Das Buch „Liebeswirrungen“ (Orion, 2019) ist ein psychologischer Roman, der sich aus fünfzehn Geschichten zusammensetzt, erzählt von fünf vom Alter und gesellschaftlichen Hintergrund her verschiedenen Frauen. Trotz den wesentlichen Unterschieden zwischen ihnen gibt es auch bedeutende gemeinsame Nenner: der Zusammenhang zwischen Liebe und Verlust oder Tod, die Lust zum Leben und zu neuen Erfahrungen, eine Reihe von Abenteuern und Enttäuschungen, ein Gefühl der Einsamkeit und der Verfremdung. Es ist ein „gebrochener Roman“. Neben den melancholischen Elementen trifft die Leserin auch auf das Süße und Saftige in der Liebe.
Saya Lyran Malkin wurde in Jerusalem geboren, wuchs in Haifa auf und lebte in den USA und in Südafrika. Sie studierte Theater und Pädagogik in Minnesota und in New York an der ‚The Neighborhood Playhouse School of the Theater‘. Sie war jahrelang im Rahmen der WIZO-Frauenorganisation in der Aufnahme und Integration von Frauen aus der ehemaligen UdSSR und aus Äthiopien aktiv. Das Buch „Liebeswirrungen“ erschien im Jahr 2020 auf Englisch unter dem Namen „Delusions of Love“. Ihr zweites Buch erscheint demnächst auf Englisch unter dem Namen „The Woman Beyond the Wall“.

Hornhäute
von Saya Lyran Malkin
Übersetzung: Uri Shani
Tanja spürte, wie die Müdigkeit sich langsam ihres Körpers bemächtigte. Es war ein besonders langer Arbeitstag gewesen, an dem sie zwei Leichen seziert und vier Hornhäute aus ihnen entnommen hatte.
Erst nachdem die Familien ihr Einverständnis geben, kann man mit dem Prozess der Transplantation beginnen. Es muss schnell gehen, denn die Lebensdauer einer Hornhaut eines toten Körpers ist drei bis sechs Stunden. Tanja wechselte die sterilen Handschuhe mit neuen und verteilte vorsichtig das Optisol, das aus den USA bestellt wurde, in vier Gefäße, um die vier Gold werten Hornhäute zu konservieren. ‚Morgen werden ich sie genauer prüfen‘, versprach sie bei sich. Während der Operation nahm sie Blutproben vom Spender und schickte sie in verschiedene Labore zum Überprüfen von AIDS- und Gelbsucht-Viren. Wenn die Resultate gut sein werden, werden sie dem Glücklichen gegeben werden können, der an der Reihe war. In so einem Gefäß kann eine Hornhaut bis zu zwölf Tage konserviert werden, und die Warteschlange ist lang. Es gibt natürlich eine Zusammenarbeit mit anderen Gewebezentren im Land, und manchmal, in dringenden Fällen, wenn kein passender Spender gefunden wird, erhielt Tanja von einem anderen Krankenhaus oder schickte ihnen passende Hornhäute zur Transplantation.
Vorgestern hatte sie Bescheid erhalten und musste ins pathologische Institut in Abu-Kabir zu einer dringenden Operation fahren. Als sie am nächsten Tag die Zelldichte der Hornhäute unter dem Mikroskop geprüft hatte, hatte sich herausgestellt, dass sie nicht passten. Sie wusste, aus ihrer langjährigen Erfahrung, dass dies nicht selten ist, und mindestens fünfzehn Prozent der Hornhäute der Verstorbenen, die mit dem Einverständnis der Familien gespendet werden, passen nicht. Ein gewisser Trost war für sie, dass sie wusste, dass die unpassenden Hornhäute trotzdem eine ehrenhafte Behandlung erhielten.
Tanja hob ihre Arme über ihren Kopf und streckte sich. Sie musste noch einige Sachen erledigen, bevor sie „den Laden“ – die Gewebebank des „Tel-Haschomer“-Krankenhauses, für die sie seit vielen Jahren nun schon verantwortlich war – schließen konnte.
Tanja war in den frühen Neunziger Jahren aus der ehemaligen UdSSR nach Rechowot eingewandert, geschieden mit zwei Kindern. Ganz langsam hatte sie sich ihren Weg gebahnt, ohne sich über die vielen Schwierigkeiten zu beschweren. Der Beruf, den sie in Moskau gelernt hatte, half ihr ohne Zweifel, aber vor allem schaffte sie es wegen ihrer starken Persönlichkeit. Sie sah zwar sehr fein, weiblich und gediegen aus, und trotzdem strahlte sie Selbstsicherheit und die Fähigkeit, vernünftige Entscheidungen zu fällen, aus. Sie bewies, dass sie „ein Köpfchen“ war, aber auch ein warmes Herz hatte. Und außerdem, neben ihrer klugen und angenehmen Eigenschaften, war sie absolut diskret – so wie die anderen Angestellten im Krankenhaus im Bereich der Transplantationen, denen es natürlich strikte verboten war, Einzelheiten über die Spender weiterzugeben. Ihre Eigenschaften machten auf die Ärzte Eindruck, und sie respektierten und liebten sie.
Tanja prüfte nochmals den Tisch. Er war sauber. Die Hornhäute, die vorgestern operiert geworden waren und nicht passten, hatte sie in Formalin konserviert und der „Chewra Kadischa“ geschickt. Sie würden sich darum kümmern, sie vorsichtig und respektvoll zu begraben. Es war schon spät, und sie wollte nur noch ins Bett und schlafen. Ihr Bett war nicht mehr in Rechowot. Während der Jahre hatte sich ihr Lebensstandard verbessert, und sie hatte sich eine schöne Wohnung in Netanja gekauft. Dieser Kauf war durch das langsame und fortwährende Sparen ermöglicht, durch eine fette Hypothek und durch eine zusätzliche Hilfe von Seiten von Dori, ihrem Lebenspartner in den letzten zwei Jahren. Sie mochte Dori und lernte, ihn zu respektieren. Das war zwar keine stürmische Liebe wie in der Vergangenheit, aber sie verstanden sich gut und empfanden gegenseitige Zuneigung. Beide brauchten einen persönlichen Freiraum, und deshalb teilte sie ihr Leben zwischen ihrer Wohnung und seiner. ‚Das ist die Formel, mit der ich gewinnen kann‘, dachte sie, ‚eine angenehme Einrichtung‘.
An einem solchen Abend, nach den Operationen, in denen auch Gefühlen involviert waren, die zu ihrer Überraschung auch nach all den Jahren nicht nachließen, war sie lieber mit sich selber alleine. Sie brauchte diese Pause in den Zwischenstadien zwischen Leben und Tod. Paradoxerweise war der Tod in ihrer Arbeit zwar allgegenwärtig, aber daneben war gleichzeitig auch die Hoffnung.
Tanja stand von ihrem Stuhl auf, schaute sich noch einmal in ihrem Büro um, das mit Zeichnungen geschmückt war, die sie auf die grünen Wände gehängt hatte, und mit Alpenveilchen, die sie im Treibhaus am letzten Mittwoch in Ramat Hasharon gekauft hatte. Sie prüfte nochmals das Gefäß mit den Hornhäuten, machte das Licht aus, trat aus dem Zimmer und schloss die Tür.
Als sie sich in ihr Auto setzte, bereit loszufahren, kam ein Notfallanruf. Es war Professor Wassermann, der Leiter der Gewebe- und Hornhäutebank des „Beilinson“-Krankenhauses.
„Tanja, wir haben eine Hornhautspende für euch. Die Familie eines Mannes, der heute Morgen in einem Unfall getötet wurde, hat ihr Einverständnis gegeben. Meine Leute haben ihn schon operiert und die Hornhäute geprüft. Sie passen für den Patienten von Doktor Tabori, und sein Fall ist dringend. Die Operation muss spätestens morgen früh um sieben stattfinden, und ich befürchte, wegen des Staus am Morgen werden sie nicht rechtzeitig da sein. Deshalb, mit Verlaub, schicke ich jetzt gleich unseren Fahrer zu euch. Nachdem du die Hornhäute in den Eisschrank gestellt hast, gib mir bitte Bescheid.“ Und nach einer kleinen Pause: „Danke, Tanja, oh was für ein Glück, dass ich dich rechtzeitig erreicht habe.“
Sie stieg aus dem Auto und kehrte zum Labor zurück, gegen ihre Müdigkeit kämpfend, während sie auf die Hornhäute wartete.
Als das Paket kam, entnahm sie ihm vorsichtig das Gefäß, das die konservierende Flüßigkeit und darin die Hornhäute enthielt. Ganz automatisch prüfte Tanja den Namen des Spenders, der auf dem Gefäß stand, und erstarrte. Sie dachte, sie träumte. Sie rieb sich die Augen, setzte die Brille auf und schaute nochmals auf das Namensetikett. Gadi Grossmann, geboren 1958, aus Rechowot. Es war kein Traum. Das war Gadi, ihr erster Freund, als sie noch Neueinwanderin war. Blass und zitternd fasste Tanja die Kante des Tisches, um nicht zusammenzufallen. „Oh Gadi“ – ihre Stimme brach, „mein Gadi“.
Gadi war mit ihr während der ersten Zeit ihrer Integration in die neue, israelische Gesellschaft, er half ihr bei den Schulaufgaben, als sie Hebräisch lernte, er half ihr auch wirtschaftlich und mit Geschenken, die er ihr manchmal machte. Mit seiner Hilfe wurde sie Teil dieser Gesellschaft hier und baute sich ihre israelische Identität auf. Beide wussten, dass die Beziehung nicht auf Dauer sein würde, denn obschon Gadi sie sehr liebte, war er verheiratet, mit zwei Kindern, und hatte nicht vor, seine Familie auseinanderzunehmen. Als er befürchtete, dass die Beziehung sein Zuhause und seine Familie gefährdete, beschloss er sich, die Beziehung abzubrechen, nicht bevor er sich vergewisserte, dass sie stark genug war, alleine auf ihren Beinen zu stehen.
Die Trennung von Gadi war ihr schwerer gefallen, als sie gedacht hatte. Ihr Herz zerbrach darob, und es vergingen viele Monate, bis sie sich davon erholt hatte. Danach traf sie Dori und kehrte wieder zum Leben zurück. Sie dachte viel an Gadi und fragte sich, wie sie sich fühlen würde, wenn sie ihn wieder träfe.
Wer hätte sich ausdenken können, dass sie ihn so, auf diese Weise, wieder treffen würde! Erschüttert blickte sie auf seine Hornhäute und fühlte, dass sie sie anschauen konnten, sie sehen konnten. Sie wurde schwach, als sie sich an den starken, schönen Gadi erinnerte, der sie immer wärmstens mit seinen braunen Armen umarmt und sie mit seinen grünen Augen, die Liebe ausstrahlten, angelächelt hatte. Schon beim ersten Mal, als sie sich getroffen hatten, lächelten seine Augen sie an. Das war im „Golf“-Laden, als sie mit ihrem damals gebrochenen Hebräisch vom Verkäufer um „zwei Leidentücher für das Bett“ bat. Gadi, der zufällig neben ihr stand, lächelte sie an und verbesserte sie: „Sie meinten wohl zwei Leintücher…“ Beide lachten. Danach lud sie Gadi im kleinen Restaurant neben dem Laden zu einer Tasse Kaffee ein. An diesem Tag bot er ihr jede Hilfe an, die sie bräuchte.
„Oh Gadi! Wie kann man das glauben!!“ Ihre Gefühle überkamen sie. Und dann dachte sie plötzlich an seine Frau, an ihre gnädige Noblesse, dass sie bereit war, seine Glieder zu spenden. Es gab Zeiten, da hatte Tanja sie gehasst, aus Eifersucht, aber jetzt sah sie in dieser Entscheidung etwas, das ihre Empathie, ja ihre Bewunderung auslöste. Sie dachte fast, einen Kondolenzbesuch abzustatten, während ihr nicht klar war, wer der beiden Frauen mehr Trost brauchte.
Tanja war verwirrt. Sie konnte heute nicht allein bleiben, aber wie konnte sie sich jetzt mit Dori treffen? Er würde bestimmt bemerken, wie aufgewühlt sie war. War sie vielleicht noch immer in Gadi verliebt? Im ersten Augenblick erschrak sie über diesen Gedanken, denn sie hatte sich überzeugt gehabt, dass sie darüber hinweg war.
‚Gott sitzt bestimmt dort oben, schaut und spielt mit den Menschen, als wären sie Bauern auf einem Schachbrett.‘
Mit zitternden Händen nahm sie das Gefäß mit „ihrem Gadi“, stellte es in den Kühlschrank, schloss die Tür des Labors und ging zum Parkplatz.
Sie setzte sich wieder ins Auto, und ihr Kopf sank aufs Steuer. Sie konnte sich nicht mehr bewegen. Ihre Gurgel war zugeschnürt, sie stöhnte plötzlich und begann laut zu weinen. Nach langen Minuten schaffte sie es schließlich, ihre Tränen zu trocknen. Mit zitternden Händen wählte sie Doris Nummer und hörte sich stammeln: „Dori, ich muss dich heute sehen, bitte komm, ich brauche dich…“

Makkaber! Aber sehr gut…
sehr beeindruckend
Ich finde Die Geschiecte uber die Hornhaute, besoders entresant und zeigt uns die lessers wie alles ist in unsern leben moglich, wie der unfall von ihren fraund Gadi, zu bekomen platzlich seine Hornhaute zu plantieren.
So, alles in unseren leben kann passieren.