Jacqueline verlässt Kairo, aber Kairo verlässt sie nicht. Sie lebt in den fünfziger Jahren in Paris, um ihre Doktorarbeit über Balzac und Nagib Machfus zu schreiben, damals noch ein unbekannter Schriftsteller. Sie muss ihr Studium abbrechen, um der Weisung ihres dominanten Vaters nachzukommen und ihm nach Israel zu folgen. Dieser war nach Israel eingewandert, aber enttäuscht worden, wie viele andere jüdische Musiker aus Kairo.
In Israel versucht Jacqueline, eine Anstellung als Dozentin an der Hebräischen Universität zu erhalten, indem sie vorgibt, im Krieg französische Widerstandskämpferin gewesen zu sein. Sie verlässt Israel schließlich wieder und doziert an der Universität in Montpellier.
Im Zentrum der Handlung des Romans steht Jacqueline Cohn, die von vielen israelischen Leserinnen und Lesern als die bekannte Jacqueline Kahanoff identifiziert wurde, die in ihren Schriften gekonnt zwischen Sprachen und Kulturen frei herumschweifte und als Pionierin des Levantinischen in der israelischen Kultur gilt. Kahanoff ist ohne Zweifel die Zwillingsschwester der literarischen Jacqueline, die auch Pariser Chique mit Levante mischt.
Dr. Dalia Cohen Knohl ist Schriftstellerin von Prosabüchern und Theaterstücken. Sie schrieb u.a. „Vogel in der heiligen Stadt“ über den jüdischen Sufi-Dichter Sarmad Kashani, den Roman „Requiem in Korfu“, das Theaterstück „Nimm mich unter deinen Flügel“ über den Nationaldichter Bialik, und das Theaterstück „die Aussätzigen“ über den falschen Messias Schabbtai Zwi. „Das Mandelbaumtor“ ist 2016 erschienen.
Bemerkungen des Übersetzers:
Die direkte Rede ist ein permanentes Problem in hebräisch-deutschen Übersetzung: Im Hebräischen gibt es keine Höflichkeitsform. Ich entschied mich, in diesem Fall, dass Jacqueline zu einem bestimmten Zeitpunkt im Gespräch dem jungen Paar das Du anbietet.
Das zitierte Sonett schrieb Leah Goldberg 1945, und es wurde zuerst von Tuvia Rivner ins Deutsche übersetzt, und zum zweiten Mal von Gundula Schiffer. Ich beschloss mich, die Übersetzung von Schiffer hier zu bringen, die in „Akzente“ 4/2012, S. 357 erschienen ist.
Eine Vertonung des Gedichtes von Achinoam Nini und von ihr gesungen:
Ein ausführlicher Artikel über beide Übersetzungen befindet sich hier: http://www.relue-online.de/2013/03/in-einem-land-zwischen-schnee-und-disteln/
Es sollte bemerkt werden, dass die Auswahl dieses Gedichtes nicht zufällig ist. Die Dichterin Leah Goldberg, in Königsberg geboren, betrauert einerseits das Fehlen dessen, das sie hinter sich gelassen hat, und feiert andererseits das, was sie erhalten hat. Die Einwanderin oder Exilantin Jacqueline ist erst zwei Jahre hier, aber will sich mit diesem Gefühl identifizieren. Dabei macht sie einen bedeutenden kulturellen Sprung: Die jüdisch-israelische Gesellschaft war in jenen Jahren gespalten in jene, die aus Europa gekommen waren, und jene, wie, Jacqueline, die aus den arabischen Ländern gekommen waren, und sie, die aus Kairo kam, identifiziert sich ausgerechnet mit einer Dichterin aus Königsberg. Und dann kehrt im Verlauf des Gesprächs das Motiv des Kuckucks wieder, Jacquelines Kuckuck, den sie Zipora nennt. Zipora (Z wie Zimmer) heißt Vögelchen und ist auch der Name der Tochter des Hohepriesters der Midianiter, Jethro, mit der Moses heiratete, nachdem er aus Ägypten geflohen war. Zipora war es auch, die ihren Erstgeborenen beschnitt (Exodus 4, 25), eine Szene, die von Theologen ausgiebig besprochen wurde.
Justine ist der Name eines Romans von Lawrence Durrell aus dem Jahr 1957.
Das Mandelbaumtor
von Dalia Cohen Knohl
Übersetzung: Uri Shani
1. Kapitel
A.
Januar 1963
An einem verregneten Wintertag gingen Ischtar und ich ins Untersuchungsgefängnis, nicht weit vom Mandelbaumtor – diesem Tor in der gespaltenen Stadt, das Orient und Okzident miteinander verband, das Familien vereinigte und voneinander trennte, das Pilger vom See Genezareth in die Altstadt führte und umgekehrt. Ich erinnerte mich an die ersten Treffen zwischen Ischtar und Jacqueline, die jetzt im Untersuchungsgefängnis auf uns wartete. Schon damals wusste ich, dass stark wie der Tod die Liebe ist [Hoheslied 8, 6, der Übersetzer], die er für sie verspürte. Er betrachtete das Gebäude des Untersuchungsgefängnisses und sagte mir: „Galia, wir müssen sie hier rausholen.“ Ich stimmte ihm zu und erinnerte mich an jenen Besuch bei Jacqueline.
April 1958
Sie öffnete die Tür, und ein süßlicher Geruch brachte mit sich den Duft ihres Exils. Sie sagte: „Willkommen“, und mein Verlobter errötete. Er schaute auf die Bücher, die wie Pilze im Wald auf dem Fussboden herumlagen, und sagte: „Hier könnte ich sitzen und schreiben.“ Er atmete den Duft der Rosenmarmelade ein, die Jacqueline gerade auf dem Gaskocher zubereitete, und schritt zum Fenster, um die Landschaft zu sehen, die ihre Augen streichelten, wenn sie am Morgen aufstand. Sie trug eine schwarze Bluse mit einem gepunkteten kurzen Rock und einem schwarzen Gurt, der eng ihre Hüften umschloss. Seine Augen erstarrten auf dem Gurt, der wie ein Ring ihre schlanke Hüfte versperrte. Sie nahm zwei Bücher vom Fußboden und hob ihre Arme zum obersten Regal des alten Bücherschrankes; als sie es nicht schaffte, hob sie auch ihre Fersen. Er beeilte sich, ihr zu helfen. Nachdem die Bücher friedlich auf dem Regal lagen, glättete sie ihren Rock, und er blieb für einen Moment neben ihr, den Ort und die Anwesenden vergessend. Sie lächelte: „Danke.“ Plötzlich erinnerte er sich, wo er war, und kehrte zu seinem Platz zurück. Wenige Frauen kleideten sich so in unserer sozialen Umgebung, ich gewiss nicht; ich kam mit einem braunen Halbrock aus grobem Stoff und einer weißen Bluse und an meinen Füssen einfache Sandalen. Sie servierte uns ihre Basbousa an, und ich stand auf, um ihr beim Zubereiten des Thees zu helfen.
Ich begann mit ein paar einführenden Worten. Ich bedankte mich dafür, dass Ischtar, mein Verlobter, Redaktor des Kulturressorts in der Zeitung, in der ich arbeitete, beim Interview dabei sein durfte. Ich betonte, dass ihre Geschichte alle fasziniere. Die Leser der Zeitung, die schon über sie gelesen hatten, wollten mehr über die Widerstandskämpferin hören. Sie lächelte: „Ja, ich verstehe.“
Sein Heft legte Ischtar auf seine Knie, so liebte er es zu schreiben. Mit nervöser Hand schob er sein hellrotes Haar von rechts nach links und festigte die Brille auf der Nase. Er murmelte ein paar Höflichkeitsfloskeln. „Ja, und wie, Ihre Lebensgeschichte ist erstaunlich.“ Ich öffnete das Heft um zu schreiben, aber er bedeutete mir, dass dies nicht nötig sei, denn er schreibe für mich. Ich verzichtete. Warum? Ich war doch hergekommen, um das Interview mit ihr zu vertiefen. Wie hatte er es geschafft, sich als Schreiber meines Buches hineinzuschieben? Ich schaute ihn an, wie er seine Stirn abwischte, ihre Hände mit dem Blick eines Hündchens zu seinem Herrn betrachtete und wusste, dass ich mich nicht weigern konnte.
Er begann damit, dass er froh sei, dass es Menschen wie sie im Land gebe. „Unser Land braucht Sie, und das verstand ich bei unserem zufälligen Treffen. Und wenn Sie Hilfe brauchen, sollen Sie wissen, dass ich allzeit bereit bin. Ich meine, wir.“ Ich spornte ihn an: „Kommen wir zum Interview.“ – „Ja, natürlich, machen wir mit der Recherche weiter. Dafür hast du mich ja eingeladen, ja?“ Ich nickte, aber erinnerte mich nicht, dass ich ihn eingeladen hatte. Seine erste Frage betraf die Flucht aus Paris in Richtung Süden. Wann war das? Sie sprach langsam:
„Ich verließ Paris mit meiner Mutter und meinem Onkel. Wenig später, als wir im Süden angekommen waren, verließ meine Schwester Marseille in Richtung New York. Das war die Flucht aus Paris, 1940, in den Süden. An einen Teil der Ereignisse erinnere ich mich nicht klar.“
Er schlürfte laut seien Tee, aß von der Basbousa und lobte sie. „Sie backen mit großem Talent. Erlauben Sie mir festzustellen, dass Ihr Hebräisch ausgezeichnet ist. Wann sind Sie ins Land gekommen? Vor zwei Jahren? Das ist absolut bemerkenswert.“ Ich sagte: „Sie hat ihre eigene Art und Weise, Hebräisch zu lernen. Siehst du all diese Lyrikbände? Sie lernt aus ihnen Verse und ganze Strophen auswendig.“ Er pfiff respektvoll. „Ganze Gedichte auswendig?“ Sie sagte: „Ja, ich streiche Wörter an, die ich nicht kenne, und versuche sie zu lernen.“ Er wollte mehr über diese Technik wissen, denn man musste sie ja den Rektoren der Sprachschulen empfehlen. Sie sagte: „Ja, in der Schule wurden wir auf Lyrik geprüft.“ Er wollte ein Gedicht hören, das sie besonders liebte:
Hier hör ich nicht den Ruf des Kuckucks.
Hier trägt der Baum keine Haube aus Schnee,
aber im Schatten dieser Kiefern schuf
meine Kindheit sich ein neues Leben.
Die Nadeln surren: Es war einmal – – –
Heimat bestaun ich in den Weiten aus Schnee,
im grünlichen Eis, das den Strom festhält,
im Klang des Gedichts an fremdem Ufer.
Vielleicht kennen das nur die Zugvögel, sie –
die so zwischen Erde und Himmel schweben –
diesen einen Schmerz, wos Heimat zweimal gibt.
Mit euch gepflanzt heißt doppelt leben,
mit euch, ihr Kiefern, wuchs ich auf gesandt
zu wurzeln in zweierlei Land.
Wir schwiegen alle drei. Er legte das Heft auf den Tisch und sagte:
„Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Das ist – umwerfend, Sie haben die Fähigkeit, die feinsten Nuancen der Sprache zu erfassen, und Sie sagen alle Wörter auswendig auf, als wäre es ein Spaziergang.“ Ich fügte hinzu: „Verstehst du jetzt, warum man sie zur Widerstandsbewegung rekrutiert hat? Das ist doch klar! Sie hat die Fähigkeit, perfekt Sprachen zu lernen und Identitäten auszutauschen.“ Sie lächelte: „Siehst du? Das Lied kann ich auswendig, aber an gewisse Ereignisse erinnere ich mich nicht. Wir können uns übrigens duzen.“ Ich meinte: „Aber das ist doch klar. Du warst noch ein Mädchen.“ Mein Verlobter stierte aus dem Fenster, als sei er nicht hier, und ich verstummte. Sie fuhr fort: „Weißt du, ich kannte nur Paris. Plötzlich war ich an einem fremden Ort.“ Er stand auf und betrachtete den Vogel im Käfig.
„Und was ist mit diesem Kuckuck? Was kann er?“
„Sie kann weder singen noch sprechen. Ich nannte sie Zipora.“
„Und wo hast du sie gekauft?“
„Ich hab sie nicht gekauft, ich erhielt sie von den Hausbesitzern, die sie von ihrer Tante erbten, die hier bis zu ihrem Tod lebte.“
Ischtar schritt im Zimmer von einer zur anderen Seite und fragte: „Warum hast du sie Zipora genannt?“ Jacqueline schloss die Fenster, öffnete das kleine Türchen des Käfigs, und die schwarze Zipora hüpfte hinaus und sprang auf ihren Finger.
„Zipora, weil sie schwarz ist wie Moses‘ Frau.“
„Ich hoffe, sie hat nicht die chirurgischen Eigenschaften wie die Midianiterin.“
Sie sprachen noch weiter über die Midianiterin, und über die Beschneidung ihres Sohnes, und ich betrachtete sie und erinnerte mich an Ischtars Worte, nachdem er Jacqueline das erste Mal getroffen hatte. Es sei eine Gabe Gottes, ein Geschenk der Götter gewesen, was ihn mit der Heldin des Romans zusammenbrachte, den er am meisten liebte – Justine. Sie ging da tatsächlich zu ihm hin, drückte seine Hand, und er konnte sich vorstellen, was er hätte sagen wollen. Vor zwei Monaten hatte ihm ein Freund das Buch gebracht, das gerade erst in London erschienen war, in dem sich der Erzähler in die schöne, mysteriöse Justine aus Alexandrien verliebt, und schon war es ein Bestseller geworden. Und jetzt saß mein Verlobter seiner privaten Justine gegenüber.
Sehr schoen!! Das Mandelbaumtor ist uebrigens bis heute Symbol des Treffens von Orient und Okzident: dort war bis vor einigen Jahren ein Museum („Kav HaTefer“), das zu diesem Thema Events organisierte (vielleicht existiert es noch?) – u.a. ein Treffen von Eli Amir mit seinem arabischen Uebersetzer, der in Aegypten lebt…
Um die Sache noch komplizierter zu machen: sowohl in Aegypten als auch in anderen Orten des „Levants“ (zB Tuerkei) gab es ausser der oertlichen, sefardischen juedischen Gemeinde auch eine aschkenazische, vor allen von Fluechtlingen aus Europa.
Frage an den Uebersetzer: was fasziniert dich an die Midianer? Ist es dasselbe, waa die Autorin an den Midianern fasziniert?