Jerusalem, Mussrara, Israel, Marokko, Frauen, Geburt

Mussrara

Madlen war ein drei Monate altes Baby, als ihre Eltern sie aus Marokko in den soeben neu gegründeten Staat Israel brachten. Vom Übergangslager in Atlit kam die Familie nach Mussrara, damals an der Grenze zu Jordanien. Die zwölfköpfige Familie kämpfte in Zeiten von Mangel und Austeritätspolitik ums Überleben, je zwei Kinder schliefen in einem Bett. Madlen ging in eine orthodoxe jüdische Schule, und als Klassenerste hätte sie eigentlich ins Lehrerseminar gehen sollen, aber etwas kommt dazwischen, und sie muss ihren Weg suchen. Neben einer faszinierenden Lebensbeschreibung erfahren wir auch die neuere Geschichte von Mussrara, das so nah am ultra-orthodoxen „Mea Shearim“ und so nah an der arabischen Jerusalemer Altstadt ist und selber ursprünglich vor allem von Palästinensern gegründet wurde.

Madlen Vanunu ist Mutter von fünf Kindern und neunzehn Enkeln. Sie ist eine Künstlerin, Kuratorin und Lehrerin. 

Jerusalem, Mussrara, Israel, Marokko, Frauen, Geburt

Mussrara

von Madlen Vaanunu

Übersetzung von Uri Shani

…Während der Arztvisite kam Professor Lifschitz zu mir, eine ältere Ärztin, wie es mir schien. „Schalom, ich bin gekommen, um zu sehen, wie es Ihnen geht.“ Und während sie sprach, hob sie die Decke, die auf mir lag. Ich sah ihre aufgerissenen Augen. „Was geht hier vor sich?!“ schrie sie. „Was ist mit Ihnen?“ Ich erschrak, was hatte sie erschüttert? „Warum liegen sie einer Lache von Blut und sagen nichts? Was ist mit Ihnen? Wie fühlen Sie sich?“ Sie schrie immer noch.

Eine Krankenschwester kam schnell vom Kreißsaal. „Was ist? Was ist geschehen?“ fragte sie.

„Kommen Sie, sehen Sie. Na gut, keine Zeit jetzt, überführen Sie sie sofort in den Kreißsaal, sie wird jeden Moment gebären“, sagte die Ärztin. Die Situation erschreckte die Professorin. Wieder fragte sie mich: „Können Sie nicht sprechen? Liegen einfach so still da, haben Sie keine Wehen, keine Schmerzen?“

„Ja, ich habe schon seit zwei Stunden Schmerzen, die kommen und gehen, ich friere und zittere, und ich fürchte mich davor, was kommt, aber niemand hat mich besucht, ich wartete, dass jemand komme“, sagte ich.

Sie bückte sich nochmals, um mich ein wenig genauer zu untersuchen. Nach der Untersuchung zogen sie und die Krankenschwester mich in den Kreißsaal. Die Professorin wies die Krankenschwester an, die Instrumente für die Geburt vorzubereiten. Sie schaute mich an und sagte: „Hören Sie zu, in Bälde werden sie gebären, ich bin hier, um Ihnen zu helfen, zusammen mit der Hebamme, ich bitte Sie, mit uns zu kooperieren, und alles zu machen, was wir Ihnen sagen. Ich sehe, dass Sie sehr jung sind, und deshalb erkläre ich Ihnen, wie wichtig es ist, dass Sie genau machen, was wir Ihnen sagen. Ich gehe für einen Moment ins Inkubatorenzimmer und komme gleich zurück.“

Ich nahm nicht wahr, was sie sagte, ich zitterte vor Angst und vor Kälte, der Regen und die Donnerschläge trugen zur beängstigenden Stimmung im Kreißsaal bei, wo ich die einzige Gebärende war, auch schrumpfte ich von harten Ton der Ärztin zusammen und zitterte noch mehr. Wieder einmal betete ich, die kleine Madlen, zum lieben Gott, dass er mir beistehe und mich beschütze, da es ja der Ausgang des heiligen Schabat sei und die Chanukka-Kerzen leuchteten. So werde ich glücklich die Geburt überstehen, Amen.

Die Hebamme kam mit dem Inkubator und stellte ihn neben das Bett. Sie kam zu mir, nahm freundlich meine Hand und sagte: „Hör zu, meine Süße, sei beruhigt, hab keine Angst, ich bin hier mit dir, und werde dir helfen, das Kind zu gebären. In ein paar Minuten wird das Kind zur Welt kommen, und es ist sehr klein, du weißt, du bist erst im achten Monat, und das Kind ist noch nicht genug entwickelt.“  

Die Zimmerfenster erzitterten unter dem Druck des starken Windes. Der Donner und die Blitze hörten nicht auf, noch ein Donner, noch ein Blitz, und dann – als hätte ich nicht schon genug von dieser Stimmung – plötzlich, absolute Finsternis, Stromausfall. Ich hörte rennende Schritte und anderes Geräusch. Jetzt weinte ich schon laut, und schrie: „Mama, komm bitte, sei bei mir, ich habe Angst.“ Ich befürchtete, dass der Stromausfall die Wärme des Inkubators beeinträchtigen könnte, und ich wusste, dass das kleine Baby sterben würde, wenn es in diesem kalten Zimmer nicht im Inkubator gewärmt würde.

Inzwischen kam die Hebamme zurück und versuchte, mich zu beruhigen: „Mach dir keine Sorge, wir haben Generatoren, das ist ein System, das den Strom in solchen Situationen antreibt, in ein paar Minuten werden wir wieder Strom haben. Ich bin da bei dir, ich geh nicht weg.“ Ich hielt sie an der Hand fest.

Der Strom kam wieder. „So, jetzt beginnt die Geburt. Komm, kooperiere mit mir.“

„Ja, gut“, sagte ich. „Ich werde alles tun, damit das Baby auf die Welt kommt.“

Sie stand vor mir und gab mir Anweisungen. „Jetzt pressen, und wenn ich sage, du sollst aufhören, musst du aufhören.“

Professor Lifschitz kam auch und stand neben der Hebamme, und beide gaben mir Anweisungen. Ich machte, wie sie mir hießen, schrie nicht, gab mir Mühe zu pressen, wie ein erwachsenes Mädchen. Nach einiger Zeit erschien das Baby. „In guter Stunde und Masel tow“, sagten beide. „Es ist ein Sohn.“ Nach erster Behandlung legten sie ihn in den Inkubator, und die Hebamme lief mit dem Wagen ins Säuglingszimmer, wo sie für die passende Behandlung vorbereitet waren. Nachdem die Hebamme zurückgekommen war, sagte sie mir: „Er ist in Ordnung, mach dir keine Sorge, er wiegt ein Kilo und achthundert Gramm. Er ist sehr klein, aber er sieht gut aus, jetzt müssen wir dafür sorgen, dass es dir auch gut geht, wir behandeln dich weiter.“  Sie begannen mit der Entfernung der Plazenta und mit allem, was es brauchte, um die Geburt zu beenden. Damals gab man keine epidurale Spritze, die gab es damals noch nicht.

Uri Shani ist in der Schweiz geboren und lebt seit 35 Jahren in Israel. Er ist professioneller Übersetzer für Literatur aus dem Hebräischen ins Deutsche. Sein "Übersetzer-Credo" könnt ihr im Link nachlesen:

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Rosebud
Rosebud
4 Jahre

Ist das Buch autobiografisch? Eine literarisch angereichte Version der Realitaet? Oder Fiktion innerhalb einer historischen Realitaet?

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