Ofir Oz ist preisgekrönter israelischer Schriftsteller. Sein drittes Buch „Die beste aller Welten“ erschien 2020, seine Geschichten erschienen auf Hebräisch und in englischer und persischer Übersetzung. Die auf Englisch übersetzten Geschichten erhielten unter anderem den „London Independent Story Prize“ und erschienen im „michigan quarterly review“. Die folgende Geschichte erschien im Magazin „Short Story Project“.
Hat mich gefreut, dich nicht kennenzulernen
Von Ofir Oz
Übersetzung: Uri Shani
Manchmal kommen zu uns wildfremde Leute, eure Freunde, die selber auch Kinder haben. Ich habe kein Problem damit, sollen sie kommen, ihr habt das Recht, sie einzuladen. Aber wenn sie kommen, dann sollen sie zu euch kommen, warum kommen sie zu mir? Was hat das mit mir zu tun? Sie kommen hinein, Schalom-Schalom, Umarmung-Kuss, und sofort überfallen sie mich. Die Frau bückt sich, hält ihr geschminktes Gesicht vor meines, lächelt wie eine Witzfigur mit einem riesigen Maul, streichelt mir meine Wange und stellt fassungslos fest: „Wie groß du geworden bist!“
Ich bin groß geworden? Blödsinn. So bin ich. Das ist meine Größe. Und auch wenn schon – was soll ich auf sowas antworten? Erstaunt feststellen, wie alt sie geworden ist?
Und dann sagt sie: „Ich erinnere mich an dich, als du noch soo klein warst“, und zeigt mit ihren Händen eine Größe eines Tablet-PC.
Schön, dass sie sich erinnert, denn ich erinnere mich nicht. Erinnere mich nicht, dass ich noch „so“ war und erinnere mich nicht an sie. Nie im Leben habe ich sie gesehen. Ist sie zu meinen Eltern gekommen? Dann soll sie zu ihnen gehen, was will sie von mir? Ich bin ein beschäftigter Junge. Ich spiele mit meinem Traktor, und sie störst mich.
Als sie es schließlich aufgibt, steht sie auf und geht zu meinen Eltern, aber dann kommt ihr Mann, und ich muss mich mit ihm abgeben. Glücklicherweise ist es mit ihm leichter, denn das ist ein Lebewesen mit nur einer Funktion. Er kommt zu mir und schreit mich an: „Mensch! Kumpel! Gib ein High five!“ Also geb ich ihm ein starkes high five, und ich weiß schon, dass er sich danach die Hand festhält, als hätte es ihm schrecklich wehgetan. Sie sind keine sehr raffinierten Kreaturen, die Ehemänner, man kann sie nach einem High five loswerden. Eine Banane hinschmeißen und nie mehr sehen.
Erst nachdem ich sie endlich loswerde, und sie sich mit meinen Eltern hinsetzen, Kaffee trinken und über Politik schwatzen, wende ich mich wieder meinem Traktor zu und versuche, einen roten Legostein auf der Schaufel hinzulegen, ohne dass es runterfällt.
Aber nicht immer endet das so glatt. Es gibt die schwierigen Fälle, nämlich wenn sie ihr Kind mitbringen. Dann hängen sie es mir an den Hals. Warum binden sie mir ihr Kind auf? Weil wir Spaß haben, miteinander zu spielen? Nein. Sie umwickeln mich mit ihrem Kind, damit ich sein Babysitter sei. Es interessiert mich nicht, ihr Kind. In den meisten Fällen ist es jünger als ich, starrt mich mit seiner nasetriefenden Fratze an, und sofort verstehe ich, dass sich da ein Konflikt anbahnt, denn ich habe nicht vor, es lange auszuhalten.
„Spielt zusammen!“ versucht Mama mich zu motivieren.
„Schau, er hat einen Traktor!“, sagt der Vater des Kindes.
Es interessiert sie gar nicht, ob wir Lust haben, miteinander zu spielen. Für die Erwachsenen, wenn wir etwa im gleichen Alter sind, das heißt dann gleich, dass wir Freunde sind.
Oh, wie gerne würde ich es ihnen zurückzahlen! Sie an jemanden festkleben, jemanden in ihrem Alter, den sie nicht kennen, sagen wir mal, den Schulwart im Kindergarten. Er ist auch Vater, er ist der Vater des Kindergartens. Ich würde ihn nach Hause bringen und sagen: „Ich stelle vor: Das ist der Schulwart, ab jetzt seid ihr Freunde. Schaut nur, er hat einen Schlüsselbund mit einer Menge Schlüssel! Spielt zusammen!“ Das würde ich ihnen sagen.
Aber die Welt funktioniert nicht so, in unserer Welt sind es die Eltern, die die Kinder schinden und knechten, und nicht umgekehrt.
Wenn sie sehen, dass es nicht so gut geht, strengt sich Mama an: „Das ist aber nicht schön!“ So rügt sie mich. „Teilt es euch, spielt zusammen mit dem Traktor.“
Sie versteht nicht, dass man den Traktor nicht aufteilen kann. Das ist, wie wenn ich ihnen sagen würde: Teilt es euch mit dem Schulwart, zum Beispiel diese Wertpapiere, über die sie die ganze Zeit sprechen. Ich habe das Gefühl, dass sie da auch nicht einverstanden wären.
Wenn es nicht läuft, dann ignorieren sie uns und hoffen, dass es irgendwie irgendwann dann doch gehen wird, setzen sich auf ihre hohen Stühle an ihrem hohen Tisch und trinken Kaffee.
Ihr Kind glotzt mich an. Ich mache ein Gesicht, das sagen soll: „Hat mich gefreut, dich nicht kennenzulernen“, wende mich von ihm ab und hebe noch einen grünen Legostein auf die Traktorschaufel. Und dann legt dieses nasetriefende Kind los mit lautem Weinen. Es beginnt zu weinen, und seine Eltern sind zutiefst enttäuscht. Warum sind sie enttäuscht? Weil ihr Kind weint? Woher! Sie sind enttäuscht, weil sie jetzt aufstehen und sich um ihn kümmern müssen. Sie müssen aufstehen und sich um ihren Rotzbengel kümmern, weil ich nicht bereit bin, das für sie zu tun.
Sie kommen und versuchen, es zu beruhigen. Ich versuche, mich auf den Traktor zu konzentrieren, aber seine Schaufel fällt hinunter und die beiden Legoteile fallen auf den Boden. Jetzt beginne auch ich vor Wut zu schreien. Das Kind hört mich und schreit noch lauter. Mama kommt, umarmt mich, aber ich bin nicht bereit mich zu beruhigen, damit sie verstehe, dass das nicht einfach so ein Weinen ist. Sie haben mir den ganzen Nachmittag versaut, mit ihren Freunden und deren nasetriefendem Lausebengel.
Dann kommt die ultimative Lösung: der Fernseher. Wenn die Eltern keine Kraft mehr haben, sich mit uns auseinanderzusetzen, drehen sie den Fernseher an. Mama hebt mich auf das Sofa. Papa drückt auf die Fernbedienung. Meine Tränen trocknen im Nu. Den Fernseher mit dem nasetriefenden Rotzbuben zu teilen, damit habe ich kein Problem. Wir sitzen nebeneinander, starren auf den Zeichentrickfilm, egal welcher, wir sind nicht pingelig. Der Fernseher ist besser als der Traktor, der Fernseher bedeutet Hausfrieden.
Aber schnell ist all das Gute vorbei, sie kommen, um uns zu ärgern.
„Was ist denn das? Wie lange schaut ihr schon fern? Eine ganze Stunde, das ist zuviel.“
Wie wenn das unsere Idee gewesen wäre.
Und Papa dreht den Fernseher ab, wir protestieren, obschon es auch uns schon ein wenig langweilig ist. Die Großen machen Abschieds-Gesten. Und wieder Umarmung-Kuss, Umarmung-Kuss, Auf Wiedersehen, und: „Wir sprechen uns ab“, und „wir machen was ab“, und „wir treffen uns dann“ und „kommt doch auch mal“, „machen wir doch mal nen Ausflug“, und „das machen wir in den Feiertagen, gute Idee“.
Dann kann man die Gelegenheit benutzen und Schokolade fordern. Und Mama gibt sie mir, sie gibt mir immer Schokolade, wenn Gäste da sind, auch dem nasetriefenden Lümmel gibt sie, aber das ist mir egal, Hauptsache ich habe was. Ich verschlinge die Schokolade schnell, sie steigt mir in den Kopf, und der Besuch hat sich gelohnt. Jetzt bin ich glücklich.
Danke dir, Daniele Levanto
Koestlich! Erinnert mich sehr an „Ramzor“: https://en.m.wikipedia.org/wiki/Ramzor, aber literarisch…