Die Kurzgeschichte „Zwicken“ von Shoshana Vegh erschien in der Novelle „Die Traurigen“ (2016, Piutit). Es ist eine Erzählung in Form eines Bekenntnisses einer Frau, deren Bruder vor vierzig Jahren während einer militärischen Übung tödlich verunglückte.
Dabei benutzt die Autorin die Namen ihrer eigenen Familie: Auch ihr Bruder verunglückte tödlich während einer militärischen Übung. Sie versteckt sich also nicht hinter literarischen Figuren und macht sich dabei zweimal zum Opfer: einerseits als Schwester eines gefallenen Soldaten, und andererseits als Stellvertretende für alle Geschwister von gefallenen Soldaten.
Zwicken
von Shoshana Vegh
Übersetzung: Uri Shani
Auch nach all den Jahren sind die Spuren meiner Mutter in mir eingeprägt. Ein kleines Zwicken, eine Erinnerung an ferne Jahre. Auf den Treppen stieg ich zwei Stufen aufs mal hinunter und hinauf. Ein lederner Schulranzen hing an meiner schmalen Schulter. Mein Haar war kurz geschnitten. Damit ich ja nur nicht zerstreut sei. Immer geordnet. In Schuluniform vom Morgen bis zum Abend. Und wie in einem militärischen Appell lag das Hemd am Ende des Tages auf dem Stuhl und wartete auf den nächsten Tag.
Schon am Eingang zum Haus, noch bevor ich die Treppen hinaufhüpfte, befürchtete ich, dass meine Mutter mit Saubermachen beschäftigt war. Und tatsächlich, vielfach traf ich auf sie außerhalb der Tür, wusch gerade den Eingang auf. Sie saß gebückt auf ihren Knien und wrang den Lappen aus. Als ich neben ihr stand, bat sie mich, nicht hineinzugehen, und wenn ich auf den Boden trat, während er noch nicht trocken war, zwickte sie mich in den Arm. Gehorsam saß ich auf der Treppe mit gebückten Knien und wartete, bis sie ihre heilige Arbeit beendet hatte.
Meine Mutter machte Kunststücke. Sie tauchte den Lappen tief in den Eimer ein, und nachdem sie sich gebückt hatte, schwang sie ihn schnell hoch in die Luft. Ihr Körper spannte sich an, und beim Atmen rollte sie den Lappen nach rechts und dann nach links. Der Lappen wand sich wie eine Schlange in ihren Armen. Und als er ganz ausgewrungen war, glättete sie ihn in seiner ganzen Breite, stülpte ihn auf den Schrubber und atmete gemächlich aus.
Es gab keinen Tag ohne Reinigung. Meine Mutter zwickte mich in den Arm, als wolle sie mir ihren Stempel aufdrücken, den Ordnungs- und Reinigungsstempel. Nachdem sie alle Böden auf Hochglanz gebracht und jedes Stäubchen aus allen Ecken entfernt hatte, roch das ganze Haus von Reinheit. Kein Staubpartikel war zu finden. Kein Fingerabdruck durfte auf den Möbeln im Haus landen – wenn die kleine Hand noch in der Luft war und sich auf den Tisch legen wollte, schickte sie ihre blitzenden Blicke, uns warnend davor, ja nicht einfach so unsere Hände auf die Formica zu legen. Und wir waren diszipliniert wie Soldaten im Militär.
Keine einzige Minute im Tagesablauf wurde vergeudet. Alles machte sie unnachgiebig, sie war sehr streng mit sich selbst, und streng mit uns. Sie übertrieb die Kontrolle über die Pflege der Sauberkeit, und sie übertrieb die Kontrolle über uns. Nahm alles viel zu ernst. Nicht einmal zu Schulausflügen durften wir mit, denn sie befürchtete, dass sie uns nicht überwachen könne. Sie verließ das Haus nicht, um mit Nachbarn zu plaudern, und saß nicht in Restaurants mit Freundinnen, um ihre Geheimnisse zu erzählen. Wenn sie ihr Tageswerk beendet hatte, das Saubermachen, das Kochen, Nähen und Stricken, legte sie sich ins Bett und las manchmal in einem französischen Journal.
Das Wohnzimmer war ein steriler Bereich. Es stand dort ein Sofa und zwei Sessel, die in der Herzl-Strasse in Tel-Aviv gekauft worden waren. Das Sofa hatte hölzerne Armlehnen und war mit einem karierten grün-orangen Stoff und mit grünem, glänzendem Kunstleder bezogen. Ein wunderschöner Formica-Tisch stand geschniegelt und gestriegelt in der Mitte und darauf, an allen Tagen des Jahres, eine Vase mit Gladiolen. Keine Chance, Staub im Bücherschrank an der östlichen Wand zu finden. Porzellanpuppen und Flaschen mit alkoholischen Getränken standen stumm auf der Anrichte und bewahrten streng ihre Sauberkeit. Ihre Beine standen in kleinen Schuhen. Die Tür zum Wohnzimmer war abgeriegelt, und der Schlüssel lag verborgen in einer Schüssel neben dem Telefon. Es war eine Glastür, neben der braunen Eingangstür zur Wohnung. Das Wohnzimmer war ein Sektor, der durch Jalousien von allen Seiten abgedunkelt war. Eine Dunkelheit, in der die einzigen Gäste die Gladiolen waren. Wir wussten, dass das Wohnzimmer nur dem Empfang von wichtigen Besuchern diente. Im dritten Stock in der Präsidentenstraße in Ashkelon betraten das Wohnzimmer unserer Wohnung nur die wichtigsten Besucher, solche aus Frankreich. Und Mama wollte ihnen immer den Eindruck machen, dass wir wirtschaftlich gut situiert waren. Und wenn sie zu Besuch da waren, wurde das schöne Porzellan-Geschirr aus der Anrichte geholt, das uns im Alltag verboten war. Sie stellte Kristallpokale auf den Tisch und servierte den Gästen Champagner und Delikatessen. Für einige Momente war es uns, als wären wir tatsächlich reich, so reich wie die Gäste, die plötzlich da waren. Und im Nu befreite sie sich von allen Zwängen, und wir konnten sie laut lachen hören. Ihre Kehle huldigte der französischen Sprache. Wir schwiegen, neigten das Ohr, versuchten, sie zu verstehen. Wörter, die in jüdisches Arabisch getaucht waren. Das Wohnzimmer, und alles, was dort geschah, interessierte uns nicht. Nur der Balkon, der von ihm zu erreichen war, war unser Herzenswunsch. Wenn wir an der verschlossenen Tür vorbeigingen, fühlten wir uns im Exil, und er, der Balkon, war das verheißene Land, das wir nicht erreichen konnten. Wir schlüpften zu ihm im Geheimen hinaus, auf den Zehenspitzen der nackten Füße. Wenn Papa und Mama nicht zu Hause waren, lehnten wir uns über das Geländer und schauten weit weg hinaus, über die Haine hinweg, zum Meer, und träumten von einer Zukunft, die sich dort am Horizont ausbreitete.
***
Eines Morgens, vor den Sommerferien, wachten wir vom Hämmern eines Bohrers auf. Wir sprangen erschreckt aus den Betten und standen, noch ganz verdattert vom Schlaf und im Pijama, vor der schmalen Tür des Lagerraumes, dort sahen wir, dass es für Papa offenbar schon mitten am Tag war und er ein Loch zwischen dem schmalen Lagerraum und dem Balkon bohrte. Er hielt einen riesigen Bohrer in den Händen, manchmal legte er ihn auf den Fußboden und nahm einen großen Hammer zur Hand. Es war der Lagerraum, der die Küche mit dem Balkon verband. Nach einer Woche konnten wir, durch ein Loch gehend, auf dem kleinen Balkon sitzen. Das Loch in der Form eines oben mit einem Bogen gewölbten Tores sah aus wie der Eingang zu einem orientalischen Club, an dem ein Vorhang mit braunen und schwarzen Plastikperlen hing, und an der Decke hing ein kupferner Lampenschirm, mit künstlichen Edelsteinen geschmückt, wie in den Tausend-und-eine-Nacht-Geschichten. Der Balkon befreite uns von den engen Fesseln der Hausordnung, wir konnten dort während Stunden sitzen und uns an das Geländer lehnen. Aber auch Mama war von ihnen eigenen Gesetzen befreit. Sie saß mit uns an jedem Tag, lachte und sang Lieder aus ihrer Kindeszeit: „Frere Jacques, frere Jacques, dormez vous? Dormez vous?…“ Und machte immer noch sauber. Sie hatte jedoch nicht viel Zeit, um sich auf dem Stuhl auf dem schönen Balkon auszuruhen, den ihr Papa eingerichtet hatte. Eines Tages vergingen die schönen Jahre, die wir mit Liedern und Tänzen auf dem Balkon verbrachten, und mit Partys, die mein großer Bruder Tuwja im Wohnzimmer in den frühen Siebziger Jahren feiern durfte, als er ein junger Mann war. Auf einmal war alles vorbei. All das Saubermachen half nichts. Es half nicht die verschlossene Tür, die die Gladiolen vor zu frühem Verwelken bewahren sollte. Es half nicht, dass sie nicht einfach so mit Freundinnen tratschte, und es half nicht, dass sie so begabt und gut war, in allem was sie tat. Es geschah ihr und uns, in demselben Wohnzimmer, das sie so liebte pflegte und vor jedem Schaden beschützte. Dort saßen wir trauernd und wehklagend. Dort stürzte unsere Welt zusammen. Das Wohnzimmer wurde zu einem erstickenden Brei. Papa saß auf einer Matratze, die von Tuwjas Zimmer gebracht wurde, und wir, ich und mein kleiner Bruder Nir, saßen auf Kissen. Mama saß uns gegenüber und verlor alle paar Minuten das Bewusstsein. Alle unsere Hemden hatten einen kleinen Riss, der mit einem Rasiermesser geschnitten wurde. Papa saß in Militäruniform des Reservedienstes, weinte und schrie: ‚Warum bin ich nicht nach Kanada gefahren!‘ Und Mama hörte nichts und fühlte nichts. Es war ihr jetzt schon egal, dass das Haus sich mit Kondolierenden füllte, und der Fußboden dreckig wurde.
Ich weinte. Ich wusste nicht, ob ich richtig weine. Ich wusste auch nicht, wie ich mich zu verhalten habe, wir hatten keine Regeln mehr. Auf einem Mal galt alles nicht mehr. Und Mama war nicht mehr dieselbe Frau seit diesem Tag. Sie schließe sich ab in einer anderen Welt, wo sie mit ihrem toten Sohn war. Die Gladiolen, die sie so liebte, brachte sie zum Friedhof, und dort, im „Wohnzimmer“ meines Bruders in der militärischen Abteilung, putzte sie immer wieder den Grabstein. Dass er ja nicht verschmutze. Und der Grabstein meines Bruders war immer sauber und meine Mutter schwieg immer.
Mama bestellte ihren Platz in der Abteilung der Eltern von gefallenen Söhnen im Friedhof von Ashkelon. Nach zwanzig Jahren war alle ihre Putzerei beendet.
excellent