner Freundin, sie solle still sein. Nach einer kurzen Weile zog er aus der Hosentasche der Hose, die neben ihm lag, ein Handy und rief die Polizei an.

Zofit floh über die Düne und hielt Udi fest in den Armen. Sie blickte nach hinten und sah die schwarzgekleideten Männer, was ihren Lauf anspornte. Udi begann zu weinen: „möch.. Musch.. möch… Musch…“

Zofit versuchte, selber schnaufend, ihn zu beruhigen: „Wir haben zu Hause Muscheln, viele.“

Aber das Kind bettelte weiter: „…Musch…. Musch…“

Das Laufen mit dem Kind im Arm wurde immer schwerer. Als sie den Gipfel der ersten Düne erreichte, hörte sie die Schüsse. Die Kugeln flogen an ihr vorbei. Sie begann zu weinen, und ihr Weinen vermischte sich mit dem des Kindes. Sie ließ sich von der Düne hinunterreißen, die ganz Zeit Udi in ihren Armen und rannte zur zweiten Düne, durch die stacheligen Pflanzen hindurch. Sie war schon voll Sand vom Abhang der ersten Düne und kämpfte mit aller Kraft, um die zweite Düne hinaufzusteigen, mit Udi jetzt auf ihrem Rücken.

Sie dachte nicht an sich selbst.

Ich muss unseren kleinen Udi beschützen, dachte sie, zu Tode verängstigt.

Amit war zu dieser Zeit in der Krankenstation des Kibbuz und behandelte einen Patienten, einen Kibbuznik.

Die Schüsse erschütterten die Stille, die normalerweise in Pleschet herrschte, und besonders zu dieser Tageszeit. Wie viele andere im Kibbuz hielt er inne und ging hinaus, um zu sehen, was geschehen war. Er erinnerte sich an Zofits Worte: „Ich gehe mit Udi ans Meer.“ Er wurde unruhig. Mit einer schnellen Geste riss er den Arztkittel von sich. „Ich komme gleich wieder“, warf er dem Mann hin, der auf dem Untersuchungstisch lag. Er begann, in Richtung ihres Hauses den Hügel hinunterzulaufen.

Die Entfernung war groß. Inzwischen hatten sich die Männer, die für die Sicherheit des Kibbuz verantwortlich waren, organisiert und waren in Richtung der Schüsse gegangen.

Udi saß noch immer auf Zofits Schultern, und diese stieg schnaufend die zweite Düne hinauf. Während sie lief, so schnell sie konnte, hörte sie die Männer hinter sich, wie sie einander Befehle zuriefen. Als sie von der zweiten Düne zu ihrem Haus hinunterglitt, unter Tränen betend, dass ihre Kräfte sie nicht verließen und sie ihr Haus erreichen möge, hörte sie wieder die Kugeln, die an ihr und über ihr vorbeischossen. Im Haus hatte Amit ein Gewehr mit einem Zielfernrohr, das immer im Eingangskorridor auf einem hohen Regal lag, weit weg von Udis neugierigen Augen und Händen. 

Sie hinkte ins Haus, ein Bein war während des Laufs verletzt worden, und legte Udis auf den Boden. Dieser fasste sie am Bein, sie tappte nach dem Gewehr und holte es herunter. Das Zielfernrohr war nicht da. „Egal“, sagte sie zu sich und tappte nach der Munition. Nachdem sie auch diese gefunden hatte, füllte sie damit das Gewehr. Das Schnappen des Magazins im Gewehr erfüllte sie mit ein wenig Sicherheit. Aber was sollte sie mit Udi machen, der noch immer ihr Bein festhielt und „Ma… Ma..“ wimmerte?

Sie hatte keine Zeit. Sie zog ihn hinter sich her zur Hintertür, ging hinaus und begann, sich nach links zum Olivenbaum zu bewegen. Der Baum hatte einen breiten Stamm und viele Blätter, sie konnte sich hinter ihm verbergen, dachte sie, während sie ihre müden Beine dorthin schleppte und Udi noch immer eines davon fest umklammert hielt. Sie legte sich hinter den Baum und murmelte verängstigt und mit zitternder Stimme:

„Bleib ruhig, bleib ruhig. Oh Mama, hilf mir, bitte.“

Sie blickte in Richtung der Düne und sah zwei schwarz gekleidete Männer, die wie Gespenster aus der Hölle in ihre Richtung preschten, die Waffen auf das Haus gerichtet. Als verstünde er, wie groß die Gefahr war, lag Udi am Boden neben ihrem Bein und wimmerte leise.

„Bitte, behalte kühlen Kopf“, sagte sie zu sich. Nachdem sie es geschafft hatte, ihr Zittern zu besänftigen, richtete sie das Gewehr auf einen der Männer, hielt die Luft an und schoss. Er fiel um.

Der zweite hatte schon das Tor zum kleinen Garten erreicht. Als er sah, was dem Anderen geschehen war, stürmte er noch schneller in Richtung des Hauses und schoss darauf.  Ohne lange zu zielen, schoss Zofit eine Salve auf ihn und traf ihn am Unterleib. Er schaute noch erstaunt auf die Stelle der Wunde und brach dann zusammen, in den Garten rollend.

Wo ist der Dritte? Ich muss Udi in Sicherheit bringen, dachte sie.

Das Kind hielt noch immer an ihrem Bein fest, wimmernd, sich vor lauter Angst an seinen Tränen verschluckend, besonders nachdem er die Schüsse gehört hatte.

Sie beschloss, ins Haus zu gehen und Udi dort irgendwo zu verstecken. Auf ihrem verletzten Bein hinkend, das Kind hinter sich herziehend, ihn an einem Arm festhaltend, und im anderen das Gewehr, erreichte sie das Haus. Sie verschloss hinter sich die Tür, während die Angst immer grösser wurde. Hoffentlich war der dritte Terrorist nicht schon im Haus.

„Wo sind die Leute, die für die Sicherheit verantwortlich sind? Wo ist Amit? Rettet mich, bitte!“

Sie schleifte den weinenden, erschöpften Knaben in sein Zimmer und streichelte mit zitternder Hand sein goldenes Haupt. Das Zimmerfenster war vergittert. Dahinter wuchs ein dichter Strauch. Man konnte deshalb von außen das Fenster nicht erreichen. Sie legte den weinenden Udi auf sein Bett, aber dieser stieg wieder hinunter und rief: „ma..ma…ma….“

Sie legte ihn wieder ins Bett. Dann ging sie aus dem Zimmer und verriegelte die Tür.

Aus der Richtung der Küchentür hörte sie ein leises Geräusch, als käme jemand von dort ins Haus. Im Wohnzimmer stand der schwere Tisch und darauf das Tischtisch, das fast bis zum Boden reichte. Sie verbarg sich unter dem Tisch mit dem Gewehr und zog sich in ein kleines Bündel zusammen. Danke, Mama, hast du mir ein so großes Tischtusch hinterlassen, dachte sie. Dann erinnerte sie sich, dass sie vergessen hatte, den Schlüssel aus Udis Tür zu ziehen. Sie war schon völlig erschöpft, als durch das Tischtusch hindurch, auf dem Hintergrund des erhellten Fensters neben der Tür zur Küche, ein Paar Beine sich leise vorwärtsbewegen sah. Sie umkreisten den Tisch und waren auf dem Weg zum Kinderzimmer. Als sie vor dem Gewehrlauf standen, schoss sie mit aller Wut alle Patronen, die noch im Magazin waren.

Der Mann fiel zu Boden, versuchte sich, am Tischtuch festzuhalten und riss es mit sich. Zofit saß jetzt nicht mehr versteckt unter dem Tisch. Mit letzter Kraft erhob sie sich mit einem entsetzlichen Schrei, der das ganze Haus erschütterte. Sie hob den schweren Tisch mit Hilfe einer Energie, von der sie nicht wusste, woher sie kam, und zerschmetterte ihn auf den vor Schmerz störenden Mann.

In diesem Moment brachen Amit, Rami und die anderen Männer der Sicherheit ins Haus ein. Zofit stand noch auf den Beinen, das rauchende Gewehr in den Händen, den Blick verschwommen zur Decke, dann schlossen sich ihre Augen, während der Augapfel weiß wurde. Eine gesegnete Dunkelheit begann, sie zu umschließen. Ihre Knie brachen zusammen, und sie sank zu Boden.

Das Gewehr glitt ihr aus den Händen und fiel mit großem Lärm auf den Terrazzo-Wohnzimmerboden. Sie verlor das Bewusstsein.

Zofit und Amit leben mit ihrem kleinen Sohn Udi in einem Kibbz am Meer. Auszug aus dem Roman "Dünen" von Yossi Shmueli.

Uri Shani ist in der Schweiz geboren und lebt seit 35 Jahren in Israel. Er ist professioneller Übersetzer für Literatur aus dem Hebräischen ins Deutsche. Sein "Übersetzer-Credo" könnt ihr im Link nachlesen:

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Benjamin
Benjamin
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