Dov Barak: „Ich bin 1950 geboren, meine Mutter hatte die Shoa überlebt, und die Schwangerschaft war mit Komplikationen verbunden, und so kam sie nach Jerusalem, wo ein geeignetes Krankenhaus war. Ich bin in den Kibbuzim Maos Chaim und Jassur aufgewachsen. Im Militär war ich Fallschirmspringer. Und danach siedelte ich mit meiner Frau und den drei Kindern nach Jerusalem um, wo ich mein M.A. in jüdischen Wissenschaften machte. Während dreißig Jahren unterrichtete ich in Mittelschulen und erfüllte dort weitere pädagogische Funktionen. 2011 erschien mein pädagogisches Sachbuch.
„Ssrul“ basiert zwar auf meiner Lebensgeschichte, aber ich glaube, dass sie stellvertretend für eine Generation steht, und deswegen habe ich ihm diesen Namen gegeben. [Ssrul oder Ssrulik sind die jiddischen Versionen von Israel und zugleich der Name der Figur, die den Karikaturisten Dosh (mit bürgerlichem Namen Kariel Gardos) berühmt gemacht hat. U.S.] Neben meinem Kibbuz war ein jemenitscher Moschaw, der mich anzog, weil er so nahe war und gleichzeitig so fern. Die beiden Auszüge geben den Unterschied zwischen den Weltanschauungen und den Lebensweisen im religiösen Moschaw und dem säkularen Kibbuz wieder.“
In seinem Buch heißt der Kibbuz Jassur „Schaar Hagalil“ – das Tor zu Galiläa. So wie Ssrul die Kose-Abkürzung für Israel ist, ist Mali die Kose-Abkürzung für Masal (=Glück). Malis Vater „spielt“ mit dieser Doppelbedeutung im folgenden Kapitel.
Ssrul
von Dov Barak
Übersetzung: Uri Shani
22.
Am Freitag, frisch rasiert, geschniegelt und gestriegelt und in Ausgehuniform, besuchte Ssrul zusammen mit Mali ihre Eltern im Moschaw Achihud, das neben seinem Kibbuz Schaar Hagalil lag. Ssrul versuchte noch einmal, Zweifel anzubringen: „Bist du sicher? Ist es nicht zu früh?“ Der Anfang eines bekannten Lächelns erschien auf ihren Lippen, und Ssrul reagierte sofort: „Na gut, gehen wir rein. Auf deine Verantwortung.“ Mali nahm seine Hand und schritt auf die Tür los: „Und auf deine.“
Als sie eintraten, kam ihnen Rachel entgegen, erstaunt, und mit einer künstlichen Wut, die eine Enttäuschung verbarg, sagte sie: „Soso, Masal! Bringst einen Freund und meldest ihn nicht einmal an!“ Mali sagte, was sie vielmals geübt hatte: „Mama, das ist Ssrul. Er ist mein Freund, und er ist aus Schaar Hagalil.“ Nach ein paar Sekunden, als sie den Inhalt verdaut hatte, reichte die Mutter Ssrul ihre Hand und drückte sie zögernd: „Rachel, Masals Mutter.“
Ssrul sah die Blicke, die Mutter und Tochter wechselten, und versuchte, sie zum Guten zu interpretieren. Rachel ging zum „Haus der Torah“, um Aharon zu rufen. Ssrul betrachtete das Wohnzimmer, wo er mit Mali wartete. Sein Blick heftete sich auf die obere rechte Ecke einer Zeichnung des Tempels, die schief hing. Zunächst wollte er aufstehen und das Bild zurechtrücken, aber dann verzichtete er darauf. Er schaute besser hin und las am unteren Ende: „Denn von Zion wird die Thorah kommen und des Herrn Wort von Jerusalem.“ [Jesajah 2, 3. U.S.]
Mali folgte seinem Wort, und nach einer Weile sagte sie: „Papa wird bald kommen.“
In früheren Jahren hatte Malis Vater nicht viel Zeit gehabt, um die Thorah zu studieren, da er die Familie ernähren musste. In den letzten zwei Jahren, nachdem Mali ins Militär gegangen und die Kleinen herangewachsen waren, würdigte er diesem Studium viel Zeit. Da er kein passendes Haus dafür fand, richtete er im Schuppen einen kleinen Tisch ein, mit einer Lampe, und darüber ein Bücherregal mit der Bibel und dem Talmud und einigen Büchern mit Bibelkommentaren. Das war sein Revier, und niemand durfte sich diesem Tisch nähern. Auch seine Frau durfte dort nicht reinigen, damit sie nicht aus Versehen ein Buch verschiebe, das er offengelassen hatte. Einmal im Monat fuhr er nach Zfat, das war ein Tag, der ganz der Thorah gewidmet war, und wenn er zurückkam, glänzte sein Gesicht, und er brachte ein neues Buch mit. Zu Beginn, wenn er sich hinsetzte, verlautete er in der alten Sprache der Mischnah: „Wer mich unterbricht, gefährdet sein Leben.“ Rachel fragte ihn lachend: „Was meinst du damit?“ Und er antwortete mit eisiger Miene: „Es ist verboten, das Studium zu unterbrechen, außer wenn es um Leben und Tod geht.“
‚Papa studiert‘ wurde zu einem Schlüsselwort. Wenn Besucher oder Nachbarn kamen, hieß Rachel sie, leise zu sein, nahm sie auf die Veranda hinaus oder verschloss sich mit ihnen in der Küche.
Rachel öffnete leise die Tür und räusperte sich. Aharon studierte. Sie näherte sich leise und sagte mit entschuldigendem Ton: „Komm, Aharon, wir haben Besuch. Masal brachte einen Freund vom Militär mit nach Hause.“ Aharon beendete seine Lektüre und betrachtete sie mit verschwommenem Blick. Rachel wiederholte: „Wir haben Besuch. Masal brachte einen Freund vom Militär mit nach Hause.“ Er verstand langsam, was sie ihm sagte, hob einen leidenden Blick zu ihr und fragte, ob er wirklich dafür sein Studium unterbrechen müsse, ob es hier auch nur einen Schimmer von einer Frage um Leben und Tod gebe. Ihr Gesicht bestätigte es, er hob das offene Buch von seinen Schenkeln, legte es auf den Tisch und legte darauf zwei andere offene Bücher. Während er sich mühsam erhob, fragte er mit einer tiefen Angst: „Ein Jemenite? Ist er religiös?“ Rachel schüttelte traurig den Kopf, ihr Beileid bekundend. Er stand da und sagte: „Denn was ich gefürchtet hatte, ist über mich gekommen. [Hiob 3, 25. U.S.] Das Militär bringt das Verberben mit sich, und das Verderben führt zur Sünde. Ihr sollt nicht nachgeben…“ [Der Anfang des Satzes „…und eurem Herzen und euren Augen nicht nachgeben, wenn sie euch zur Untreue verleiten wollen“. Numeri 15, 39. U.S.] Rachel flüsterte: „Komm schon. Sie warten.“
Als er sich nicht rührte, versuchte Rachel, dem Schlag vorzubeugen: „Aus Schaar Hagalil.“ Aharon reagierte mit einem pfeifenden Seufzer: „Aus Schaar Hagalil?!“ und murmelte: „Was für ein Glück. Zuerst ein Freund, dann noch kein Jemenite, dann noch ein Aschkenase, und zu allem dazu noch, Gott behüte, aus dem Kibbuz Schaar Hagalil.“
Er war ganz in Gedanken versunken und ging langsam hinter Rachel her. Als er die Tür erreichte, stemmte er beide Hände gegen den Türrahmen, wie Samson, der den heidnischen Tempel zum Einstürzen brachte. „Komm. Nicht jetzt. Sie warten im Wohnzimmer.“ Rachel wurde langsam ungeduldig. Aharon zögerte. „Begrüße sie, danach werden wir sehen“, drängte sie auf ihn ein. Aharon ließ vom Türrahmen ab und zitierte für sich: „Deinen einzigen, den du liebtest…“ [Gottes Gebot an Abraham, seinen Sohn zu opfern. 1. Mose 22, 2. U.S.]
Mit schwerem Herzen schleppte er sich hinter Rachel her. Bevor sie das Wohnzimmer betraten, drehte sich Rachel zu ihm um und sagte:
„Ohne das Gesicht, als wäre eine Katastrophe geschehen. Du darfst Masal nicht bloßstellen.“
Aharon schaute sie mit traurigem Blick an: „Wirklich ein Glück“, und betrat das Wohnzimmer.
Mali sagte mit gebrochener Stimme: „Vater, das ist Ssrul, mein Freund.“
Aharon betrachtete Ssrul lange und sagte: „Der Vater von Masal, ohne Glück.“ [Aharon benutzt die arabische Formel „Abu Masal“, was sowohl „der Vater von Masal“ als auch „der Glück hat“ bedeutet. U.S.]
Er drehte sich um und ging aus dem Wohnzimmer. Mali blickte von ihrer Mutter, deren Blick ‚tödliche Wunde‘ ausdrückte, zu Ssrul, dessen Blick ‚ich hätte nicht kommen sollen‘ ausdrückte. Bevor der Schabat begann, verabschiedete sich Ssrul, und Mali begleitete ihn schweigend. Als sie sich trennten, sagte er: „Was den Vater umbringt, stärkt die Mutter.“ Mali blickte ihn fassungslos an: „Du verstehst wirklich nichts!“ Ssrul, der schon weitergegangen war, drehte sich um und sagte: „Wir haben viel Zeit zum Lernen.“
Mali antwortete nicht und fühlte nur, wie der Riss in ihrem Herzen sich verbreitete.
23.
Selten, sehr selten, kam Ssrul für einen kurzen Besuch zu Malis Eltern. Meistens kam Mali in den Kibbuz. Ein halbes Jahr nach ihrem Militärdienst, nach einer Mahlzeit ohne ihre Brüder, nahm sich Mali ein Herz und sagte mutig: „Ich habe etwas Wichtiges zu sagen.“ Sofort stand Rachel auf und sagte: „Willst du etwa sagen…?“ und zeigte auf Malis Bauch.
Mali lachte befreit auf. Nachdem sie wieder ernst geworden war, sagte sie:
„Etwas Schlimmeres. Ich ziehe zu Ssrul in den Kibbuz.“
Aharon, den die letzten Monate gelehrt hatten, dass alles vorhergesehen und doch Freiheit zum Demolieren gegeben ist [Paraphrase auf Sprüche der Väter 3, 19], hatte sich auf alles vorbereitet – aber nicht auf das. Im geheimen Winkel seines Herzens wusste er, dass das Verhängnis damit begonnen hatte, dass er sein Einverständnis gegeben hatte, dass sie ins Militär ginge, und vielleicht schon vorher, als er ihr erlaubte, wider Willen, in eine säkulare Schule zu gehen. Nachdem er in der Sache des Militärs die Fahnen seinen Widerstand verbrannt hatte, beschwor er sie, dass sie auf sich aufpasse, denn es gebe dort allerlei Typen, und es sei schwierig, den richtigen Lebenswandel zu bewahren, und sie hatte es ihm versprochen. Seine düstersten Prognosen zeigten ihm nicht, was geschehen würde. „Auch die Propheten fanden keine Offenbarung mehr von Gott“, zitierte er für sich aus den Klageliedern Jeremias, als er sich vorzustellen versuchte, was mit ihr geschah, bis Ssrul ihr Haus betrat. ‚Ein Glück, sieht mein Vater nicht, was für ein Glück ich habe. Jeder hat halt sein Glück.‘ Er lächelt schief in sich hinein und verspürte immerhin einen armseligen Trost im Wortspiel.
Rachel blickte abwechselnd ihren Mann und ihre Tochter an und wartete darauf, dass einer von ihnen etwas sagen würde. Aharon schwieg. Dann sagte schließlich Mali: „Es ist bestimmt schwierig für euch. Ich kann das verstehen.“ Da explodierte Aharon: „Du kannst das verstehen? Ich kann es nicht verstehen! Warum ist es so schwierig? Warum könnt ihr nicht im Moschaw wohnen? Oder in der Stadt? Von allen Orten ausgerechnet in ‚Schaar Hagalil‘? Welche Sünde habe ich begangen, dass ich das verdiene?“ Er nahm seinen Kopf in seine großen Hände und schüttelte ihn.
Mali näherte sich ihm und kniete nieder. Sanft legte sie ihre Hand auf seinen Arm und sagte: „Papa, glaube mir, ich verstehe dich. Das ist nicht meine Wahl. Das ist mein Leben, mein Schicksal.“
Aharon zog entschlossen seinen Arm von ihr weg, und Mali blieb mit ihrer Hand auf dem Tisch. Nach einem Moment zog sie sie zurück und ging wieder an ihren Platz. Rachel sah alles, und eine riesige Träne erfüllte ihr Auge. Mali wandte sich an sie, flehend: „Mama, sag was.“ Rachel ging zu ihr, schaute ihr in die Augen und sagte leise, wie damals, als sie ein kleines Kind war: „So wie Mama immer sagte: ‚Mein Kind, die Taube erblüht nur durch ihre Flügel.'“ Ein unsäglicher Schmerz schlug Mali auf die Brust. Sie umarmte ihre Mutter und flüsterte ihr ins Ohr:
„Oma hatte recht.“
Nach einer lagen Weile des Schweigens sagte Rachel: „Limonade?“, ging in die Küche und kam mit einer kühlen Karaffe und drei Gläsern zurück, goss ein und reichte uns.
„Es ist heiß heute. Trinkt etwas Kühles!“
Aharon hob den Kopf aus seinen Händen und starrte in die Ferne. Mali und Rachel tranken langsam. Plötzlich stand Aharon auf, wie jemand, der etwas verstanden hatte und ging entschlossen in Richtung seines „bescheidenen Tempels“. Mali sagte: „Es gibt noch etwas, das ich sagen muss“, während ihr Blick versuchte zu erforschen, ob ihre Eltern einen weiteren Schlag überleben würden. ‚Mutter wird es‘, dachte sie. ‚Und Vater – der wird es auch in einem Jahr nicht können, wenn überhaupt irgendwann, also – was solls!‘ Und sie fuhr fort: „Wir werden im Kibbuz zusammen wohnen…“, und da sie keinen leichteren Weg fand, es zu sagen, endete sie ohne Umschweife: „…aber wir heiraten nicht. Jedenfalls, nicht sofort.“
Aharon sank auf seinen Sessel nieder. Nachdem er schon gedacht hatte, dass der Kelch seines Leids bis an den Rand gefüllt war, schrie er: „Um Gottes willen, so heiratet wenigstens!“ Seine Worte erschreckten Rachel, aber Masal blieb standhaft. Aharon spürte, wie Jachin und Boas, die letzten Tempelpfeiler, die ihm noch geblieben waren, zusammenstürzten und in einer trüben Flut dahinschwammen. Mit letzter Kraft versuchte er, seine Tochter zu überzeugen: „Auch im Kibbuz heiraten die doch!“ Er blickte von seiner Frau zu seiner Tochter.
Mali war betroffen, aber sie empfand, dass es nichts mehr zum Thema zu sagen gäbe. Nach einer eisigen Stille stand Aharon mit Mühe auf, warf Rachel einen strengen Blick zu, die um den Preis wusste, den sie dafür bezahlte, dass sie ihre Tochter unterstützte, und schritt in seinen Winkel. Das Knirschen des Stuhles und die Öffnung der Bücher, begleitet von seinem Stöhnen, erfüllten die Stille des Hauses.
Wie der Autor sagt „so nah und doch so fern“. Auf eine satirische Weise hat sich auch Ephraim Kishon (sowohl in Buch- als auch in Filmform) mit diesen kulturellen Differenzen beschaeftigt, vor allem mit der Figur Sallach Schabbati, einen jemenitischen Einwanderer, dessen Tochter sich – wie hier – in einen Kibbutznik verliebt. Hier eine Szene aus dem Film (mit englischen Untertitel): https://m.facebook.com/arikaynshtayin/videos/1791751511071756/
(Es sollte hier erwaehnt, dass sowohl Arik Einstein, der den Kibbutznik spielt, als auch Chaim Topol, der den Schwiegervater in spe spielt, Aschkenazim sind)
Ich glaube, dass es doch einen fundamentalen Unterschied zwischen den beiden gibt. Bei Kischon ist der Jemenite ein primitiver Idiot.
Reaktion des Autors: „Der Unterschied zwischen Kishons Ssaleh und Ssrul besteht darin, dass die orientalischen Figuren bei Kishon eine Karikatur eines orientalischen marokkanischen Stereotyps sind, während meine Figuren aus immenser Wertschätzung ohne den geringsten Hinweis auf Vorurteile, Stereotypen oder Verachtung präsentiert werden. Es gibt keinen Unterschied zwischen orientalischen und europäischen Figuren, sie haben alle Krisen und Erfolge … wie im Leben.“