Yael Schachnai hat den „Rimonim“-Verlag gegründet, ist Schriftstellerin und Lektorin und lebt in Tel-Aviv.
„Böser Bub“ erschien 2017 (Kinneret-Zomra-Bitan). Tragödie in einer normativen Familie: Der älteste Sohn, 19 Jahre alt, wird verhaftet unter Verdacht, dass er einen Mord begangen hat, als er 17 Jahre alt war. Die Erzählerin ist die Mutter, Eva. Sie kommt aus einer deutschen, nichtjüdischen Familie, ihr Großvater war ein SS-Offizier, und sie beschreibt das Unglück, das die Familie bedroht auseinanderzureißen, die Gedanken, die Taten, und wie jeder von ihnen, so wie es Gewissen ihm vorschreibt, das Leben weiterführt. Nadaw, der Jugendliche, der des Mordes verdächtig ist, hat zwei jüngere Zwillingsschwestern, Niw und Rotem.
Der Name von Evas Mann, Gideon, assoziiert in der jüdischen Geschichte, und besonders in der israelischen, mit einem Kriegshelden.
Der folgende Auszug ist aus der Mitte des Romans.
Böser Bub
von Yael Schachnai
Übersetzung: Uri Shani
Drei Tage nachdem ich Hanna Arendts Buch „Die Banalität des Bösen“ auf Gideons Nachtisch gesehen hatte, wagte ich es, das Thema anzuschneiden und fragte ihn, ob er nach der Lektüre in diesem Buch zu irgendwelchen Schlüssen gekommen sei.
„Ich beginne, eine Ahnung zu kriegen“, sagte er und überraschte mich.
„Schieß los“, bat ich, neugierig.
„Du wirst das nicht mögen, was ich zu sagen habe.“
„Warum? Habe ich etwa Oleg Semionow umgebracht?“ antwortete ich ungeduldig. Ich war müde, und es fiel mir schwer, geduldig zu bleiben, in dieser ganzen Anspannung.
„Hanna Arendt wurde 1961 nach Jerusalem geschickt, um über den Eichmann-Prozess zu berichten. Sie war Journalistin des „New Yorker“, und nach dem Prozess schrieb sie einen Bericht, der die Welt erschütterte.“
„Das weiß ich. Ich habe Geschichte in der Schule gelernt, das weißt du bestimmt. Ich habe auch den Bericht auf Deutsch gelesen.“ Ich stichelte.
Ich stand vor meinem Schminktisch im Schlafzimmer und schmierte Nachtcreme aufs Gesicht vor dem Schlaf. Gideon ignorierte meinen Ton und sprach weiter. „Ihren Bericht nannte sie ‚Die Banalität des Bösen‘, und das war ihre Theorie über die Vernichtung der europäischen Juden. Nach dem Prozess und ihrem Bericht kam sie zum Schluss, dass der Antisemitismus keine genügende Erklärung liefern könne.“
„Ich kenne diese Ansicht gut, und ich finde sie lächerlich“, unterbrach ich ihn. „Eichmann machte nicht, was er machte, aus Antisemitismus? Natürlich hasste er die Juden und verfolgte sie, wie man Ungeziefer ausmerzt. Was sagst du da? Was sagt sie da? Sie waren Hitler und dem Reich durch die Gehirnwäsche in blindem Gehorsam hörig, und ohne diesen blendenden Hass hätten sie nicht das vollziehen können. Und was hat das alles mit Nadaw zu tun?“
„Moment“, sprach Gideon weiter. „Inzwischen, Eva, hat die Geschichte bewiesen, dass Arendt sich täuschte. Denn wir haben bisher noch keinen israelischen, oder schwedischen oder kanadischen, oder türkischen Eichmann gesehen. Ihre Ansicht hat den Deutschen nach dem Krieg in die Hände gespielt, so dass sie diese in Unschuld waschen konnten mit dieser Theorie der ‚Banalität des Bösen‘.“
„Schön, und was hat das mit Nadaw zu tun?“ nagelte ich ihn fest.
„Ich versuche zu verstehen. Das böse Hirn, das das gemacht hat, was Nadaw gemacht hat. Ich versuche es zu verstehen. Ich verstehe noch nicht alles. Ich erzähle dir, was ich lese, und was ich von der Lektüre verstehe. Ich stelle keine Tatsachen fest. Ich meine nur, dass Nadaw keinen Preis in Form von Verständnis und Barmherzigkeit verdient hat, für die Banalität des Bösen, die sich in ihm durch deine Familie hindurch verkörpert hat. Er muss diesen Mord bezahlen. Und in meinen schwärzesten Träumen hätte ich nicht geglaubt, dass ich eines Tages versuchen würde, mich durch Arendts linke Ansichten zu stärken, die sehr kühl hier empfangen wurde, und viele Kreise verdammten sie für ihre Unterstützung der Verbrecher an der Menschheit, wie Eichmann, oder ihr ‚Verständnis‘, damit ich verstehen könne, was mit meinem Sohn geschehen ist. Da gab es keine ideologischen Motive, für den Mord an Oleg Semionow. Er hat ihn einfach genervt, und Nadaw hat ihn aus dem Weg geräumt, wie wenn er ein Ungeziefer wäre. Von Schlomis Zeugenaussage, soweit wir das aus der Anklageschrift verstehen konnten, haben wir beide verstanden, dass er und Schlomi diesen Obdachlosen jedes Mal, wenn sie vom Korbball zurückkamen, gesehen haben, und dass er sie angemacht hat, ihnen hinterhergegangen ist, sie mit Dingen beworfen, um Geld und Esswaren gebettelt und sie verflucht hat. Bis Nadaw eines Tages wütend wurde und beschlossen hat, den Störenfried zu beseitigen. Einfach so. So wie man eine Ameise zerdrückt. Das ist die Banalität des Bösen. Dieses Gefühl der Allmacht, die ein Junge von siebzehn Jahren hat, der glaubt, dass er jemandem das Maul für immer stopfen und seine Lebenskerze auslöschen könne. Seinen Kopf mit einem Stein zertrümmern und weitergehen, wie wenn nichts geschehen wäre. Unser Sohn. Ich dachte, dass deine Vergangenheit uns nicht verfolgen würde, aber diese kleinen Eichmänner, die im Dritten Reich verstreut waren, und auch in deiner Familie, sie verpflanzen sich weiter und weiter. Und Nadaw wurde angesteckt. Nur wer das Böse ganz banal in seinem Blut hat, kann so morden, ohne während zwei Jahren mit der Wimper zu zucken. Was haben wir alles erlebt in diesen zwei Jahren? Wie konnten wir sorgenlos schlafen und denken, wir hätten einen wunderbaren Sohn? Er war siebzehn Jahre alt. In der elften Klasse. Er machte ehrenamtlich viele Stunden in Organisationen für die Alten und für Haustiere in jenem Jahr, er leitete eine Gruppe bei den Pfadfindern, er war ein Modell für die Jüngeren. Und wir? Wir waren stolz auf ihn. Brüsteten uns. Sobald das Böse nicht mehr moralisch gewertet wird, ist es nicht mehr böse. Es kann alltäglich sein. Und das ist es, was Arendt sagt. Vielleicht irre ich, Eva, aber ich suche Antworten. Wie du. Oder Verständnis. Verständnis dieser Seele, dieses Hirns, dieses Herzens, des Kindes, das ich auf diese Welt gebracht habe.“
Gideon setzte sich auf die Bettkante und zitterte. Ich ging aus dem Zimmer und ins Badezimmer. Ich setzte mich auf den geschlossenen Klodeckel und vergrub mein Gesicht in meinen Händen. Unter anderen Umständen hätte ich die Fassung verloren und das Haus verlassen. Jetzt konnte ich nicht schreien. Es war spät, die Mädchen schliefen, und mein Körper zerfiel. Ich spürte, dass alles zerbrechlich war und an einem Faden hing. Ich wusch mein Gesicht trotz der Nachtcreme und ging zurück ins Zimmer. Gideon war nicht mehr dort. Er war ins Wohnzimmer runtergegangen, und ich ging ihm nach. Dort goss er sich einen Whisky ein und stand mit dem Rücken zu mir am Fenster. Ich goss mir auch einen ein. Das geschah nicht oft, diese Szene, dass wir uns einen Drink machten, mitten in der Nacht, aber Gideons Erregung und seine Beschuldigungen waren auch sehr selten bei uns zu Hause. Die impulsive Reaktion war, etwas zu finden, das die Atmosphäre beruhigen konnte.
Nach einem oder zwei Schlucken sagte ich ihm, dass ich nicht bereit sei, dass er so über mich, oder über meine Familie oder über Nadaw spreche, nie. „Deine Theorie ekelt mich an“, fügte ich hinzu. „Du weißt, dass mein Vater der Mensch ist, der mir am Wichtigsten war. Er war sieben Jahre alt im Krieg. Mein Großvater war es, der im Militär war, und Nadaw ist sein Urenkel. Es gibt keinen Zusammenhang zwischen dem Militärdienst meines Großvaters und Nadaws Fall. Es gibt keinen Zusammenhang zwischen Völkermord, der in allen Einzelheiten organisiert war, dessen Ziel Auslöschung war, und dem, was Nadaw aus Notwehr, oder weil er nicht bei Sinnen war, gemacht hatte. Wir kennen nicht alle Details. Dazu gibt es das Gericht. Du machst es dir zu einfach, wenn du sagst: ‚Ich bin unschuldig. Dieses Kind ist ein Produkt von verdorbenen Genen aus der Familie meiner Frau. Sie ist es, die die stinkende Fäulnis in unsere Familie gebracht hat, macht mir da nur keine Vorwürfe. Ich bin überhaupt ein Opfer, ein Vater, dessen Bürde es ist, ein Kind aufzuziehen, in dessen Blut verrückte Gene schwimmen.‘ Wenn du einen Ausweg aus dieser Not gesucht hast, Gideon, dann tut es mir leid dir mitzuteilen, dass es keinen gibt. Nadaw ist dein Fleisch und Blut, dein Blut fließt in seinen Adern, und auch die herrliche DNA der Familie Franko befindet sich in seinen Zellen.“
„Vergleiche meine Familie nicht mit der deinen, hörst du? Vergleiche nicht die Helden Israels mit dreckigen Nazis. Und dein Vater? Was sagst du da? War er gut zu dir? Ist er ein guter Vater? Ein guter Großvater? Fünfundzwanzig Jahre hast du ihn nicht gesehen, und er hat seine Enkel nie gesehen. Fünfundzwanzig Jahre! Er hat keinen blassen Schimmer, wie es seiner schönen und wunderbaren Tochter geht. Er hat dich und Nadaw und Niw und Rotem ausradiert“, wütete Gideon.
„Du machst hier einen folgenschweren Riss. Alles wird zerbrechen, wenn du dich jetzt nicht zusammennimmst und nicht mit mir stehst, anstatt uns in Stücke zu reißen. Woher kommen diese Dinge, die du auf mich kotzest? Willst du mich umbringen? Willst du, dass ich kaputtgehe? Weißt du, was für einen uralten Schmerz in mir du da berührst? Kannst du dich überhaupt erinnern, wie ich auf mein voriges Leben verzichtet habe und mit dir gegangen bin? Warum machst du das? Wir stehen vor einer sehr schwierigen Herausforderung. Wir stehen schon mitten darin. Lass mich nicht alleine in dem Schauder, der mich umgibt. Mich und Niw und Rotem und Nadaw. Mach keine abstrusen Theorien. Wir sind in einem schwarzen Loch, und nur zusammen können wir daraus heraus, oder es zumindest erleichtern.“
Ich weiß nicht, wie diese Worte aus mir herauskamen, denn in mir drin hasste ich ihn in diesem Moment. Ich fühlte, dass er so vielleicht schon während Jahren empfand, ohne es mir mitzuteilen, und plötzlich kam es aus ihm heraus, plötzlich erhielt er die Legitimierung, diese schrecklichen Worte und haarsträubenden Gedanken, von denen ich mir nie vorstellen konnte, dass sie in ihm nisteten, zu erbrechen. Auch wenn er sich jemals für die Worte entschuldigen sollte, die er heute Abend gesagt hatte, so werden sie niemals vergessen werden. Sie wurden gesagt. Ich habe sie mit meinen eigenen Ohren gehört, und Gideon hatte sie gesagt, hatte sie mit Abscheu ausgespuckt. Aber ich nahm mich zusammen. Ich wusste: Wenn ich an diesem Streit mitmachte, so würde die Kluft sich vertiefen und noch schwärzer werden. Ich dachte an Niw und an Rotem, und falls es etwas gab, das sie in diesen Tagen brauchten, dann waren es zwei Eltern, die zusammenstanden.
Gideon, in einer momentanen Erleuchtung, oder vielleicht weil er schon zu ermattet war, antwortete nicht. Er saß schweigend da und nippte weiter an seinem Whisky. Nachdem er ihn beendet hatte, ging er ins Schlafzimmer rauf und ins Bett. Ich blieb noch einige Minuten im Wohnzimmer und ging dann auch rauf. Ich zog die Decke über meine Schultern, die Augen auf die Zimmerdecke gerichtet, und neben mir der breite Rücken meines Mannes.
Sehr interessant. Die grosse Frage ist natuerlich: ist Mord (Voelkermord) gleich Mord (Kriegsverbrechen) gleich Mord (kriminell)? Das Buch hat bestimmt dazu etwas zu sagen – hoffentlich kommt es bald auf Deutsch heraus…
…und trotzdem könnte ich das Kotzen kriegen, wenn ich so einen Streit, wie den hier im Auszug des Buches lese, weil die Protagonist*innen genau so die genetische Prävalenz / Prädisposition von Kriminalität oder gar ideologischen Einstellungen biologistisch verhandeln, wie die Rechten / Nazis es tun…
Gruseliger Konflikt, der da ausgetragen wird, der alle nur ins Unglück stürzen kann, anstatt die psychosozialen Hintergründe so einer Tat (wenn sie denn von Nadaw begangen wurde) zu bearbeiten…
Trotzdem scheint es ein spannendes Buch zu sein 🙂
Lieber Georg! Ich verstehe Deine Reaktion. Genau genommen ist es ja er, der Vater, der diese schrecklichen Inhalte ins Spiel bringt. Sie nicht. Und dann kann man sich ja auch fragen, warum er so reagiert. Vielleicht ist er einfach nur so schrecklich hilflos, in dieser Situation, und da rutscht es halt so aus ihm raus.