Israel, Roman, Tamara Avner

Lügen aufm Dachboden

Rakefet Auerbach, Psychiaterin im Militärgefängnis Nr. 4 (neben Rischon leZion), von deren Bruder es heißt, er sei im Oktoberkrieg 1973 als Held gefallen, zieht aus, um die Umstände seines Todes zu erforschen. Außerdem erforscht sie auch die Machenschaften eines Juristen, der den Familien der Gefallenen die schreckliche Nachricht näherbringt. Beide Handlungen verstricken sich in einem Monolog in rasender Geschwindigkeit, in dem sich der bemerkenswerte, infantile, lügnerische, provokative und humorvolle Charakter von Rakefet Auerbach offenbart. Während sie aus dem familiären Dachboden alle Lügen ans Licht zerrt, verstrickt sie alle um sie herum im Netz ihrer eigenen Lügen, macht sich schuldig und verliert den Verstand auf eine Weise, die den Leser unweigerlich dazu bringt, sich in sie zu verlieben.

Tamara Avner ist Militäranwältin a.D., mit akademischen Titeln in Justiz, Schriftstellerin und Dichterin.

Tamara Avner, Roman, Israel,

Tamara Avner: Lügen aufm Dachboden

Übersetzung: Uri Shani

Ich? Ich fange mal beim Anfang an. Beim Anfang vom Anfang. Man kann ja nie wissen, wieviel Zeit ich habe, um alles niederzuschreiben, also ist es am besten, wenn ich gleich anfange, und ich hoffe, ich bringe es zu Ende, bevor die Obrigen beschließen mich einzuengen, noch bevor sie mich gänzlich zerschmettern. Also jetzt fange ich an.

Bei der Geburt. Sogar noch davor, ich fange bei der Befruchtung an. Dass ihr mir nicht kommt. In meinem Fall erklärt das einiges.

Ich wurde gezeugt, um im Schatten von Zwi Israel Auerbach zu leben. Zwika. Zwi Israel, der Eine und Einzige, und schade, wussten meine von Enttäuschung zerfressenen und auf Hoffnung versessenen Eltern nicht, dass es keinen Ersatz für ihn gab und nie geben wird. Aber ich – von allen verschrumpften und greinenden Eizellen in der Gebärmutter meiner Mutter, von allen beklommenen Spermien meines Vaters, die wie verrückt und verängstigt schwammen, um als erste anzukommen und meine Mutter zu befriedigen, die nie befriedigt war, um ihren unbändigen Hunger zu stillen – wurde ausgewählt, um an seiner Statt zu leben. Ich war es, die in der von Schmerz gezeichneten Gebärmutter meiner Mutter zusammengesetzt wurde, um gezücktes Schwert zu sein gegen den Sehnsuchtshunger, der sein bestialisches Haupt in den schweren Stunden der Nacht reckt, in den ungewöhnlichsten Momenten während des Tages, bei Geburtstagen, bei Gedenktagen, während der Sirene am Gedenktag für die gefallenen Soldaten, während der Sirene am Gedenktag für die Opfer der Shoa, beim Schofargeblase am Jom Kippur, während der Warnsirenen bei Militärübungen, wenn ein Lastwagen kreischend bremst, wenn ein Motorrad auf der Autobahn vorbeibraust, beim Ticken einer Uhr und beim Gekreische des Weckers – eine gezündete Rakete gegen die gierige Bestie der Sehnsucht, die bei jeder Gelegenheit ihre Fratze zeigt, auch, und vielleicht gerade, wenn sie nicht gerufen wurde. Ich war es, die stramm stand, die dem Ruf gehorchte, die quälende Lust der Miriam Auerbach geborene Schulweiss auf ein Kind zu stillen. Und so geschah es, dass ich, Rakefet Auerbach, aus der Begegnung eines verschwitzten und nach Ruhe gierigen Spermas und einer verbitterten und mürrischen Eizelle, die sich in der letzten Hoffnung auf seelisches Gleichgewicht an ihn klammerte, gebildet wurde; so wurde ich in einer heißen Sommernacht erzeugt, auserwählt, die Gedenkfackel des Zwi Israel alias Zwika, meines Bruders, des gefallenen Kriegshelden, der überstürzt am Ausgang des Jom Kippur im Jahr 1973 aus seinem Zimmer verschwand und nie wieder zurückkam, hochzuhalten.

Und entschuldigt bitte das Pathos. Verzeiht, wenn es sich zynisch oder ironisch oder so anhört. Viel tausend mal Entschuldigung. Denn das ist es wirklich, und so soll es sich auch anhören. Und so bin ich, oder zumindest: so kann ich sein – erregt und direkt wie eine Schulrektorin vor der Menstruation, also bitte gewöhnt euch schon jetzt daran, oder schließt das Buch, das ihr sowieso in irgendeiner Ausverkaufsaktion der Verlagsketten gekauft habt, und kehrt zurück in euer bürgerliches und langweiliges Leben.

In jener Zeit, nach dem Krieg, bedrängten die Flügel des militärischen Sozialwesens – die Abteilung für Kontakt mit den Familien, die Offizierinnen der militärischen Sozialfürsorge und die Abteilung für Kriegsopfer – die Kriegsopferfamilien noch nicht mit Spermaspritzen in den Arsch und zitternden Eizellen in Retorten. „Die heilige Dreifaltigkeit“, so nenne ich sie heute. In den Jahren nach Oktober 1973 begnügten sie sich mit häufigen Hausbesuchen, die immer seltener wurden; eine verschwindend kleine Minderheit von Eltern wandte sich an psychologischen Beistand, der geheim und absolut diskret war, damit sie Gott behüte nicht als abnormal abgestempelt würden, und schließlich beschränkte sich die Aktivität der Abteilung für Kriegsopfer nur noch auf die monatliche Bezahlung, ein alljährliches Treffen, eine Zeremonie im Hain der Gefallenen und dann und wann mal ein Telefongespräch.

Heute hat man schon dazugelernt, die Behandlung des Einzelnen hat sich verbessert, und etwa bei der  zweiten oder dritten Begegnung nach Enthüllung des Grabsteines, schlagen sie – alle Flanken der Dreifaltigkeit – den Müttern der Gefallenen schon vor, ein weiteres Kind auf die Welt zu bringen. Sanfter physischer Druck*, damit der Ersatzbruder den Druck der Familien auf sie selbst mildere, der mit den Jahren immer grösser wurde, Familien, die aus der Sicht der Dreifaltigkeit ihnen mit ihrem Geschwätz nur die Zeit vergeudeten, mehr und mehr Informationen forderten, und Entschuldigungen, Beteiligung, Geld, Respekt; damit das gut geschmierte System, das nur an Burgfrieden interessiert ist, sich nicht mit Familien herumschlagen müsse, die ihre Nasen belästigend in die militärischen Verfahren, die die Umstände des Todes ihres Sohnes untersuchten, steckten, die eine Änderung der Worte auf dem Grabstein wollten, die gerichtliche Verfahren gegen verantwortliche Kommandanten forderten, die die Karrieren dieser Kommandanten stoppten und überall Major und Oberste von ihrem Sockel holten. Mit einer Spritze in der Hand ist die Dreifaltigkeit bereit, deine Eizellen herauszusaugen und dem elenden Vater seine Sperma herauszupressen, damit ein neues Baby sie von der bezwingenden Leere, die zwischen den Mauern des Hauses wütet und diesen ganzen das System durcheinanderbringende Wahnsinn hervorruft, ablenke.

Bei mir geschah es spontan. Ein unbeherrschbarer Zwang, stumpf und spontan, von zwei Eltern, und noch bevor das Blut auf der Uniform ihres Sohnes getrocknet war, trocknete schon das Sperma auf den Baumwollbettlaken in ihrem Schlafzimmer. Ja wirklich. Ich bin elf Monate nach seinem Tod geboren. Ihr könnt selbst nachrechnen.

Während des ganzen Sommers aß Vater Wassermelone in Unterhosen auf dem Balkon. Er, mit seinen weißen Unterhosen, auf dem Plastikstuhl auf dem zwei mal sechs Meter großen Balkon in der Uzielstrasse in Ramat-Gan, und roter Wassermelonensaft tropfte auf seine behaarten Brüste. Im Winter, wenn er nicht saß und auf irgendeinen Punkt auf der Straße blickte, stanken er und alles um ihn herum nach Wurst. Die Klinke des Subaru. Der Schalter am Fernseher. Die Seife im Badzimmer. Die Decke in ihrem Schlafzimmer, sogar meine Zahnbürste.

Ich erinnere mich. Ich war achteinhalb, als er einen Herzinfarkt erlitt. Ich erinnere mich an den Wurstgeruch, der immer noch an allen Sachen im Haus hing, lange nachdem man ihn auf der Bahre durch das dunkle Treppenhaus alle Treppen hinunter führte. Ich stand wie der Zeremonienmeister am Herzlberg am Unabhängigkeitstag und drückte auf den Lichtschalter wieder und wieder, bis sie es schafften, die Bahre mit den beiden Füssen, die hinausrutschten, aus dem Haus zu manövrieren und ihn mit Blaulicht die Straße hinunter wegbrachten. Ich erinnere mich. Ich stand ja da. Ich war achteinhalb, und mein Vater übergab sich auf den Teppich im Wohnzimmer, und dann sagte er Miriam Miriam ich fühle mich unwohl, Miriam, und dann fiel er um. Es war abends, nach dem Abendessen und vor dem Fernseher. Ich war achteinhalb, und ich erinnere mich an alles.

Als Vater aus dem Spital zurückkehrte, als er zum ersten Mal durch die Tür kam, ignorierte er den Altar links neben ihm und ging weiter – ohne sich zu verbeugen, ohne eine Gedenkminute lang strammzustehen – direkt ins Schlafzimmer, um seine Kleidung in Unterwäsche zu wechseln. Wenn ich Altar sage, meine ich damit das Abbild von Zwika, dreißig auf vierzig Zentimeter, das auf einem Tischchen stand, und darum herum lagen schön geordnet sein Rotes-Kreuz-Zeugnis, die Medaille, die er erhielt, als er den zweiten Platz im Schachtournier errang, das Zeugnis summa cum lauda vom Konservatorium, und auch ein Fossil, das sich in seiner Jeanshose befand, und natürlich ein Kranz von frischen Blumen von der jeweiligen Saison, wie wenn es eine japanische Weihestätte wäre.

Es geschahen zusätzliche Dinge, nachdem Vater zurückkam.

Der Wurstgeruch verschwand. Auch die Angst, die sich zwischen seinen Augenbrauen festgesetzt hatte und das ständige Bedürfnis, den Wünschen meiner Mutter nachzukommen, verschwanden. Stattdessen breitete sich auf seinem Gesicht ein Lächeln aus, ein wenig verwirrt, und sein Blick war irgendwie verschmitzt, konstant. Heute, mit meiner klinischen Erfahrung, kann ich euch drei verschiedene Erklärungen für dieses Phänomen geben – Verleugnung, Überlebensdrang, depressive Verdrängung, zum Beispiel – aber das ist jetzt nicht die Zeit, mit meinen diagnostischen Fähigkeiten anzugeben. Ihr werdet noch erfahren, wie tief ich in die menschliche Seele sehe. Gebt mir nur ein wenig Zeit, und alles wird klar sein.

Außerdem begann meine Mutter, Hosen anzuziehen, die ihren riesigen Hintern umschlossen und die sie wegen dessen Umfang bisher nicht anzog, und zwei farbige Kondome wurden in ihrem Nähkästchen gefunden.

Ich fand sie. Schon immer hatte ich die Gewohnheit, Späh- und Suchaktionen im Haus durchzuführen. Ich begann im elterlichen Schlafzimmer, dann im Wohnzimmer, danach in den oberen Küchenschränken und im Abstellzimmer und schließlich im Dachboden. Ich bestieg die Holzleiter, die immer am Rollladen des Balkons lehnte, schob die Tür zum Dachboden zur Seite – eine beachtliche Anstrengung für ein Mädchen in meinem Alter – und wühlte. Dort fand ich, eingewickelt in feuchtes Pergamentpapier, die Zahnspange meines toten Bruders Zwika. Ich legte sie sofort zurück, fast angewidert.

Ich ging ins Schlafzimmer meiner Eltern zurück. Erstaunlich, wie diese Frau völlig unpassende Dinge an den unpassendsten Orten versteckte.

In ihrer Unterhosenschublade fand ich manchmal Geld – Banknoten und auch Münzen – und nicht immer israelisches. Zwischen den Röcken und den Jupes fand ich durchsichtige Beutel mit Briefen drin, die aussahen wie englische Gedichte, oder vielleicht in einer anderen Sprache, die ich wegen der Handschrift nicht lesen konnte. Zwischen den Schuhkartons, in denen im Sommer die Winterschuhe und im Winter die Sandalen verstaut wurden, fand ich alle möglichen Schmuckkästchen, mit farbigen Ketten aus Südamerika oder aus einem anderen von Lebenslust strotzenden Land in einem anderen Kontinent. Und eines Tages, während eines umfassenden Unternehmens Barbarossa, das ihren zusammenklappbaren Nähkasten mit einbezog, fand ich auch die beiden Kondome, violett und rot, die ich sofort aus dem Film „Eis am Stiel“ erkannte. Nicht dass ich im Alter von neun Jahren genau gewusst hätte, wozu sie dienten, und nach all den Jahren ist mir eigentlich immer noch nicht klar, wozu sie dienten – denn meine Mutter war ja damals mindestens 46 Jahre alt, was um alles in der Welt ging ihr also durch den Kopf, dass sie die heilige Maria sei oder was? – aber ich wusste auf jeden Fall, dass es etwas höchst Obszönes war und dass es auf keinen in den Nähkasten meiner Mutter gehört.

Zwi Israel erhielt die beiden idiotischsten Namen, die sich meine Eltern einfallen lassen konnten. „Zwi“ nach dem Zwillingbruder meiner Mutter, der im Alter von vier Jahren an einer Hirnhautentzündung gestorben war. „Israel“ war der Name von Vaters Onkel, der die Tore von Auschwitz öffnete und schloss. Ein paar Monate, nachdem er auf einem italienischen Schiff der illegalen Einwanderung in Palästina ankam, fing er einen Fisch im Hafen von Jaffa, und als er ihn zum Braten vorbereitete, wurde er von einer Gräte des Fisches gestochen, fieberte drei Tage und starb.

Und jetzt geht und nennt euren Sohn Zwi Israel nach diesen zwei familiären Ikonen, und hofft auf was Gutes. Ihr könnt auch „Herr aller Heerscharen“ hinzufügen, wenn ihr nicht sicher seid, ob ihr genug stark auf den letzten Sargnagel geklopft habt.

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*der „sanfte physische Druck“ ist im Hebräischen seit 1987 ein geflügeltes Wort geworden, als damals eine Kommission dem Geheimdienst in extrem wichtigen Fällen („die tickende Bombe“) „sanften physischer Druck“ (sprich: Folter) erlaubt hat. Dieser Entscheid wurde dann vom Hohen Gerichtshof zehn Jahre später wieder aufgehoben, als jede Folter verboten wurde. Überflüssig zu erwähnen, dass sich die Geheimdienste wenig um den einen oder den andern Gerichtsentschluss kümmern. (U.S.)

Uri Shani ist in der Schweiz geboren und lebt seit 35 Jahren in Israel. Er ist professioneller Übersetzer für Literatur aus dem Hebräischen ins Deutsche. Sein "Übersetzer-Credo" könnt ihr im Link nachlesen:

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Caro Barkan
Caro Barkan
5 Jahre

Oh das war suuuuper. So richtig echt und super geschrieben/übersetzt. Ich möchte unbedingt weiterlesen….

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