Im Alter von dreißig Jahren publiziert Arik seinen ersten Roman. Ein erfreuliches Ereignis, eigentlich, aber schnell stellt sich heraus, dass ausgerechnet diese Zeit, in die er so große Hoffnungen steckt, zu der schwierigsten in seinem erwachsenen Leben wird. Enthüllend schreibt er über diese Zeit. Etwas sehr Zentrales enthüllt sich, so fühlt er.
Arik wird hin- und hergeworfen zwischen Tel-Aviv und dem religiösen Dorf, wo er aufgewachsen ist, und wieder zurück, von der Gegenwart zurück in die Kindheit, von einer kindlichen schmerzhaften Liebe zu den Knospen einer neuen. Die Vertiefung in diese stürmische Zeit ermöglicht ihm, vielleicht, die Frage im Titel des Buches zu beantworten.
„Warum ich nicht schreibe“ ist ein Roman-als Memoir-verkleidet über literarische Ambition und männliche Ambition; über die Beziehung der Hauptperson mit dem Vater, der sich umgebracht hat, und mit seinen literarischen Vorvätern; über seine Beziehung zur Literatur und zu Frauen; über die Liebe zur Literatur und die Lust zur öffentlichen Beachtung, über Männlichkeit und Erwachsensein, über Sex und Liebe – und über die Widersprüche und die Versuche, sie miteinander zu vereinen.
Sechzig Tausend Wörter sind hier der Frage gewidmet „Warum ich nicht schreibe“ – Wörter, die ein sprachlicher Ouroboros sind. Eine Schlange, die sich in den Schwanz beißt.
Hier begegnen wir der Hauptperson zu Beginn des Romans, wie er sich soeben in Adi verliebt hat.
Dies ist der zweite Roman von Arik Glaser, Jahrgang 1973. Er hat einen Doktorabschluss in Literatur, schreibt Literaturkritik in der Tageszeitung „Yediot Achronot“ und unterrichtet. Verheiratet mit zwei Kindern und lebt in Tel-Aviv.
Warum ich nicht schreibe
von Arik Glaser
Übersetzung: Uri Shani
…Ich hatte alles erreicht, was ich wollte, seit ich wusste, was ich wollte, das heißt, seit ich zehn Jahren davor der Religion den Rücken gekehrt hatte. Ich wurde Schriftsteller, hatte das Glück, eine schöne Frau zu lieben und auch das Glück ihrer Liebe zu mir. Aber war es wirklich das, was ich wollte? Was ich ja wirklich wollte – sagte ich mir, und davor unzählige Male der Psychiaterin der Universität Tel-Aviv – was ich wirklich am meisten wollte – dachte ich obsessiv – war – wie sagt man das fein? – ficken (ich überlegte mir, ob es nicht angemessener wäre, „mit vielen Frauen schlafen“ zu schreiben – der Inhalt ist ja derb genug, Gott sei Dank, und vielleicht kann ich es wenigstens in der Form ein wenig verfeinern? – Aber meine Abneigung gegen das Verschmückte und Verschwommene liegt ja im Kern meines literarischen Komplexes – ein Teil des Kerns des Komplexes, um genauer zu sein). „Ficken“ war ein Titel, der den Willen beinhaltete, ein Mann zu sein, der die Möglichkeit hatte zu ficken – das heißt ein männlicherer Mann, deutlich männlicher – und dazu die wirkliche Lust zur Sache selbst, die Milderung des Rausches, der mich erfasste beim Gang irgendeiner Straße in Tel-Aviv – den schrecklichen Schmerz, Dutzende von schönen Frauen an mir vorbeigehen zu sehen, die mich nicht einmal eines Blickes würdigten und für immer verschwanden. Was so verwirrend war an diesem Drang zu „ficken“, war die – allerdings nicht für mich, zu Beginn – offensichtliche Tatsache, dass ich meine Gefühlsbedürfnisse verdrängt hatte, weil ich mir selber gegenüber meine Schwächen nicht zugeben konnte, aber auch aus anderen Gründen, aus Unsicherheit – eine Erkenntnis, die meine Psychiaterin beständig versucht hatte mir einzuhämmern – , ein Bedürfnis, das die Tat nur mildern konnte, und vielleicht konnte man es auch anders mildern. Und daneben existierte der authentischere Teil dieser Lust – das physische Bedürfnis (das aber auch ästhetisch war, und religiös und philosophisch!) – so wie ich es begriff – und richtig! – und meine Psychiaterin nicht. Das heißt, ich wollte lieben und geliebt werden, wobei der Geschlechtsakt nur das Mittel und der Beweis dazu war, und ich wollte auch einfach „ficken“. Und in meiner Vorstellung wuchs dieser Widerspruch (zwischen Liebe und Sex, meine ich jetzt) zu einem tragischen Widerspruch, auf dem mein Roman basierte, den ich schrieb. Aber in meinem Roman konnte die weibliche Hauptperson, in die sich die männliche Hauptperson verliebt, ihn nicht körperlich anregen, und so blühte die tragische Situation in seiner Reinheit, wenn man so sagen kann, – das war jedenfalls meine Absicht beim Schreiben. Aber Adi entbehrte dieser Eigenschaft nicht im Geringsten. Eigentlich, wenn ich Adi vor sechs Jahren gekannt hätte, dachte ich bei mir, ironisch, hätte ich mir den Roman ersparen können. Aber wenn ich ihn nicht geschrieben hätte, hätte ich Adi vielleicht gar nicht getroffen…
Adi begegnete dieser Problematik an der tragischen Kreuzung mit einer ihr eigenen Ironie und einem Sarkasmus, den mich zur Weißglut brachte. Natürlich, sie musste sich ja auch verteidigen, aber ich sah nur die Nadel, mit der sie in den aufgeblasenen Ballon stach. Du bist ein normaler Mann, der sich mit Dilemmas eines normalen Mannes beschäftigt, sagte sie.
Aber ich war kein normaler Mann. Mit Adi verspürte ich zum ersten Mal in seiner ganzen Klarheit das Phänomen, das mein Liebesleben charakterisierte – ich werde weich mit den Jahren, so scheint es; zuvor hätte ich diesen verklärten Begriff nicht ausstehen können, „Liebesleben“ – nun, ich verspürte das Phänomen, das mein Liebesleben charakterisierte auch schon vorher, aber ich begriff es nicht, denn ich hatte die optimalen Umstände für den Versuch nicht, wie jetzt, als ich ihn anstellte, mit ihr. Jetzt, obschon ich mit einer der allerschönsten Frauen zusammen war, die ich je gesehen hatte – lebendig oder auf der Leinwand, oder auf dem Bildschirm, oder auf dem Display des smartphones, oder auf Chromopapier eines Magazins -, fiel meine Lust in grauenhafter Geschwindigkeit in die Tiefe, noch bevor ein Monat vergangen war, seit wir uns kennenlernten. Die volle Erkenntnis, oder fast volle, des Phänomens, wurde mir erst am Ende meines vierten Lebensjahrzehnts klar, das heißt etwa sieben oder acht Jahre nach der Zeit, die ich hier beschreibe. Aber dann, dank Adi, verstand ich zum ersten Mal, dass ich einer dieser Männer bin, bei denen ein männliches – und vielleicht eigentlich nicht unbedingt ein männliches – Phänomen ihren extremsten Ausdruck erhält. Du liegst neben einer wunderschönen Frau mit minimaler Bekleidung oder ganz ohne – eine Frau, von der du weißt, dass sie anziehend auf dich wirkt – und du bist völlig angespannt, weil sie dich nicht erregt. Du kannst mit ihr wie mit einer Schwester reden, wie ein Freund, aber nicht mit ihr schlafen. Ein wahrhaftiges Wunder! Und wenn es nicht etwas Trauriges, Persönliches und Stressiges an sich hätte, dann wäre das eine erfrischende Erkenntnis: Die menschliche Seele ist ja so kompliziert und verwickelt! Da ist eine immense Lust, die deinen ganzen Körper ausfüllt und zum fast zum Platzen bringt, und einen Moment später ist sie weg, und es ist nicht klar, wohin sie gegangen ist – wie eine aufwühlende, aufwirbelnde Sturzflut, die plötzlich wieder weggeschwemmt ist. Das was das erste Mal, dass ich begriff, dass ich ein echtes Problem habe. Denn vor Adi begründete ich dieses Phänomen mit Mängeln, die ich bei den Frauen aufzählte, mit denen ich war, das heißt bei ihrem Körper. In diesem Fall konnte ich keine ähnlichen Beschuldigungen erfinden – mich an den ersten umwerfenden Eindruck erinnernd, den Adi auf mich gemacht hatte – als ich sie wollte, wie ich wenige der Frauen wollte, die mir auf der Straße begegnet waren und die ich in ähnlichen Situationen will – ich fühlte: sie war anders als all die anderen Frauen. Es war das erste Mal, dass eine Erkenntnis sich bemerkbar machte, dass es sich hier um ein Problem bei mir handelte, aber ich verstand das Phänomen noch nicht so genau, wie ich es in den kommenden Jahren mehr und mehr verstand – oder vielleicht nicht genau und bis auf seinen tieferen Grund, denn auch jetzt, und ich bin jetzt schon mehr als vierzig Jahre alt – und diese Unklarheit selber – und ich dachte ja, in meiner Überheblichkeit, dass ich mich gut kenne – ja eigentlich darauf basierte mein Stolz im Allgemeinen und besonders mein Glauben, dass ich ein Schriftsteller sein könne – denn in meinem ersten – und letzten – Roman stand das zentrale Dilemma auf dieser Zerrissenheit, die ich erwähnt habe, zwischen „Liebe“ und „Lust“ – ohne mir Rechenschaft über die komplizierte und nicht definierbare „Lust“ selbst abzulegen – das ist ein weiterer Grund, warum ich nicht schreibe. Ich habe noch nicht verstanden, zum Beispiel, dass ich die Frauen, die ich auf der Straße sehe, nicht eingehend betrachte (auch aus Verlegenheit), sondern ein paar Anhaltspunkte finde, die mir helfen, in meiner Einbildung das Schema der vollkommenen Frau zu vervollständigen – ein Schema, das tief in mir sitzt – „innate“ wie die Lateiner sagen – ein euphemistischer und ungenauer Blick, was mit der Frau, die neben dir liegt, unmöglich ist, aus sowohl perspektivischem wie auch psychologischem Grund. Ich habe noch nicht verstanden, zum Beispiel, was mein Psychiater im Jahrzehnt darauf behauptete– der Psychiater, den ich bald der Psychiaterin vorzog, da ich endlich verstand, dass es Dinge gibt, die Männer verstehen und Frauen nicht – eine Erkenntnis, die auf sich warten ließ, wegen meines Vorurteils, dass meine Probleme mit Frauen zu tun hätten, und dass ich deshalb mit Vorzug mit einer Frau sprechen sollte – eine späte Erkenntnis, die sofort ihre Bestätigung erhielt, als ich dem Psychiater gleich zu Beginn über meine unbeherrschbare Lust auf all die Frauen auf der Straße erzählte, worauf er mit mehrmaligem Kopfnicken reagierte und mich bat, weiter zu erzählen, denn er verstehe nicht, was das Problem sei, aber ich hatte nichts weiter zu erzählen – das heißt, er verstand mich so gut, eigentlich zu gut – wogegen die Psychiaterin – und vielleicht war es ihr junges Alter und ihre fehlende Erfahrung und nicht die Tatsache, dass sie eine Frau war – mehrere Monate brauchte, bis sie begriff, dass es sich um ein Phänomen handelte, das keiner besonderen psychologischen Interpretation bedurfte – ein Missverständnis, das mich verunsicherte und diese wahllose sexuelle Anziehung (oder eigentlich eine Anziehung mit einer sehr feinen Wahl: aber eben nur einer physisch feinen Wahl) mit einem schweren psychologischen Verdacht belastete – nun, ich verstand noch nicht, was mein Psychiater später behauptete, nämlich dass meine Anziehung zur Schönheit auf der Straße, und die fehlende Anziehung zur Frau, die neben mir liegt, Teil der Depression, der Unruhe und Unzufriedenheit sei, die alles, was ich habe, inklusive meiner Partnerin, erblassen und erbleichen lässt, und den Glanz draußen sucht. Diese Erklärungen gaben mir einiges an Verständnis, aber ich spürte, dass ich das Phänomen noch nicht im vollem Umfang begriff – inklusive Erklärungen aus der evolutionellen Psychologie – inklusive die Erklärung des Meisters Freud, in seinem Artikel „Über die allgemeine Erniedrigung im Liebesleben“, über den Unterschied zwischen Liebe und Lust, der seiner Ansicht nach vom Ödipuskomplex herrührt – eine andere Erklärung als die evolutionelle über den „Coolidge-Effekt“, wie die Abscheu des Männchens von der Monogamie in der Biologie genannt wird – und die (die psychoanalytische Erklärung) den Nagel nicht ganz auf den Kopf trifft, denn sie spricht vom Bedürfnis der Männer, zum Zweck der Erfüllung ihrer Lust, an geringfügigeren Frauen, die keinen Verdacht einer Doppelgängerin der Mutter erwecken, wohingegen bei mir die Lust mit einer Verglänzung – von „Glanz“ – der Begehrten einhergeht – inklusive eine zusätzliche potentielle Erklärung, die ich für das Phänomen fand – und schaut nur, wie viele Erklärungen es dafür gibt! – und das ist mein Verdacht, dass dieses Phänomen, unter anderem, aus einem tiefem Bedürfnis, dessen Wurzeln irgendwo im Beginn aller Zeiten liegen, herrührt, zu empfinden, dass meine Partnerin mich nicht befriedige, ein tiefes Bedürfnis für einen Vorwand, wütend auf sie zu sein, ein tiefes Bedürfnis zu verspüren, dass meine Bedürfnisse nicht erfüllt werden – inklusive – wenn schon – noch eine, noch eine potenzielle Erklärung, deren Quintessenz ist: Mein Narzissmus braucht die spektakuläre Bestätigung einer Frau, die fremd war und sich jetzt plötzlich hingibt, eine Bestätigung, die eine Frau, die sich schon hingegeben hat, das heißt den spektakulären Übergang von Fremdheit zur Nähe schon gemacht hat, mir niemals mehr geben kann – inklusive – gehen wir doch mit der Sache bis an ihr Ende – die naive amerikanische Erklärung des Psychoanalytikers Stephen A. Mitchell, der behauptete, dass die sexuelle Abkühlung in der Partnerschaft von der Angst vor Abhängigkeit herrühre, einer Angst vor Bindung – und vielleicht ist wichtiger, als die Tatsache, dass die Erklärungen das Phänomen nicht umfassend erklären (wichtiger für das Leben, aber nicht für die Literatur – für die Literatur, das heißt, dafür, dass sie nicht geschrieben werden, ist wichtig vor allem die intellektuelle Unklarheit): dass sie die Symptome des Phänomens nicht deutlich verringern, aber doch ein bisschen.
Sehr schoen! Zu „da ich endlich verstand, dass es Dinge gibt, die Männer verstehen und Frauen nicht“ – das erinnert mich an ein kuerzliches Interview mit Nadav Eyal (Auslandskorrespondent des israelischen Fernsehens, seine Frau, Tamar Ish-Shalom, ist die Nachrichtensprecherin im selben Kanal) derZeitung „Jedioth Aharonot“, wo er gefragt wurde, was Frauen nicht ueber Maenner verstehen. Seine Antwort: „Frauen verstehen ALLES ueber Maenner – und genau das ist das Problem“…