Matzmichim ist eine Non-Profit-Organisation, die in Israel von einem Düsseldorfer gegründet wurde, um gegen die Gewaltbereitschaft an den Schulen anzukämpfen. Lest hier einen Beitrag von einer Praktikantin über diese Organisation.
von Jennifer Bayer
Manchmal kommt es anders als geplant… über mich und meine Zeit in Israel
Gerne stelle ich mich einmal kurz vor. Ich bin eine 23-jährige Studentin aus der Nähe von Stuttgart. Ich studiere Soziale Arbeit im Bachelor und bin derzeit im Praxissemester. Schon von Anfang des Studiums stand für mich fest, dass ich mein Praxissemester gerne im Ausland absolvieren möchte.
Vor einem guten halben Jahr habe ich mich dann dazu entschieden, für 5 Monate bei der Non-Profit-Organisation Matzmichim zu volontieren. Dieser Entschluss ging mit meiner Begeisterung für das Land Israel und gleichzeitig der Möglichkeit, die Arbeitsweise einer Non-Profit-Organisation im schulischen Kontext kennenzulernen, einher. Nach einem unkomplizierten persönlichen Gespräch mit Yony Tsouna, zu dem ich später noch mehr schreiben werde, stand sehr schnell fest – ich werde ein halbes Jahr in Israel verbringen.
Da hat mir leider das Corona-Virus einen Strich durch die Rechnung gemacht. Nach dreieinhalb Wochen Israelaufenthalt habe ich mich dazu entschieden, das Land wieder zu verlassen. Hauptgrund dafür war, dass ich aus Quarantänegründen leider nur von meiner kleinen Wohnung – ohne Balkon, aus arbeiten durfte und dies auf ungewisse Zeit. Dennoch ist mein erster Eindruck der Organisation sehr positiv. Wir Volontärinnen (ich und ein Mädchen aus Österreich) wurden mit Schokolade und israelischem Kaffee herzlichst empfangen von einem kleinen Team von sieben Mitarbeitenden, die in den drei Tagen, wo ich im Office war, jedoch nie alle gleichzeitig anwesend waren. Und auch während der Quarantänezeit und meiner Zeit hier in Deutschland, habe ich das Gefühl gut umsorgt zu sein und jederzeit jede/n MitarbeiterIn bei Unklarheiten Fragen stellen zu können. Dank Social Media und diversen Computerprogrammen ist es für mich möglich, fast uneingeschränkt weiter für Matzmichim vom deutschen Sofa aus zu arbeiten. An dieser Stelle möchte ich kurz einige meiner Arbeitsbereiche beleuchten: ein großes Arbeitsgebiet stellt Öffentlichkeitsarbeit dar (bearbeiten der Website, ich durfte bereits einen kleinen Werbeclip und Flyer erstellen), besonders spannend finde ich die Netzwerkarbeit und das Kooperieren mit anderen Stiftungen, Hochschulen/ Universitäten und Non-Profit-Organisationen, mithilfe von Literaturrecherche werden die pädagogischen Konzepte von Matzmichim stets auf dem neusten Stand gehalten und ich kann mein persönliches Wissen über aktuelle pädagogische Methoden zur Gewaltreduzierung, aber auch über Gegebenheiten an israelischen Schulen erweitern. Dies sind nur meine Hauptaufgabengebiete, an welchen sich jedoch eine Vielfalt erkennen lässt. Mein Praxissemester wird im August dieses Jahrs zu Ende gehen und somit wird diese Freiwilligenstelle frei. Wenn dich meine Beschreibungen der Arbeit bei Matzmichim angesprochen haben, fühle dich frei uns eine Mail zu schicken. Ich würde mich riesig freuen dir im Sommer dieses Jahrs noch mehr über Matzmichim erzählen zu dürfen! Auch gebe ich die Hoffnung nicht auf, doch noch nach Israel reisen zu können, wenn sich die Situation wieder beruhigt hat.
Nun aber genug über die Non-Profit- Organisation MATZMICHIM.
Geschichtlicher Hintergrund von Matzmichim
Zunächst möchte ich ein paar Hintergrundinformationen aufzeigen, wie sich Matzmichim im Laufe der letzten Jahre entwickelt hat. Mercaz Matzmichim lautet der heutige hebräische Name des Israelischen Instituts für Friedenspädagogik, das der gebürtige Düsseldorfer Georg Rößler vor mehr als 15 Jahren gegründet hat. Einige Jahre war er als „Deeskalationstrainer“ im schulischen Bereich in Nordrhein-Westfalen tätig. 1988 wanderte Georg Rößler nach Israel aus und fasste den Gedanken, eine Organisation ins Leben zu rufen, in welcher er seine beruflichen Kenntnisse mit einbringen wollte. Gesagt, getan. Im Dezember 2003 gründete er das SOS Gewalt – Zentrum für Friedenspädagogik in Israel in Form einer gemeinnützigen Nichtregierungsorganisation, welche im kommenden Jahr auch ins Vereinsregister aufgenommen wurde. Als Vorbild diente damals die Gewaltakademie Villigst (Westfalen), unter deren Dach sich eine Vielzahl von Organisationen aus dem Bereich der Gewaltprävention zusammengeschlossen haben.
Georg Rößler entschloss sich dazu, seine Erfahrungen und sein Wissen an andere Organisationen weiterzugeben und sich auch selbst dort weiterzuentwickeln. Deshalb ist er bei Matzmichim etwas in den Hintergrund gerückt und hat dem israelischen CEO Yony Tsouna das Steuer übergeben. Dieser steckt mit Herzblut Zeit und Engagement in den Aufbau und die Weiterentwicklung von Matzmichim. Yony ist gelernter Anwalt. Diese Karriere hat er an den Nagel gehängt, um sich aus persönlicher Überzeugung der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen zu widmen. Besonders beschäftigt er sich mit dem Thema Cyber-Mobbing, weshalb er vor 2 Jahren zur Gewaltreduktion im Netz auch ein Buch veröffentlicht hat. Leider sind Zurzeit nur einzelne Kapitel auf Deutsch und Englisch erhältlich, weshalb ich selbst noch nicht die Möglichkeit hatte, es komplett zu lesen. Dennoch bin ich davon überzeugt, dass Cyber-Mobbing eine entscheidende Rolle für die heranwachsende Generation spielt. Gerne möchte ich auf dieses Thema in einem folgenden Artikel genauer eingehen.
Nun aber zurück zur Entwicklung von Matzmichim. Das langfristige Ziel von Matzmichim ist es, Friedensvorbilder zu schaffen. Dies soll erreicht werden, indem an Schulen eine gewaltfreie Haltung etabliert wird, wodurch ein sicheres und offenes Klassenzimmer geschaffen werden soll. Damit dieses Bestreben erreicht wird, bietet Matzmichim 1 bis 3-tägige Workshops an Schulen für pädagogische Fachkräfte, SchülerInnen und auch Eltern an. An dieser Stelle möchte ich auf anfängliche Herausforderungen hinweisen. Die Anfänge von Matzmichim waren mehr als holprig. Es dauerte einige Jahre, bis sich die Arbeit der Organisation langsam über Pilotprojekte an israelischen Schulen einschlich, dort Vertrauen aufbaute und sich schließlich landesweit etablierte. Die anfänglichen Schwierigkeiten lagen hauptsächlich an drei Faktoren: Zum einen mussten für einen Workshop drei ganze Schultage „geopfert“ werden. Zum anderen musste die Schule den zwar geringen, aber dennoch vorhandenen Eigenkostenanteil stemmen. Letztlich ist ein Gewaltinterventionsprogramm mit der Herausforderung verbunden, sich einzugestehen, dass Gewalt nicht nur ein abstraktes Problem darstellt, sondern auch im eigenen Hinterhof vorkommt und angegangen werden muss.
Erfolge von Matzmichim
Mittlerweile hat Matzmichim über 80 000 SchülerInnen erreicht, in den letzten Jahren waren es 17- bis 20 0000 SchülerInnen pro Jahr, die durch Workshops an Schulen erreicht wurden. Ich finde das eine beachtliche Anzahl! Dazu kommen etwa 25 000 pädagogische Fachkräfte, die durch Fortbildungen an Hochschulen und Universitäten (übrigens auch in Deutschland) die pädagogische Arbeit von Matzmichim kennenlernen durften. Matzmichim entwickelt das pädagogische Konzept anhand von Evaluationsbögen fort.
Hierbei möchte ich hervorheben, dass die Evaluationen nicht nur von der Organisation Matzmichim selbst erhoben werden, sondern auch von unabhängigen Einrichtungen. Die Evaluationen, welche anhand von Fragebögen an SchülerInnen und LehrerInnen erhoben werden, lassen klare Erfolge rauslesen. Im Jahr 2019 bestätigten 71% der Lehrkräfte, dass sich die Klassenatmosphäre und auch die Beziehung der Lehrkraft zur Klasse nach dem 3-tägigen Workshop anhaltend verbessert habe (TNS Evaluation 2019).
Ein Junge aus der achten Klasse, der schnell explodiert, wenn ihm etwas nicht passt, sagt nach einem Gespräch mit dem Trainer: „I decided I want to try and make a change“ (Ich habe mich entschieden, ich werde mein Verhalten ändern). Ein anderes Zitat von einem Mädchen aus der fünften Klasse:“The workshop made me say what I wanted to say long time and didn’t have the courage to do so” (Der Workshop hat mich dazu gebracht das zu sagen, was ich schon lange sagen wollte, wozu mir jedoch der Mut gefehlt hat). Generell ist zu sagen, dass die SchülerInnen begeistert von den Workshops waren (Report von Matzmichim 2019).
„Softies“ werden zu neuen Helden
Matzmichim bedeutet sinngemäß ins Deutsche übersetzt „Stärken“, „wachsen lassen“ oder „Kinder stark machen“. Im Englischen nennt sich die Non-Profit-Organisation Uplifters. Der englische Name gilt auch als Kennzeichen für die Organisation, was auch an unserem „Uplifters- Modell“, welches unsere pädagogische Vorgehensweise genauer beschreibt, ersichtlich wird. Was steckt genau hinter diesem Ausdruck? Das pädagogische Konzept von Matzmichim basiert auf Forschungen von Dr. Robert Faris, einem international anerkannten Soziologen aus den USA, der sich unter anderem mit dem Thema Gewalt und Verhaltensauffälligkeiten von Jugendlichen beschäftigt. Wahrscheinlich gehen viele Leute davon aus, dass Jugendliche aus einem sozial schwach gestellten Elternhaus, am meisten dazu neigen gewalttätig zu werden. Aus den Forschungen von Dr. Robert Faris, in welchen er über einen langen Zeitraum Jugendliche befragt hat, geht jedoch genau das Gegenteil hervor: Demnach nutzen beliebte Jugendliche (also meist Jugendliche aus der sozialen Mittel- und Oberschicht) ihre Macht aus, um Schwächere MitschülerInnen auszugrenzen. Dr. Robert Faris zu Folge besteht ein Zusammenhang zwischen Mobbing, Anerkennung und Macht von Jugendlichen, sowie dem sozialen Status. Jugendliche mit einer hohen Anerkennung gebrauchen ihre Macht im Klassenverbund um andere MitschülerInnen zu mobben. An dieser Stelle setzt Matzmichim mit einer Umbewertung von Werten ein: Positives Verhalten soll zur Norm werden. Mit dieser Veränderung, dass positives Verhalten zur Norm wird, wird eine Kettenreaktion in Gang gesetzt. Denn so verändern sich auch Vorbilderrollen im Klassenverbund. Auf einmal werden positive Charaktereigenschaften auch bei ruhigeren SchülerInnen mit weniger Anerkennung entdeckt und somit haben auch „Softies“ die Möglichkeit zu neuen Helden zu werden.
Hat Matzmichim euer Interesse geweckt? In 2 Wochen werde ich näher auf aktuelle Zahlen, Konzepte eingehen und euch auch eine Methode vorstellen die ihr selber anwenden könnt.
Bis dahin könnt ihr schon einmal unsere Webseite durchstöbern
Hier geht es zum zweiten Teil aus dieser Hintergrundserie: Teil 2 – Mobbing in Israel.
Lebst du in Israel und hast du interessante Einsichten, die du in einem Gastbeitrag mit unseren Lesern weltweit teilen möchtest? Dann melde dich an die Redaktion und sag Bescheid! redaktion@re-levant.de
Sehr interessante Organisation. Ich muss zugeben, dass ich seit 20 Jahren in Israel lebe, aber bis zu diesem Artikel nicht vob ihr gehoert habe…
[…] Im letzten Artikel habe ich mich und den geschichtlichen Hintergrund der Non-Profit-Organisation Matzmichim vorgestellt. In diesem Artikel möchte ich euch gerne die Inhalte und Methoden der Workshops von Matzmichim vorstellen. Mit dem Fokus auf einer großen Herausforderung im schulischen Alltag – Mobbing. Mobbing ist ein englischer Begriff und bedeutet übersetzt anpöbeln, fertigmachen. Es ist eine Form der Gewalt, die direkt oder indirekt, verbal, psychisch und physisch gegen eine Person ausgeübt wird. Oftmals findet Mobbing wiederholt statt und führt zur sozialen Ausgrenzung. Mobbing kann sogar so weit gehen, dass sich Betroffene das Leben nehmen. Daher ist es von enormer Bedeutung dieses Thema so früh wie möglich Kindern und Jugendlichen näher zu bringen und darüber zu diskutieren. […]
[…] den letzten beiden Artikeln (Teil 1, Teil 2) habe ich die Nonprofit-Organisation Matzmichim vorgestellt und die pädagogischen […]