Nurit Borger-Yanai beschreibt sich als fröhliche und menschenfreundliche Frau, Mutter von fünf bezaubernden Kindern, Empowerer von Frauen und Männern durch Workshops und Exkursionen, Reiseleiterin, Radiomoderatorin und Künstlerin.
„Das Dreieck der Hexe“ (Niv, 2020) ist eine Sammlung von Geschichten über Reisen und über das Leben. Jede Geschichte führt den Leser in eine andere Welt, zu anderen Figuren, zu anderen Orten, London, Paris, Afrika, in den Zitrushain und in die Negew-Wüste, in die Stadt und ins Dorf. „Zu den Geschichten wurde ich von Menschen und Orten inspiriert, zum Teil kamen sie zu mir auf überraschende Weise und schrieben sich ohne Pause, ein Teil sind fantastische Legenden, die sich in einer anderen Welt abspielen. Und trotzdem erzählen sie, was ich erlebt habe.
Ich verspreche jedem, der das Buch lesen wird ein Erlebnis wie mit einem Zauberhut, mit dem er jedes Mal zu einem anderen Ort und in eine andere Welt fliegen wird.“
Pinguin
von Nurit Borger-Yanai
Übersetzung: Uri Shani
Du gehst der Straße entlang, der Kopf auf den Gehsteig gesenkt, das Herz schwer, die Gedanken düster – und plötzlich stößt du mit einer beleuchteten Reklametafel zusammen. „Achch“, ein Seufzer entweicht dir, und du reibst dir die Stirn. Eine kleine Beule beginnt sich dort zu formen. Du gehst zwei Schritte zurück und betrachtest die Reklame, mit der du zusammengestoßen bist, und siehe da, vor dir steht in seiner ganzen Pracht ein Pinguin. So ein majestätischer Pinguin, mit Eis um ihn herum und vielen Pinguinen im Hintergrund. In großen Lettern steht da eine Frage:
Was wird dir geschehen, wenn du einen Pinguin treffen wirst?
Du liest noch einmal die Frage und stellst dir einen Moment lang die Situation vor, wie du mit warmen Kleidern am Pol spazierst und plötzlich einen Pinguin triffst. Und obschon der Kopf noch immer schmerzt, und die kleine Beule schon nicht mehr so klein ist, stellst du dir vor, dass du dort mit deiner Partnerin spazierst (die du momentan nicht hast, und das betrübt dich für einen Moment, ein Gedanke im Gedanken), ihr geht also im Zoo in Jerusalem spazieren, der „der biblische Zoo“ heißt, … nein! Im Zoo in Berlin – wenn schon Fantasie, denn schon, denkst du – also ihr spaziert „engagés“ im Zoo in Berlin, leckt ein kaltes Eis und trefft einen Pinguin, der frei im Zoo herumläuft… dieser Gedanke ist zu fantastisch, rügst du dich, seit wann laufen die Pinguine frei im Zoo herum?!
Moment, sagst du dir, jetzt gerade habe ich einen Pinguin getroffen. Es war ein fotografierter, auf einem Reklameschild, aber trotzdem ein Pinguin…
‚Was ist mir also widerfahren, als ich den Pinguin traf?‘ fährst du fort, dich zu fragen, und die Beule an der Stirn schmerzt noch immer, aber es scheint dir, dass du dich daran gewöhnt hast.
Du setzt dich auf eine Bank, von der du das Reklameschild mit dem großen Pinguin sehen kannst. Du schließt die Augen und erinnerst dich, was heute bisher geschehen ist.
Du bist am morgen aufgewacht, ein bisschen später, als du wolltest, bist in die Dusche gegangen, es gab kein warmes Wasser. Du warst frustriert, hast schnell den Körper mit kaltem Wasser gewaschen, was dich aber in Form gebracht hat, und hast etwas angezogen, das du aus dem Schrank geholt hast. Ein bisschen zerknittert, aber nicht weiter schlimm. Du hast die Finger auf die Wange gelegt, ’na ja, ich muss mich rasieren‘, hast du gedacht, aber dann hast du beschlossen, es am Abend zu tun. Dann hast du die Tasche genommen und bist auf die Straße gegangen.
Du wusstest, dass deine Arbeitgeberin auf dich wartet, für ein Gespräch, das abgemacht war. Du gingst schnell, hast die Straße diagonal überquert und bist fast überfahren worden. Aber du bist noch am Leben. Du bist in das dunkle Gebäude getreten, hast im Dunkeln den Aufzugsknopf abgetastet. ‚Ich muss eine andere Arbeit finden‘, hast du bei dir gedacht, als dich der Aufzug in den fünften Stock hinaufbrachte. Von dort bist du im schmalen Korridor zum Büro von „Schlomit Schabiro, diplomierte Buchhalterin“ gegangen, hast die Glastür aufgestoßen, und sie hat dich durch die riesige Brille angeschaut. „Ah, du bist es. Gut, es tut mir leid, du bist gefeuert.“ Du warst baff, bist einen Moment lang wie angewurzelt gestanden und hast die Nachricht verdaut, bist in den Korridor zurückgegangen, zum Aufzug, auf die Straße, bist niedergedrückt nirgendwohin gegangen. Der Kopf gesenkt, das Herz schwer, die Gedanken düster. Und dann bist du mit dem Reklameschild zusammengestoßen – „Was wird dir geschehen, wenn du einen Pinguin treffen wirst?“
Und obschon du vor den Kopf geschlagen wurdest, hast du gelächelt, und die Endorphine wurden ausgeschüttet. Du hast dir vorgestellt „Was würde geschehen, wenn…“, und es wurde dir wohl. Und dann hast du dich auf die Bank gesetzt, hast dich an deinen Tag erinnert und wurdest traurig.
Diesen Moment wirst du nicht vergessen: Du hast die Passanten angeschaut: die niedergefallenen Schultern, der Hals, der dazwischen versteckt ist. Sie gehen, ohne einen Blick mit den Anderen zu wechseln, beeilen sich zu ihren Geschäften, sehe aus genau wie… Pinguine.
Und wieder hat sich ein Lächeln auf Deinem Gesicht ausgebreitet, und eine reizende junge Frau, die vorbeigegangen ist, hat dir ein Lächeln zurückgeworfen. Auch eine ältere Frau hat gelächelt, und ein alter Mann mit Brille setzte sich neben dir auf die Bank. „Ich sehe, dass du einen wundervollen Tag hast“, sagte er und begann ein Gespräch. Du hast ihn erstaunt angeschaut, ein Pinguin-Lächeln aufgesetzt und mit dem Kopf genickt wie ein verliebter Pinguin. Der Alte lächelte zurück und bot dir die Hälfte seines Brötchens.
Hunderte von Pinguinen überfüllten die Straße. Ihre Stimmen waren laut, wie in einer Arbeiterversammlung. Und du saßest auf der Bank und hast wie ein großer Chief gelächelt. „Das ist es also, was dir geschieht, wenn du einen Pinguin triffst“, sagte sie dir und drückte den dicken Schal an ihren Hals.
Du betastest die Stirn – die Beule war weg, und mit ihr der Schmerz.
Ach, wie schön ist es, in der Welt zu reisen – wenn auch nur über Seiten in einem Buch… übrigens trifft man in Israel zwar keine Pinguine, aber dafür Störche (im Huldatal), Wildschweine (man kann in Haifa kaum eine Straße entlang gehen, ohne sie zu treffen) und auch Hirsche, die wegen dem Lockdown weniger überfahren werden, was ihre Lebenserwartung um ein Vielfaches erhöht hat…