Israel, Roman, Kinder, Michal Peer, London,

Ihr, die Ihr so schön lebt

Der Roman „Ihr, die ihr so schön lebt“ (Achuzat Bayit, 2016) spielt in einem Armenviertel am Rand von Tel-Aviv. Der erste Teil des Romans wird von der jugendlichen Ilsa, die folgenden drei Teile werden von einer anderen Person in einem anderen Stil erzählt. Die Geschichte bewegt sich zwischen verschiedenen Zeiten und Orten in Tel-Aviv, in New York und der Schweiz.

Michal Peer, Preisträgerin der Kulturministerin für junge Schriftstellerinnen und Schriftsteller, publizierte Kurzgeschichten in der Zeitschrift „Mitaam“, ist Dozentin in der Abteilung für Film im Beit-Berl-College und Gymnasiallehrerin in Tel-Aviv.  

Ihr, die ihr so schön lebt

von Michal Peer

Übersetzung: Uri Shani

Erster Teil: Ilsa

Da seid ihr ja! Aus Rücksicht auf euch erläutere ich nicht alles in allen Einzelheiten, aber gebt acht!

Im Novemberlicht, vielleicht war es August, unter einem Beerenbaum mit verletzten Früchten, tröpfelte pausenlos ein wie eine Schlange verschlungener Gummischlauch, und nackte Füße – mit Dreck verklebt, als wären sie tätowiert – badeten in der Pfütze, die sich bildete, spritzten dreckige Tropfen in alle Richtungen, dort steckte er mir ein Maiskorn zwischen zwei Zähne und lachte: „Weiß, gelb, weiß, der ganze Regenbogen.“ Und als er lachte, verschmälerten sich seine Augen, sei es wegen des Lichtschmerzes oder wegen des Lachmuskels, fünfundzwanzig seiner Lebensjahre verflüchtigten sich, und er wurde so alt wie ich: elf Jahre.

Und am Ende dieses Tages, als das Licht weggeschoben worden war, und draußen nur noch stotternd eine Straßenlampe leuchtete, und sein Freund im Dunkeln blieb, rollte er zwei schwarze Koffer in die Mitte des Hauses, faltete einen Stapel heller Kragenhemden hinein, legte neu geschneiderte Anzüge hinzu, ein Paar schwarze Schuhe, einen schwarzen Angora-Schal, einen langen Pelzmantel, auch einen neuen, schwarzen Haartrockner, stopfte alles hinein, er selbst trug ein Hemd mit zugeknöpften Knöpfen und Hosen mit schnurgeraden Bügelfalten. Stand da, schaute von seinen hundert achtundachtzig Zentimetern auf seine Kinder hinab – ich hatte damals wirres Haar und Lücken zwischen den Zähnen – und sagte: „Ich reise nach England.“

England, wirklich!

„Ich fahre nach England und organisiere uns dort ein neues Leben.“

Was hatte er dort zu suchen? Nur Kohle kommt dort aus der Erde, und es gibt nicht einmal eine Brücke von hier dorthin, sein England lag hinter den Grenzen der Sonne, aber sein Schuhabsatz bohrte sich dröhnend in diesen Teil des Globus.

„Ich werde mich dort organisieren. Finde uns ein Haus in einer schönen Umgebung, sicher in London, vielleicht in Golders Green oder in Hampstead. Mal schauen. Und organisiere euch eine gute Schule. Für alles sorgt Papa, und dann ruft er euch zu sich. Ein neues Leben beginnen wir in London.“ So sprach er über sein England, und wie mit einem altertümlichen Zauberspruch baute er uns ein ganzes Königreich in der nebligen Landschaft, als hoffte er, dass das Joch der Erinnerung an die Taten und Geschichten uns nicht mehr drücken würde, er wollte einfach am Anfang einer neuen Geschichte stehen.

„London? Warum plötzlich London?“ Ich konnte mich nicht zurückhalten, nackte Füße umkreisten die Koffer, um den Geruch von neuem Leder zu verscheuchen, der wie ein Gespenst von ihnen hochstieg.

Assi gesellte sich zu mir und sagte: „Ich will nicht nach London, ich will hierbleiben.“ Er spielte mit den Rädern eines Spielzeugautos, das er mal von Papa erhalten hatte, ein Polizeiwagen mit einer schwachen Sirene, aber Papa sagte: „Weißt du denn nicht, Assi? In London gibt es einen breiten Fluss, der durch die ganze Stadt fließt, man kann auf ihm rudern und segeln, nicht wie bei uns, und sie haben das beste Fußballteam auf der Welt, und einen richtigen Palast mit einer Königin und Prinzen. Alle guten Dinge haben sie.“

„Ich will nicht, ich will hierbleiben.“ Assi klang wie einer, der die Welt bereist hatte und zurückgekehrt war und jetzt hierbleiben will, und dabei hatte er noch nie einen Fuß außerhalb unseres Viertels gesetzt. Als hätte er sich im Spinnennetz verfangen, das das Viertel gewoben hatte, sei es wegen des schlechten Rufes dieses Armenviertels, in dem es nur Ignorantentum und Verbrechen gebe – denn auch wenn es gar keine Verbrechen gab, sahen die Bewohner des Viertel doch immer so aus, als seien sie drauf und dran, etwas zu stehlen, sich zu schlagen, jemanden zu ermorden – oder sei es, weil jeder, der in diesem Viertel wohnte, an gewissen Gepflogenheiten des Viertels festhielt, wie etwa die Zucht von gewalttätigen Hunden, Eseln und Pfauen, oder an einer Zeitrechnung, in der die Uhren stehengeblieben sind. Sogar die Sprache dieses Viertels war anders, glitt mühsam aus der Kehle, wurde dem Körper nicht wirklich entrissen, verließ nie wirklich die irdische Welt.

Papa setzte sich aufs Sofa, seine Hand fuhr mit einer automatischen Bewegung durch seine Haartolle, und man konnte das leichte Zittern bemerken, und nachdem sie wieder auf der Stuhllehne lag, streckte er seine Finger aus, betrachtete sie, ein Häutchen wuchs zwischen ihnen. Er schaute zu uns auf und wurde sofort wütend, weil seine Kinder Zeugen seiner Schwäche geworden waren. „Dann kommt halt nicht nach London, muss ja nicht sein.“ Seine Stimme klang gequält. „Vergesst es, ihr versteht sowieso nichts vom Leben. Ich nehme andere Kinder dorthin mit.“

Wer auch nur einen Blick auf Papa warf, sah sofort, dass er nicht in unserem Viertel geboren, sondern als Einwanderer hier gelandet war, legal oder nicht, einer, der eine im Viertel Geborene geheiratet hatte, unsere Mutter. Nachdem sie geheiratet hatten, erhielten sie ein Haus im Hinterhof des Elternhauses, ein Holzhaus mit Asbestdach und wackligen Fensterläden. Davor hatte es als Lager gedient, dann war es das Zimmer von Urgroßmutter, bis diese starb, danach war es wieder ein Lagerhaus; in Luftaufnahmen sah es aus wie ein zufälliger schwarzer Punkt hinter Maulbeerfeigenbäumen. Nach der Hochzeit wurde das Haus renoviert, ein kleines Zimmer, eine kleine Küche und eine Dusche wurden angebaut. Es wurden auch ein Bett, ein Schrank und Nachttische gekauft, alles für das junge Paar.

Ich setzte mich auf seinen Schoß und hielt seine Hand, die mit dem Goldring. Ich werde mit dir kommen, Papa, hör nicht auf ihn, er ist nur ein kleines Kind, was brauchst du ihn überhaupt? Schau mich an, ich komme mit dir. Er knirschte mit den Zähnen, und ich fuhr mit fast unhörbarer Stimme fort, küsste ihn auf die Wange, so nah an seiner Haut, dass ich das Aftershave riechen konnte, womit er sich bespritzt hatte, Alexander der Große oder sowas. Ich war hartnäckig: Wie heißt der Fluss dort, Papa, in was für einem Boot wirst du segeln, sag es mir, wie tief ist das Wasser? Und die ganze Zeit lächelte ich ihn an, damit er das Maiskorn sehe, das er mir zwischen die Zähne gesteckt hatte, damit er sehe, dass ich es bewahre, wirklich!

„Ich fahre und organisiere uns ein Haus, und dann sag ich euch, ihr sollt kommen, aber bis dann bist du der Mann im Haus. Hast du gehört, Assi?“ Papa gab dem Blick in Assis blauen Augen nach. „Aber hör mit diesem Spielfahrzeug auf, das ist für kleine Kinder. Ich schick dir ein Auto mit Fernbedienung, gut?“

Mama wollte Assi in ihre Arme schließen, aber er stieß sie von sich, und Papa nutzte die Gelegenheit und zog ihn an sich, und ich hörte, wie er ihm zuflüsterte: „Einen Berg von Geschenken bringe ich dir. Und dann steigen wir, du und ich, auf das Dach. Zu unserem geheimen Platz dort, gut? Nur du und ich. Aber bis dann bist du der Wächter dieses Daches, und du bist der Wächter dieses Hauses, verstanden? Du bist der Mann, bis Papa zurückkommt.“

Papa machte immer mehr Versprechen über sein London, helle und frische, als schwebten sie auf dem weißen Schaum des Flusswassers und würden vor unsere Füße gespült, fügte ein paar Wörter auf Englisch hinzu und bat uns, sie nachzusprechen, Mama wischte Tränen weg, und dann sang Papa so etwas wie:

Imagine there’s only heaven It’s easy if you try

No hell below us Above only sky

Imagine of all the people I’m the only one, ahah, ahah

Imagine there’s no countries It isn’t hard to do Nothing to kill or die for Yoo hoo, hoo, hoo

Er begann zu lachen und steckte uns an, Assi und mich, und dann begann auch Mama zu lachen. Wenn ein Fremder von außen auf uns geschaut hätte, hätte er eine normale Familie gesehen, irgendwo in ihrem Haus versammelt, eine Familie, die alle Elemente hat, und die symmetrisch sind: Vater, Mutter, Junge, Mädchen. Er hätte verstanden, dass einer von ihnen auf dem Weg ins Ausland war, wegen der Koffer und der darin sauber zusammengefalteten Kleider, und er hätte auch beachtet, dass alle aufgeregt sind wegen dieser Reise, vielleicht teilen sie dieselben Erwartungen. Ja, so hätten wir diesem Fremden erscheinen können: eine ganz normale Familie, die sich ganz normal versammelt und ein normales Gespräch führt. Aber Papas Mund entwich plötzlich ein Fluch in einer Privatsprache, die er von seinem Zuhause mitgebracht hatte, und es gab keine Möglichkeit mehr zum Rückzug: Das Zauberwort war ausgesprochen, das Tor hatte sich geöffnet, und ein Abgrund lauerte dahinter auf uns.

Ich streichelte seine Wange, als er versprach, ganz, ganz bald Flugtickets zu schicken, da er nicht ohne uns leben könne, dann stand er auf, seine Arme hoben mich hoch in die Luft, und mein Körper gab sich hin und verlor auf einmal sein Gewicht, und als meine Beine so ohne Grund und Boden in der Luft hingen, flüsterte er, dass er mir ein Prinzessinnenzimmer im neuen Haus einrichten, das auf einen riesigen Park oder einen Wald hinausblicken würde, und ich könne auf dem Fenstersims sitzen und die kleinen Wildtiere beobachten, wie sie zwischen den Bäumen herumhüpften, und ich könne Schneeflocken pflücken, die sicher besonders für uns vom Himmel herabfielen und sanft in der Luft flögen, und auch ein großer Nachtisch, in der alle Abenteuerromane auf mich warteten, die jemals geschrieben wurden, flog auf den Flügeln seiner Versprechen. Und was noch, Papa? Sag weiter. Weiter. Nur mir sollst du all die schönen Sachen zuflüstern, wir werden zusammen Schneeflocken pflücken! Wie nichts wollte ich so zwischen Himmel und Erde schweben, für immer fest von seinen Armen umschlossen, und ich haftete sogar meine Lippen an sein Ohr und flüsterte, dass ich ihn liebe, dass ich ihn immer lieben werde.

Er entfernte mich von sich, und ich landete auf dem Boden. „Ich schwöre es“, sagte er und legte seine Hand auf Assis Kopf: „Auf dieses Haupt. Auf dieses Haupt schwöre ich dir, Mimi, auf das Haupt meines Sohnes schwöre ich, dass ihr in ein-zwei Wochen bei mir in London seid.“ Er sah Mama an, und sein Blick war voller Verführung, und Überredung, und einem Strudel von Erfindungen, wirklich!

Ich spuckte das Maiskorn in meine Hand und steckte es, mit Spucke vermischt und zerfallend, in seine Westentasche.

Michal Peer, Foto: Guy Shapira

Uri Shani ist in der Schweiz geboren und lebt seit 35 Jahren in Israel. Er ist professioneller Übersetzer für Literatur aus dem Hebräischen ins Deutsche. Sein "Übersetzer-Credo" könnt ihr im Link nachlesen:

0 0 Abstimmung
Article Rating
Abonnieren
Informieren Sie mich
guest
1 Comment
Älteste
Letzte Am meisten gewählt
Meinung innerhalb des Texte
Alle Kommentare ansehen
Rosebud
Rosebud
4 Jahre

Sehr schoen! Es erinnert mich an die „Neapolitanische Sage“ von Ellena Ferrante, mit Sued Tel Aviv anstelle von Neapel…

Vorherigen Artikel

Taschlich

Nächsten Artikel

Slichot – Bitte um Vergebung

Spätestens abBlog

Ende und Anfang

Seew, ein Mossadagent auf dem Höhepunkt seiner Karriere und in der Mitte seines Lebens, erkrankt plötzlich

1
0
Was denken Sie? Wir würden gerne Ihre Meinung erfahren!x