Iris Rilov ist Psychologin und Übersetzerin. Sie hat einen Lyrikband und ein Prosabuch herausgegeben. Der folgende Auszug ist aus der Geschichte „Panorama“, die im Prosabuch „Sitz nicht einfach so“ (Pardess, 2020) erschienen ist. Eine frühere Version der Geschichte erhielt den Preis der „Arditti“-Stiftung zum Thema Beziehungen zwischen Arabern und Juden (2016).
Die Geschichte ist ein polyphones Werk, und ihre Handlung spielt sich in der Hafenstadt Haifa zu Beginn dieses Jahrhunderts ab, einer Zeit der Ängste und Spannungen zwischen Arabern und Juden auf dem Hintergrund der blutigen Unterdrückung der „Zweiten Intifada“ und der schweren Terrorakte, die auch Haifa erreichten. Anwar, ein Krankenpfleger in einem Krankenhaus in der Stadt, der gerade seine Nachtschicht beendet hat, steigt in einen Autobus, der nicht in Richtung seiner Wohnung fährt, sondern in die entgegengesetzte Richtung. Er würde lieber Adam heißen, ein Name, der universal ist und ihn nicht als Araber identifiziert und auf Hebräisch und arabisch „Mensch“ bedeutet.
Bemerkung des Übersetzers: Im Hebräischen gibt es, wie im Arabischen, grammatisch gesehen, nur zwei Zeiten: Vergangenheit und Zukunft. Das Arabische benutzt für die Gegenwart die Zukunft, das Hebräische benutzt für die Gegenwart das Partizip I. Die Gegenwart ist also für den Hebräer eigentlich ein vorübergehender Zustand. Er geht nicht, sondern er ist jetzt gerade am Gehen. Die folgende Geschichte ist in der Gegenwart geschrieben, unter anderem, weil Anwar sich hier genau in diesem Zustand, in dieser Zwischenzeit, Frist, befindet. Und das wird auch thematisiert.
Panorama
von Iris Rilov
Übersetzung: Uri Shani
Anwar schaut ihnen nach. Er hat soeben seine Schicht beendet. Vor vier Stunden hat er Miri von der Infusion abgenabelt. Das Röhrchen ließ er in der Ader. „Muss man das lassen?“ fragte sie, und er nickte. Er überlegte es sich für einen Moment und beschloss, dass die nächste Schicht sich damit beschäftigen solle. Er macht keine Probleme, beklagt sich nicht und ruft nicht andere Krankenpfleger zu Hilfe. Jetzt geht sie mit ihrer Tochter Arm in Arm. Ihre Schritte, in den winterlichen Hausschuhen, sind klein und zögernd. Manchmal hält sie inne, lehnt sich an die Wand, nimmt Luft. Ihr Haar ist zerzaust, über dem Krankenhausanzug trägt sie einen leichten und blumigen Morgenrock, dessen Gürtel schlampig zugeknotet ist. Die Tochter ist noch schlanker als ihre Mutter, mit zerrissenen Jeanshosen, deren nasse Enden Stiefel mit niedrigem Absatz bedecken, und ihr lässig an ihr hängendes Hemd entblößt eine Schulter. Anwars Augen verfolgen sie. Auf dem Hintergrund des großen Fensters werden sie zu Silhouetten, er sieht ihr Gesicht nicht mehr, aber er hört ihr Gespräch. Als Miri ihren Kopf nach hinten ihm zuwendet, beeilt er sich verlegen wegzugehen.
Im Aufzug, in der Eingangshalle, als er sich mit seiner Karte abmeldet, und auch, als er an der Bushaltestelle wartet, denkt er noch an Miri und an ihre schöne Tochter. Er hat keinen Regenschirm, aber es rieselt nur, und er drängt sich mit den anderen Wartenden unter das Dach. Sein dicker, grüner Pullover wird nass, und die Ärmelenden kleben sich an seine Handgelenke. Die nasse Wolle juckt, und der Geruch des Dorfes steigt von ihm auf. Diese Tochter, sechzehn oder siebzehn Jahre alt, sie ist vielleicht zum ersten Mal in einem Krankenhaus. Dann denkt er an seine Mutter, als er sie zum ersten Mal besuchte. Er kann sich nicht erinnern, ob er acht oder elf war, es waren so viele Male, und alle vermischen sich zu einem lange andauernden Erlebnis von Korridoren und Eisenbetten und Medikamenten und Uringeruch und bleiche Gesichter und Schweigen und unerklärliche Angst. Dann denkt er an sich selber und an seine Frau, an den Streit, den sie gestern Abend hatten, bevor er seine Schicht begann, wie er bittere Worte auf sie gespien hat und wie niederträchtig er sich danach gefühlt hat. Er kann sich nicht erinnern, wie das alles begonnen hat. Der Blick, der ihn begleitete, als er ging, Löcher, die ihre feuerspeienden Augen in seinen Rücken gruben, und dieses Karussell, ja-nein-ja-nein, jeder Streit wirft sie zurück, so weit weg voneinander und von jeder Möglichkeit zusammenzukommen und etwas zu retten, und bis sie wieder ihren Weg zueinander ertappen, sich einander vorsichtig nähern, zwei Igel, da entzündet sich schon wieder etwas, und die Detonationswellen reißen sie auseinander und machen alles kaputt.
Diese Gedanken erwecken in ihm eine Traurigkeit von Einsamkeit und Sehnsucht, Sehnsucht nach einem Ort, der gar nicht sicher existiert, und er ist so müde, aber er hat keine Lust, nach Hause zu fahren. Wieder ihre Augen sehen, so schwarz, als würden sie alles verschlucken, er ist dazu jetzt nicht vorbereitet. Und so findet er sich in einem anderen Bus wieder. Er hat keine Ahnung, wohin er fährt, er wurde irgendwie mit zwei anderen, die an der Haltestelle warteten, hineingeschoben.
Die Heizung im Bus wärmt ihn zu Beginn angenehm, denn die Füße sind ihm schon ein bisschen abgefroren, aber dann wird diese Wärme stickig. Anwar steht, nicht weil es keinen freien Sitzplätz gäbe, sondern weil er noch nicht beschlossen hat, ob er bleibt. Sich setzen würde bedeuten: ein Territorium festlegen und sich festlegen, auch wenn es nur für eine begrenzte Zeit war, und er war jetzt in einer Zwischenzeit, in einer Frist. Er steht. Er hat keine Lust, weiter nachzudenken, so schließt er die Augen, eine Hand hält die kalte Eisenstange unter der Decke des Busses fest, und er entspannt seinen Körper, er gibt sich der Zeit und der Bewegung hin, wird im Rhythmus der Fahrt geschüttelt. Jenseits der geschlossenen Augen und des auf sich bezogenen Körpers öffnen sich schnaubend Türen und schließen sich stöhnend, andere Körper bewegen sich, nähern sich und entfernen sich, berühren für einen Moment und trennen sich wieder, sprechende Stimmen, grobe und feine, in verschiedenen Rhythmen, vermischen sich mit dem Brummen des Motors, und etwas in ihm gewöhnt sich daran, auch an die stickige Luft, und in den Muskeln verbreitet sich ein angenehmes Gefühl, er döst so vor sich hin, man kann einfach so immer weiter, fahren, ohne sich zu entscheiden, wo und wann auszusteigen, und er summt vor sich hin, mit der Musik, die aus dem Radio kommt.
Als er die Augen öffnet, trifft sein Blick auf eine ältere Frau mit einem orangen Plastikkorb voll von Gemüse zwischen den Beinen und einem tropfenden Regenschirm in der Hand. Von ihrem faltenreichen Gesicht, das auf ihn gerichtet ist, ist zwischen dem gestrickten Halstuch und dem Hut nur die Hälfte zu sehen. Ihre Augen sind zusammengepresste, enge, ängstliche Schlitze. Soll sie sich fürchten, denkt Anwar bei sich, aber in seinem Nacken summt es schon: Verschwinde. Bei der nächsten Haltestelle steigt er aus.
Es regnet nicht mehr. Anwar schaut sich um. Neben ihm ein tröpfelnder Stand mit Zeitungen und gebrauchten Büchern. Ein bisschen weiter – ein kleines Kaffeehaus mit zwei kleinen runden Tischen, nass, verwaist; ein prächtiger Schokoladenladen, der wie aus einem ausländischen Magazin ausgeschnitten und hierhin eingeklebt wurde; eine Bankfiliale, vor der ein gelangweilter Wachmann mit Sonnenbrille und Pistole steht; noch ein Kaffeehaus einer bekannten Kette; und noch ein paar Läden – eine für Haustiere, eine mit Mode für betagte Frauen, und vor den Läden ein Streifen von vernachlässigtem Rasen. Weiter unten erkennt Anwar die gelbe „Karmelit“-Station, und auf der anderen Seite der Straße den „Garten der Mutter“. Das ist das alte Zentrum des Karmel-Viertels. Damals, als er ungefähr vier oder fünf Jahre alt war, nahm ihn seine Mutter zur Arbeit mit, genau hierhin, in die danebenliegende Straße, die Panorama-Straße, die heute „Yefe-Nof“ (=schöne Aussicht) heißt. Er hatte eine Halsentzündung, und niemand konnte auf ihn zu Hause aufpassen, so nahm sie ihn mit. Sie wollte ihm eine Freude bereiten, und sie fuhren in der Karmelit. Sie machte daraus eine Sensation: Du wirst in der U-Bahn fahren! In der einzigen U-Bahn in ganz Israel! Sie fährt durch den Berg! In einem Tunnel! Den ganzen Weg lang schwieg er und hielt ihre Hand fest. Er war erregt, verzaubert, aber fürchtete sich auch. Er vertraute dieser Eisenbahn nicht, war nicht sicher, ob sie – nachdem sie sie in die Tiefen der Erde verschluckt hatte, auch bereit sein würde, sie wieder auszuspeien. Danach, im geschniegelten Haus, saß er und betrachtete Mutters fleißige Hände, wie sie den Lappen ausquetschte und die Glasscheibe putzte, die die ausdruckslosen Emaille-Tiere von der lebenden Welt abschloss. Er erinnerte sich an einen durchsichtigen Schwan, einen grauen Elefanten mit aufgerichtetem Rüssel und dünnen, spitzen, elfenbeinernen Stoßzähnen, die er gerne gestreichelt und ihren Stich gespürt hätte. Mutter sagte: Das ist verboten! Und er gehorchte. Er war gehorsam und liebte es zu betrachten und zuzuhören.
Anwar betritt das Kaffeehaus der bekannten Kette. Dort muss man seinen Namen angeben, wenn man Kaffee bestellt, und dann ruft man dich über den Lautsprecher, wenn der Kaffee bereit ist. Anwar bestellt einen großen Cafe au lait, der auf hebräisch „umgekehrter Kaffee“ heißt. Er braucht einen erweckenden Kaffee nach der langen Nacht, denkt er, und der Kaffee muss groß sein, denn er hat viel Zeit, die er hinausziehen muss. Er eilt nirgendwohin. Und – ja, warum nicht – er soll umgekehrt sein, denn heute ist ein umgekehrter Tag. Er arbeitete nachts und wird des Tages schlafen. Er ist rückwärts statt vorwärts gefahren. Er merkt, wie die Müdigkeit seine Gedanken trübt. Die junge Frau hinter der Theke fragt nach seinem Namen. „Adam“, sagt er. Er findet einen Tisch und setzt sich, mit dem Rücken zur Wand.
Sehr schoen! Ich fuege zum Kommentar des Uebersetzers hinzu, dass Arabisch und Hebraeisch nicht nur das Verhaeltnis zu den Zeiten gemeinsam haben, sondern auch, dass sie beide von rechts nach links geschrieben werden und ohne Vokale…und Adam ist nicht nur „Mensch“ in beiden Sprachen, sondern auch Adam, der erste Mensch (Adam und Eva), noch bevor es andere Kategorien wie Religion, Nationalismus und andere -ismen gab…vielleicht sehnt sich Anwar (dessen Name „erleuchtet“ bedeutet) nach dieser biblischen Unschuld, fast Naivitaet, als er den Namen „Adam“ angibt?