Geister

Idan Zivoni strickt in „Geister überall“ eine dichte Collage von Erinnerungen und Gegenwartsmomenten. Während er sich um seine kleine Tochter kümmert, die von einer Krankheit gesundet, erinnert er sich an eine Familienreise, in seiner Kindheit, in die besetzten Gebiete, neben dem frühzeitigen Tod einer Freundin, auch sie eine Schriftstellerin, und mit ihren Werken besteht ein intertextueller Zusammenhang, wie ein Liebesbrief nach ihrem Tod. All das neben einem fast alltäglichen Leben einer bürgerlichen Familie in Tel-Aviv, während der Erzähler das Tagebuch seines Großvaters vom Beginn des 20. Jahrhunderts sucht, der assoziativ mit den politischen Werken eines palästinensischen Schriftstellers zusammenhängt, der über die Vertreibung der Palästinenser aus ihrer Heimat im Jahre 1948 schreibt.

Ida Zivoni (Jahrgang 1964) ist ein Schriftsteller, Literaturkritiker und der Chefredakteur des renommierten „Resling“-Verlages. Er veröffentlichte das Essay „Flughäfen oder Sehnsucht nach der Zukunft“ (Resling, 2004). Das Buch „Geister überall“ ist im „Yediot Achronot“-Verlag 2017 erschienen. Im Sommer werden wir auch einen Auszug aus einem weiteren Roman hier veröffentlichen, der 2019 erschienen ist.

Idan Zivoni strickt in "Geister überall" (2017) eine dichte Collage von Erinnerungen und Gegenwartsmomenten. Während er sich um seine kleine Tochter kümmert, die von einer Krankheit gesundet, erinnert er sich an eine Familienreise in die besetzten Gebiete, neben dem frühzeitigen Tod einer Freundin, und dem Tagebuch seines Großvaters vom Beginn des 20. Jahrhunderts.

Geister

Der Mensch kann sehr wenig tun, um bei Verstand zu bleiben: Du sollst nicht auf der Erde gehen, denn sonst trittst du auf deine toten Freunde. In der Luft werde ich gehen, zur Sonne werde ich schauen, zu der Erinnerung, die durch Geruch, Durst oder Tönen erwacht, werde ich beten. Mein Großvater schätzte jene, die nicht verrückt wurden. Ich werde zurückkehren und nach ihren Tränen fragen. Er sagte dies nicht, um die Verrückten zu verhöhnen (die Luft des Himmels brauchen wir alle), sondern weil er einen Sinn für die Schwierigkeit hatte, den Verstand zu behalten. Oft erwähnte er einen Studienfreund, mit dem er in Straßburg studiert hatte und der sich dort das Leben nahm. Er nahm mir etwas, was mir gehörte, dieser Tod gehörte mir, er aß das Fleisch meiner Rippen. Er fügte dem niemals mehr hinzu. Sein Selbstmord im August 1914, kurz nach Kriegsausbruch, hinterließ ihn mit gebrochenem Herzen und führte dazu, dass er fast jegliche Tätigkeiten hinschmiss und persönliche Kontakte abbrach. Erfolglos versuchte er den Nachlass seines Geliebten herauszugeben.* Er hat uns auch niemals erlaubt, in seinem Haus herumzulaufen, herumschnüffeln, unsere Sachen und unsere Angelegenheiten dort zu finden und sie zu betrachten. Die Straße, die sich vor dem Herrenhaus entlang zog war von Nachmittags-Idylle umgeben und von hellem Sonnenlicht überflutet. Wenn es ein Haus gibt, werden wir gehen, dann werden wir ein Haus für Gäste daraus machen, wir werden zur Erntezeit gehen und wir werden gehen und pflanzen und säen und einen raffinierten Schwindel mit Schafshäuten begehen.

Und deshalb habe ich auch nicht verstanden, wie die Wohnung meines Großvaters aufgebaut ist, welches Zimmer nah an der Küche ist, (meine Beine wurden mit Flaxfäden festgebunden), welches Zimmer zum Balkon führt (die Erde schoß in den Abgrund. Ich gebar meine Kinder in diesem Haus, wir kannten den Dar [arabisch: Haus] nicht, und wir gingen zum Brunnen und füllten Wasser auf, und brachten das Wasser), irgendeine Landschaft spiegelt sich durch irgendein Fenster, während ich dadurch einen durchsichtigen und sehr schönen Stein sah. Und oft wurde mir eine Prüfung auferlegt: Was ist zum Beispiel die Bedeutung des Wortes Kammer? Die Antwort Zimmer war nicht zufriedenstellend: Verbreite niemals deine Meinung über dich selbst, biete kein anderes Problem an. Ich hätte wissen müssen, dass der Ursprung des Wortes Kammer aus dem Französischen kommt [tatsächlich hat das hebräische Wort für Kammer, Kiton, seinen Ursprung im Altgriechischen] und einen ähnlichen Klang hat und dessen Bedeutung umwerben ist. Umwerben – und von hier aus Kammer. Und solche Dinge bereiteten ihm große Freude – mich bloß zu stellen, als Gelehrter angesehen zu werden und sich an den Verwandlungen eines Wortes zu erfreuen. Eine wird aufstehen und ihr Feuer weitergeben, und sie wird Teig zubereiten, und das Brot so auf dem Feuer backen (wie heißt das Gerät mit dem man den Teig knetet?), und sie wird ihr Essen neben das Feuer stellen und auch das Brot, und ihre Kinder und ihr Mann werden kommen und zu Mittag essen. Und für die Besuche musste man um eine Ausrede bitten – so oder so sprach ich unnütze Worte. Und wenn ich in der Nähe vorbei kam und Guten Tag sagen wollte – wurde dies verhindert. Als ich Ende der achtziger Jahre in seine Wohnung zog, träumte ich wieder und wieder, dass er mir zusieht, wie ich in seinem Bett schlafe, wie ein Geist da liege. Und siehe da, auch ich habe einen Wunsch an dich. Das Leben hat schon wieder Geschichten begonnen. Manchmal hatte ich den Eindruck, dass ich ihn im Viertel herumspazieren sah, verlassen, in zweischneidiger Zunge brillierend.

Geister der Sprache sind überall, Geister fallen auf die Erde. Der meines Großvaters, der des Scheichs Salmans mit dem zerfurchten Gesicht. Die Nakba-Geschichten von Salman Natour, welcher Anfang der achtziger Jahre unter der Beobachtung der misstrauischen Polizei Geschichten über Geschichten mit Sorgfalt sammelte und zusammentrug. Eine schwere Wolke über seinem Kopf, ein Zeichen für Gefahr, für einen Umhang, der in Blut getränkt ist. Unter Beobachtung seines misstrauischen Auges und seines Ohres und seines Mundes und seines Urins und seines Kots. Und sie konnten spielen und dann wärmt sie das Wasser auf und wäscht die Kleider und danach hängt sie die Wäsche auf. Salman, der mit Obsession wie für das Leichentuch sammelte und zusammen trug, damit diese Obsession auch ihn ergreift – lang anhaltende Freude. Er schickte seine Worte zu den Geistern, auf dem zerschlagenen Weg sagte er: der Tod wird immer zeitübergreifend bleiben, grenzüberschreitend, welcher die Toten auferstehen lässt und ihnen Lebensgeist einflößt. Der Geist des Scheichs Salmans kommt zurück, um seinen Platz einzufordern: ich bin im Feuer, eine schwere Wolke drückt meinen Kopf nieder. Nachdem ich die Wäsche aufhänge, werden wir zum Feld gehen, wenn der Winter kommt, werden wir aufstehen und Äste holen, wir werden einen Zaun um das Haus aufstellen, so machen wir das und wir werden Wolle bringen.

Eine Geschichte und noch eine Geschichte. Reste von Gefühlen der Kindheit. Eine Geschichte verfolgt die andere, um zu heilen, um zu trauern, um einzuschlafen, um die Geister abzuwenden (es gibt kein Haus ohne Geister), denn das, was nicht im Lichte des Symbolischen sichtbar wird, wird im Tatsächlichen erscheinen, denn es weilen zwei Seelen unter uns… sie sollen vom Erzähler ablassen, Galia ist krank, sie ist zu Hause geblieben, in sich zurückgezogen, halluziniert, versunken in ihrem Zauberland. Hastig suche ich nach dem Jugendtagebuch meines Großvaters, welches Anfang der achtziger Jahre erschien, aber in dem Dickicht aus Büchern und Nachlass gehe ich verloren. Auszusehen wie ein Knecht der Sprache (so ist er: er steigt auf und fällt häufig und rollt sich), noch mehr ist er der Knecht des Diskurses der universalen Bewegung, von der heraus sein Platz bereits zu seiner Geburt festgelegt wurde, und sei es nur mittels seines Vornamens. Ich mache es immer noch so, breite für die Kinder Matratzen aus, das Leben ist karg, aber es geht nichts über unser Leben.

Auf dem Fahrrad mit Galia zur Allee. Wir sitzen im Café auf den hohen Stühlen. Aber sie hat keinen Appetit, sie spricht kaum und ihr ist kalt. Naiv und ehrlich tröste ich sie soweit es möglich ist. Ich sage noch nicht hoffnungslos, suche nach dem Jugendtagebuch meines Großvaters. Viele verstaubte Bücher, viel sperriger Nachlass: ein bedrückter Chor, der sich an den Tod erinnert, seine Stimme geht vom Ende der Welt bis an ihr Ende. Durch eine der Radierungen, die ich mir anschaue, erscheinen mir Fotografien des Grauens eines nackten Torsos, dessen Fäuste geballt und dessen Beine steif sind, sein Mund ist weit geöffnet und in seinen Eingeweiden wimmeln Maden. Sollte das Verrottete verrotten und sollten an seiner Stelle Blumen wachsen? Das Gesetz der Nakba ist auf dem Weg zur Zulassung. Noch darf man über die Nakba schreiben. Am Abend zu Ehren von Salmans Buch über den Scheich war es gerammelt voll in der Buchhandlung der „Bücherwurm“. Adi sprach voll Demut über die Poesie des Flüchtlingsdaseins. Ich decke sie zu und wir leben ein gutes Leben. Salman war zu Tränen gerührt. Ebenso Jehuda, der auswählte und übersetzte. Man darf nicht zum Boykott aufrufen, es ist besser von Sanktionen zu sprechen. Schriftsteller verstecken Zettel in einer Flasche, welche eines Tages vielleicht geöffnet werden. Zweifelhaft. Zweifel für die Zukunft, Schriftsteller für die Zukunft. Vor ein paar Tagen fanden Wahlen statt. Erbärmlich, die Hilflosigkeit der Gefangenen. Alles bleibt beim Alten. In einer Nacht zählte ich alle Steine meines Gefängnisses. Der Druck Amerikas erhöht sich und die Zeitung berichtet, dass zu dieser Stunde jeder einzelne Trauer trägt. Ein Airbus einer deutschen Fluggesellschaft ist abgestürzt. Man ist besorgt – armselig, hungrige planlose Mäuse, durstig wie Hunde, Adi und ich planen nach Berlin abzudüsen. Neta wird auf die Kinder aufpassen. Sie macht sich ein wenig Sorgen, aber am Ende wird sie zustimmen, auf die Kinder aufzupassen. Der Hund – in die Pension. Eine krebsartige Metastase in der Herzwand, eine Fettschicht, die den Muskel des Herzens umhüllt, und in einem Jahr von heute an wird er sterben und wir werden es den Kindern erzählen und sie werden bitterlich weinen und all ihren Freunden von ihrem Hund erzählen, der in einem Jahr sterben wird. Und wir werden uns daran erinnern und den ganzen Weg darüber weinen, dass auch Gabi an Krebs gestorben ist, drei Tage bevor Adi Jonah zur Welt brachte, drei Tage lag sie in den Wehen und schrie, ihre Uhr an der Wand und sie schrie aus den Löchern ihres Schädels, drei Tage, in denen sie zerrissen vor Schmerz von ganzem Herzen keuchte. Und wir bringen Gabi zu André, der mit den Zähnen knirscht und sagen wird, dass man einschläfern muss, andernfalls wird sie leiden. Und so werden wir es am Samstag machen, ohne uns zu schämen. Und wir werden sie nehmen und rausnehmen und sie in Flickendecken mitschleppen, und wir werden sie in einem bereits ausgehobenen Grab beerdigen mit André, der alles aufmerksam verfolgt. Neta ist Veganerin – sie ist nicht bereit, auf Hunde aufzupassen. Und inzwischen ist er tot. Es verging kein Jahr und er starb. Das Aufblitzen seines warmen Todes.Wir werden das Haus mit Flöhen füllen und die Kinder werden kratzen und er hat eine Ohrenentzündung im rechten Ohr und die traditionelle Behandlung ist nicht glaubwürdig und wir spritzen zwei Mal am Tag Antibiotikum und eine Tablette gegen Blutgerinnsel und eine weitere Tablette, die man in drei teilt, gegen die Flöhe, und ich kämme ihn im Garten neben dem Haus mit einer Eisenbürste gegen Flöhe und sie entwischen, sie beißen und verletzen und Adi säubert seine Ohren drei Mal am Tag und das Haus füllt sich mit dem Geruch seines stinkenden Körpers und Freunde beschweren sich und er springt Vorübergehende an und belästigt sie, er suhlt sich im Purpur, klaut Fressen, und Jonah und Galia füttern ihn mit Käse. Mit großen Schwierigkeiten macht er mit mir Spaziergänge, zieht an der Leine, bellt andere Hunde an.

Es sind höchstens drei Monate vergangen, seit dem man es entdeckt hatte und dann starb er (meine Tochter fragt mich nach dem Geheimnis des Todes). Vor der Einschläferung, empfahl der Tierarzt, mit Zurückhaltung, dass ich mich in einem abgesonderten Zimmer von ihm verabschiede, alleine. Mit dem grauen Goni wartete ich draußen bis er einschlief. Zwei Stunden vor der Veranstaltung anlässlich Payams Buch in der Buchhandlung „Der Leuchtturm“, kamen wir sturmerfahren an (ein dünner Vorsprung, der uns umgab und von allen Seiten davor schützte, besiegt zu werden), und man untersuchte ihn und sagte, dass es sein kann, dass er es noch ein Jahr schafft. Und wir, schauen mit Ehrfurcht, von Wasser durchnässt, und der Schock tropft von unseren Köpfen. Eine krebsartige Metastase in der Herzwand. Man empfahl eine Operation zur Entfernung des Geschwürs sowie Bestrahlung und eine intensive Überwachung. Man saugte eine rote Flüssigkeit aus der Wand des Herzmuskels, und in der Zwischenzeit sind wir Puppen im Sturm, auf der Flucht in den Leuchtturm. Es hat sich bis in die Milz ausgebreitet und es ist schon nichts mehr zu machen. Es ist besser einzuschläfern. Ich warte im Mysterium. Der Tierarzt drückt meine Hand mit angespannter Wärme. Ich gebe das Leben und ihr nehmt es. In der Morgendämmerung verbrannte man ihn und Galia hatte genug von dem Spiel, sie wünscht eine Beerdigung im Park Kiryat Sefer. Eine Zeremonie, für ihr Gedenken. Ich schlage vor, die Leine zu beerdigen und Galia schlägt einen Blumenstrauß vor, und vielleicht gibt er, im Himmel, als Engel auf uns Acht. Und am Samstag gehen wir alle zusammen zum Park Kiryat Sefer und graben in der schlammigen Erde und die Leute werden uns beobachten und wir werden uns selbst auffällig fühlen und wir werden von der Zeremonie ergriffen sein, und die Kinder werden an das Geheimnis des Lebens und des Todes herangeführt werden und jeder wird darüber ein paar Worte sprechen und Jonah wird in seiner Verlegenheit salziges Meerwasser hochkommen lassen und Galia wird sagen, wie sehr sie ihn liebt und vermisst, wie ein Nebelengel, und ich werde ein wenig murmeln und mich daran erinnern, wie ich seinen Hals mit dem Halsband würgte und Adi wird auf der Ebene seinen freien Geist besingen. Und wir werden seine Leine beerdigen, welche ihn sein ganzes Leben lang die Luft abschnürte, neben den Kräuterbeeten.


Idan Zivoni strickt in "Geister überall" (2017) eine dichte Collage von Erinnerungen und Gegenwartsmomenten. Während er sich um seine kleine Tochter kümmert, die von einer Krankheit gesundet, erinnert er sich an eine Familienreise in die besetzten Gebiete, neben dem frühzeitigen Tod einer Freundin, und dem Tagebuch seines Großvaters vom Beginn des 20. Jahrhunderts.

Uri Shani ist in der Schweiz geboren und lebt seit 35 Jahren in Israel. Er ist professioneller Übersetzer für Literatur aus dem Hebräischen ins Deutsche. Sein "Übersetzer-Credo" könnt ihr im Link nachlesen:

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Benjamin
Benjamin
5 Jahre

Sehr schön! Nebenbei, kann es sein, dass “Jehuda, der übersetzte” evtl. Jehuda Shenhav (in letzten Jahren fügt er Shaharbani hinzu, so der Familienname im Irak, bevor er in Israel zu Shenhav hebräisiert wurde) ist oder auf ihn basiert? Shenhav-Shaharbani bezeichnet sich bewusst als “arabischer Jude” und nicht als Mizrachi, und stellt eine Verbindung zwischen der Palästinensischen und Arabisch-Juedischer Identität her. Auch in Zivonis Buch geht es – auf sehr vielen Ebenen – um Narrativ…

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