„Von dort hierher“ (Beit-Eked, 2019) ist die Geschichte von zwei Vettern, A. Berger und Jekutiel. Beide leiden unter schwerer Depression, und das Buch erzählt ihr Leiden. Der eine schafft es, aus der Depression aufzusteigen, der andere nicht so sehr. Das Buch ist in kurzen Abschnitten geschrieben, und jeder Abschnitt bildet eine Einheit. „Dort“ ist die dunkle Welt der Depression, „hier“ ist Gesundheit und Kraft.
Gil Daleski leitet Gruppen zum Thema zwischenmenschliche Beziehungen und ist Touristenführer. Er hat mehrere Bücher geschrieben, darunter einen Lyrikband und zwei Kinderbücher. Er lebt in Jerusalem, wo er geboren wurde und sein ganzes Leben gelebt hat.
Bemerkung des Übersetzers: Aufschluss ist ein geologischer Begriff. Der hebräische Begriff dafür weckt eine andere Assoziation als der deutsche, und er bedeutet auch (und vor allem) Dekolletee.
A. Bergers Flaschen
Die Flaschen wurden nicht in die Gelbe Tonne geworfen, sie häuften sich in A. Bergers Haus zu einem nutzlosen, unberührten Sisyphos-Berg. Einerseits wollte er sie nicht fortwerfen, andererseits befand sich die Gelbe Tonne am oberen Ende der Straße, und A. Berger hasste Aufstiege. Es war sein Vetter Jekutiel, der ihm in seiner Jugend den Namen A. Berger gegeben hatte (eine Variation auf den Kosenamen „A.B.“, ein Kosename, der immer weniger passte, je mehr Jahre vergingen). Und so kam es, dass A. Berger begann, auf den Flaschen zu sitzen, mit ihnen zu schlafen und sie fast zu essen. Öfters verschwand Stefan, sein geliebter Kater, unter dem Flaschenberg. So verlor er manchmal seinen einzigen Freund, der wie kein anderer seine Geheimnisse kannte.
Wie wenig er doch das Leben genoss, dachte er bei sich. Wie gering war seine Kraft, die ihn in einem langweiligen Kreis herumführte und ihn von den Freuden des Lebens fernhielt. Mit einem plötzlichen Schwung öffnete er den Rollladen des Balkons und schaute hinaus. Er sah Leben. Menschen, Kinder, Autos, Bäume und Lärm. Das Leben stieß ihn zurück in die Wohnung. Er schloss den Rollladen und meinte: Das war nicht gemeint.
Abend. Die Verzweiflung machte ihn mutig. Er ging den Jungen nach in die Kneipe. Zwei Dinge schlugen ihm ins Gesicht, als er eintrat – der ohrenbetäubende Lärm der Musik und der erstickende Zigarettenrauch. Er setzte sich an einen Tisch, alleine, und bestellte ein Bier. Um ihn herum sahen alle miteinander beschäftigt aus, und fröhlich. A. Berger fühlte, dass er anders war. Es zerquetschte ihm das Herz. Dann bestellte er noch ein Bier. Er erinnerte sich, merkwürdigerweise, an die hohen Halme, die er am Wegrand gesehen hatte. Er wurde traurig. Er beendete das Bier und ging nach Hause. Eine schwarze Wolke saß auf seiner Brust. Am Morgen erinnerte er sich an den gestrigen Abend. Das war nicht gemeint, dachte er.
Er dachte lange nach und musste sich zugestehen, dass es noch viele Möglichkeiten gab, und im selben Atemzug verstand er, dass er genug vom Suchen hatte. „Bin ich verzweifelt?“ fragte er Stefan, und der Kater schmiegte sich an sein Bein und wandte sich wieder dem Flaschenberg im Wohnzimmer zu, um sich darin zu kuscheln. „Bin ich verzweifelt?“ fragte er sich selbst. Als er keine Antwort erhielt, ging auch er ins Wohnzimmer, um sich unter dem Flaschenberg auf dem Sofa zu kuscheln. Am nächsten Tag ging er nicht zur Arbeit und benachrichtigte niemanden. Auch das Telefon nahm er nicht ab. Er blieb auf dem Sofa drei Tage und drei Nächte. Am vierten Tag gab er Stefans Jaulen schließlich nach und gab ihm etwas zum Essen. Er selber aß einen Apfel, der schon begann, faul zu werden. Stefan schaffte es nicht, den Grund von A. Bergers seltsamen Benehmens zu verstehen. Er schmiegte seinen Hals an seiner Brust und schnurrte. Da keine Reaktion kam, ließ er davon ab. Schließlich schaffte er es, den Eimer mit seinem Essen umzustürzen, und alles Andere war ihm egal.
Ich kann hier sterben, und keiner wird’s bemerken, dachte A. Berger. Ich kann aufstehen und mich duschen, mich rasieren und zur Arbeit gehen. Aber ich kann nicht zur Arbeit gehen, denn ich erreiche kaum die Toilette. Und trotzdem ist hier etwas besonders, ich bin wahrscheinlich der erste Mensch, der sich in einem Plastikflaschenberg erstickt. Er grub sich in den Berg hinein und wartete.
Von innen gesteinigt
Eine schwarze Wolke steigt von seinem privaten Brennofen auf. Jekutiels Herz machte mit jeder Sirene einen Sprung, stand still. Keiner gedachte ihm mit einer Gedenkminute. Als lebe er. Keiner kennt ihn. Wenn seine Schmerzen sich anhäufen, lehnt er sich an die sich abblätternden Wände seines Hauses. Wenn seine Schmerzen sich anhäufen, bedrohen sie ihn zu erdrücken, wie gewaltige Granitsäulen in der Wüste. Wenn seine Schmerzen sich anhäufen, ist kein Raum mehr da. Es gibt Schmerzen, die wie harte Besen an den sensiblen Orten kratzen. Er wird wie von innen gesteinigt, keiner bemerkt es. Verbrannte Weiten berühren sein Kleid. Sein Leben geht vor ihm in Flammen auf. Er wird nicht mehr jener gebückte Mensch mit Falten im trockenen Gesicht, mit Worten, die durcheinandergehen, mit engen, zu dunklen Augen sein. Der Winter folgt auf den Sommer, der auf den Winter folgt. Der Lärm der Stille in seinem Zimmer beschädigt den Verlauf seiner Gedanken. Vor sich selber entfliehend bricht Jekutiel in die Weiten aus, stolpernd.
Aufrecht stehen
Gold und Silber in dieser Welt, und Taubenkot und Dreck. Der Lebenslauf eines Menschen ist das Resultat eines ständigen Dialogs mit dem Schöpfer. Dieser mit seinen Taten, und jener mit dem Lohn für seine Taten. Wir sehen alle den Dreck, auf dem wir ausgerutscht sind, verfluchen Himmel und Erde, und treten schnurstracks in einer noch größere Dreckfalle hinein. Wenn du die richtigen Zusammenhänge nicht verstehst, erhältst du immer mehr Dreckangebote.
Gnade steht immer vor dem Gesetz. So wie Abraham vor Isaak steht, so wie eins vor zwei steht, so wie der Abend vor dem Morgen kommt. Das ist eine Tatsache im Leben der Menschen. Zu Beginn sind wir mit Gnade gesegnet. Die halbe Scheibe Butterbrot, die mit der Butter oben zu Boden fällt, das ist das Ergebnis einer Einstellung, die der Mensch in seinem Leben angenommen hat, nicht Zufall.
Jekutiel sagte einmal zu A. Berger: „Ich wünschte, ich hätte deinen Mut. Alles, was ich kann, ist in die Stille und die Zigaretten hineingestürzt.“ Sagte es und zündete sich eine Zigarette an.
„Von meinem Gesichtspunkt aus scheint es mir, dass auch ich die ganze Zeit abstürze“, antwortete ihm A. Berger.
„Aber du gräbst dich hinaus, und ich versinke nur immer mehr“, sagte Jekutiel. „Du lebst, zumindest manchmal. Du hast den Mut, zu deinem Schicksal ‚Nein‘ zu sagen.“
„Ich habe bemerkt, dass eine schwierige Zeit immer nach einer guten kommt. Immer wenn ich die gute Zeit als selbstverständlich angenommen habe. Als stehe es mir zu. Und umgekehrt, wenn ich mich einfach für das Gute bedankte, ohne eine Haltung von „es steht mir zu“ einzunehmen, ging es damit weiter und hörte nicht auf.“
Jekutiel schwieg. Dann sagte er: „Du sagst, das Schlechte und das Harte im Leben – sie kommen als Belohnung auf eine falsche Einstellung. Und eine richtige Einrichtung, von Dankbarkeit, bringt das Gute.“
„Ja, die Einstellung von Dankbarkeit entwickelt man durch Lernen. Dankbarkeit für das Gute, Lernen vom Schlechten. Es scheint, dass der Schöpfer uns in verschlungene Lebensläufe verstrickt, nur damit wir lernen und zur richtigen Einstellung gelangen. Es ist nicht so wichtig was geschieht, viel wichtiger ist deine Einstellung dazu. Präsent sein, dankbar.“
„Wie kann man sich für ein Leben bedanken, das im Bereich der absoluten Null ist!“ sagte Jekutiel, fast schreiend.
„Fang mit kleinen Dingen an“, sagte A. Berger. „Der Schöpfer will, dass du lebst, dass du einen Sinn darin findest. Hast du es geschafft, heute Morgen aufzustehen, du trinkst Kaffee und rauchst – bedanke dich. Du umhüllst dich mit einem warmen Mantel und drehst eine Runde draußen – bedanke dich. Das ist der Anfang. Von dort kann man hinaufsteigen oder hinunterfallen. Eine wahre Dankbarkeit kann dein Leben erfüllen, kann dich aus der Klemme hinausziehen.“
„Komm“, sagte Jekutiel. „Drehen wir eine Runde. Diese Wände erdrücken mich.“
Breite Aufschlüsse
Sie gehen, denn das ist es, was sie tun – sie gehen. Sie, das sind ganz bestimmt nicht wir, die wir in teuren Häusern sitzen, eingelullt in eine falsche Sicherheit, die Augen zugedrückt vor dem Schlag des scharfen Schwertes der Realität. Eine brennende Sonne bringt den Sand, auf dem sie schreiten, zum erglühen, verletzt ihre Füße. Sie gehen, denn es gibt kein Zurück. Sie schauen nicht zurück, und das ist gut so. Sie gehen, denn es gibt kein wohin. Vor ihnen breitet sich eine riesige Wüste aus. Sie schauen nicht geradewegs. Eine Karawane von Männern geht vorüber, die Wüst reagiert mit keinem Blinzeln. Sie haben genug Lebensmittel für ein paar Tage. Wenn sie kein Wasser finden, werden sie verdursten. Sie wissen es, alle verstehen es. Die Erinnerung an die Gräuel begleitet, der Gestank des Mordens. Es sind keine Frauen dabei, denn sie wurden alle entführt. Sie wollen nicht an sie denken. Sie wollen überhaupt nicht denken. Sie machen lieber noch einen Schritt und noch einen Schritt, den Blick in die harte Erde gesenkt, der Mund zugepresst, die Gefühle ins Innerste hineingedrückt. Sie wissen, dass ihr Schicksal besiegelt ist. Sie sind keine Wüstenmänner, sie sind Bauern. Die breiten Aufschlüsse, die weiten Flächen voller Steine, sie sind ihnen fremd. Wer nicht im Dorf gestorben ist, wird in der Wüste sterben. Sie schreiten zu ihrem Tod. Ein vorüberstreifender Wind verwischt ihre Spuren, bläst weit weg Gebete, die nicht gesagt wurden.
Schmale Öffnung
Der Wind blast im uralten Uadi, als sagte er: „Ich kam, um nicht wieder wegzugehen. Ich werde nicht weggehen, hört ihr?“ Ihr stellt euch vor, dass ein Wind etwas Vorübergehendes sei, mal hier mal dort, mal gar nicht. Der Wind, der A. Berger durch die Knochen fuhr, seine Muskeln umgab, sagte: „Dieser Ort ist gut, ich bleibe hier.“ Er ist ausgezeichnet, trägt ihn höher und höher. In der Vergangenheit hatte er ihn in alle Windrichtungen verstreut. Er ging im Uadi herum, sammelte seine Teile ein. Aber er verstreute sie wieder. Nicht aus Bosheit. Er wollte ihn wachsen sehen, ihn in den Wind hineinwachsen. Das uralte Uadi war von einer uralten Weisheit. Zwischen seinen Felsen, zwischen den wild wachsenden Bäumen, im Wasser, das aus der Erde sprudelte. Dort wandelte er oft, um sich zu sammeln. Dort befiel ihn die uralte Weisheit, als er sich bemühte, der Schweiß tropfte von ihm herunter, aber er hielt nicht inne. Einmal setzte er sich unter einen Baum, lehnte sich an einen Felsen und schlief ein. Im Traum sah er ein wunderschönes Bild. Fließendes Wasser in der Farbe des Lichts, mit roten Fasern, fließt in eine schmale Öffnung und brechen aus ihm in einem prächtigen Regenbogen von Farben und Licht aus. Er wachte auf mit dem Gefühl, dass etwas geschehen war, es hatte sich etwas entschieden, und er stieg langsam zum Eingang des Uadi.
Nebenbei interessante Wahl beim Namen der Charaktaere: Jekutiel, oder jekuti-El uebersetzt sich als „Himmlische Hoffnung“ – und das bei einem Menschen, der sich durch Depression und Hoffnungslosigkeit definiert. Aber vielleicht ist es ironisch gemeint…