Krieg, Addie Markuze-Haas, Brodkin
Das Buch "Wie fern auch immer" (2019) von Addie Markuze-Haas erzählt die Geschichte von zwei Menschen, die sich in Palästina in den Zwanziger Jahren verliebten. Die großen Kriege des Jahrhunderts trennten die beiden, aber die Liebe war stärker. Im folgenden Ausschnitt hören die Beteiligten gerade über den Aufstand im Warschauer Ghetto.

Wie fern auch immer

Das Buch „Wie fern auch immer“ (2019) erzählt die Geschichte von zwei Menschen, die sich in Palästina in den Zwanziger Jahren verliebten. Die großen Kriege des Jahrhunderts trennten die beiden, aber die Liebe war stärker.

Jonas Brodkin wurde 1901 in Jaffa geboren, wuchs in Tel-Aviv auf und schon als Jugendlicher Kommunist. Regina Moses wurde 1903 in Kalisz in Polen geboren, kam 1923 nach Palästina und wurde Kommunistin. Sie lernten sich kenne und wurden ein Paar. 1928 verließen sie Palästina, da sie befürchteten, Jonas würde verhaftet werden, und ließen sich in Paris nieder, wo die Kommunistische Partei noch legal war. 1936 meldete sich Jonas für die Internationalen Brigaden, kämpfte im spanischen Bürgerkrieg gegen die Faschisten, wurde verletzt und verlor ein Bein. Regina konnte nicht mit ihm gehen, kehrte nach Palästina zurück und wurde Soldatin in der Britischen Armee. Das Buch erzählt die Geschichte der beiden, bis sie sich nach 16 langen Jahren wiederfanden.

Addie Markuze-Haas wurde in Haifa geboren, hat Biologie studiert (mit M.Sc.-Abschluss), arbeitete im Weizmann-Institut in Rechovot und unterrichtete Biologie. In den letzten 25 Jahren übersetzt sie Sachbücher von Englisch auf Hebräisch. Sie schrieb ein Buch über die Geschichte der Zeitung „Yediot Achronot“ (Carmel, 2013). Ihre Mutter war die jüngere Schwester der Hauptfigur Regina Moses-Brodkin.    

Im folgenden Abschnitt befinden wir uns in Osch, in Kirgistan, im Sanatorium, wohin die Verletzten der Internationalen Brigaden geschickt wurden. Sie wurden nach dem Sieg von Francos Faschisten von der UdSSR aufgenommen. Jonas Brodkin wohnte dort mit einer großen Gruppe von Brigadekämpfern, alle wurden im Krieg verletzt, alle schwer oder leicht behindert. Alle waren Kommunisten aus verschiedenen europäischen Ländern, die nach Paris kamen und sich dort in die Internationalen Brigaden eingereiht hatten. Jonas und seine Kameraden wurden in einem Krankenhaus in Moskau behandelt. Als die Wehrmacht 1941 die UdSSR überfiel, wurden sie nach Osch in Kirgistan, in ein Sanatorium außerhalb der Stadt, evakuiert. In dieser Gruppe von etwa hundert invaliden Kämpfern sind sieben Juden, und im folgenden Abschnitt treffen sich sechs von ihnen im Verwaltungsbüro des Sanatoriums, wo es ein Radio gibt.

Das Buch "Wie fern auch immer" (2019) von Addie Markuze-Haas erzählt die Geschichte von zwei Menschen, die sich in Palästina in den Zwanziger Jahren verliebten. Die großen Kriege des Jahrhunderts trennten die beiden, aber die Liebe war stärker. Im folgenden Ausschnitt hören die Beteiligten gerade über den Aufstand im Warschauer Ghetto.

Wie fern auch immer

von Addie Markuze-Haas

Übersetzung: Uri Shani

Schlagzeile der hebräischen palästinensischen Zeitung „Dawar“ am 27.4.1943: „im Ghetto von Warschau: Regelrechte Kämpfe zwischen den Aufständischen und den Nazis“

Sechs der sieben Juden in der Gruppe saßen mit verschlossenen Mienen im Zimmer von Worozhinnin. Worozhinnin ging hinaus, um – wie er sagte – die wöchentliche Ladung der Lebensmittel, die gerade gekommen war, zu überprüfen, und ließ sie in seinem Zimmer mit dem Radio. Am Morgen des gestrigen Tages hatten diejenigen der Radio-Abhörungsschicht die Nachricht gehört, dass die Juden im Ghetto Warschau einen Aufstand begonnen hätten. Der Radiosprecher hatte davon in dramatischem Ton berichtet, wie es bei besonders dramatischen Nachrichten üblich war, und gesagt, dass die Einzelheiten, die momentan vorliegen, spärlich seien, aber die Warschauer Quellen hätten erzählt, dass die Deutsche Polizei, die vor einigen Tagen ins Ghetto gekommen sei, von verschiedenen Richtungen beschossen worden seien, und dass wegen der völligen Überraschung einige getötet und die anderen aus dem Ghetto geflüchtet seien. Der Radiosprecher fügte hinzu, dass Radio Moskau hoffe, im Laufe des Tages weiteres zu erfahren. Gestern, als die erregten Radioabhörer mit der erstaunlichen Neuigkeit in den Esssaal kamen, brachen alle, auch die Nichtjuden, in Applaus und Freudenrufen aus.

„Wenn die Deutschen etwas abkriegen, das sind immer gute Nachrichten. Besonders wenn sie etwas von den Judenbengeln abkriegen“, erklärte Jaubee. „Was gibt’s?“ fuhr er gegen Beauchard auf, der ihn unter dem Tisch ans Schienbein getreten hatte. „Hab ich was Falsches gesagt?“ Niemand gab sich die Mühe, ihm zu antworten, aber Zepkovicz hielt sich nicht zurück und bewarf ihn mit einer Scheibe Brot. Heute Morgen waren sechs Brigadisten ins Zimmer von Worozhinnin gekommen und wollten zusammen Radio hören, womit er sofort einverstanden war, da er Dringliches im Lager zu tun hatte. Goldwasser und Herz gehörten nicht zur Gruppe der Französisch-Sprechenden. Beide kamen aus Wien nach Spanien, Frankreich war nur eine Übergangsstation, zusammen mit der Gruppe der österreichischen Kommunisten; und Jakobow zog seine bulgarischen Kameraden vor. Aber in dieser Stunde, dachte Jonas aus Palästina, waren sie alle Juden, und natürlich auch Zepkovicz und Rubinstein, die Polen, die nach Paris ausgewandert waren, und auch Goldberg, der mit einer Lungenentzündung im Militärkrankenhaus lag, und es war nicht sicher, ob er sich erholen würde, wegen seiner chronischen Anämie.

Jetzt drängten sich die sechs im kleinen Zimmer aneinander, zwei auf den Stühlen und vier auf dem Bett, zwei Paar Krücken lehnten an der Wand neben der Tür, und Jonas hielt die seine in einer Hand.

Die Stimmung im Zimmer war zum Bersten gespannt. Sie warteten ungeduldig auf das Ende der langen Berichterstattung über die Manöver der Roten Armee in der Schlacht um Kuban, über den Fortschritt unserer heldenhaften Armee und die Schläge, die der Feind von allen Seiten einstecken musste. Sie hörten auch Berichte über die Heldentaten der Arbeiter in der Heimatfront, über die vielen Panzer und die Munition, die unsere Industrie produzierte, über die unglaublichen Leistungen unserer Kameradinnen, der Arbeiterinnen, die Tag und Nacht arbeiteten, um unseren Soldaten an der Front Munition liefern zu können.

Ihre Geduld war schon nahe am Platzen, Zepkovicz hämmerte mit den Fäusten auf seine Knie, Rubinstein zupfte ohne fort an seinem Bart, Herz schritt im kleinen Zimmer wie ein gefangener Löwe hin und her, und die Zigaretten gingen ihnen schon fast aus, als endlich eine Pause von zwei Sekunden eintrat, und dann sagte der Radiosprecher mit düsterer Stimme, einer anderen, als die sie bisher in den Berichten über die Heldentaten der Armee und des Volkes gehört hatten, dass das Radio soeben eine wichtige Meldung über den Aufstand im Ghetto Warschau erhalten habe. Die Quellen berichten, dass die Juden heldenhaft kämpfen, mit Pistolen und Handgranaten gegen Panzer und Kanonen und dem Feind viele Verluste zufügen. Unsere Quellen berichten aber auch, dass der Aufstand keine Chance habe, und dass es sich ohne Zweifel um einen Akt einer letzten Heldentat handelt. Die deutschen Panzer reißen ein Haus nach dem Haus im Ghetto nieder. Wir müssen uns vor diesen Menschen aus dem ach so gepeinigten Volk ehrfürchtig verbeugen, die beschlossen haben, mit der Waffe in der Hand zu sterben. Das war alles. Das Radio machte mit Marschlieder weiter.

Rubinstein vergrub sein Gesicht in seine Hände, seine Schultern zitterten. Zepkovicz begann, auf Polnisch zu fluchen, verließ das Zimmer und schloss die Tür wütend mit einem Knall. Alle anderen schwiegen. Jakobow schloss das Radio, und niemand hatte etwas dagegen.

Jonas legte seine Hand sanft auf Rubinsteins Schulter, aber dieser konnte sich nicht beruhigen. Das Zittern wurde zu einem stillen Wimmern, sein ganzer Körper schrumpfte zusammen. Jonas zog ihn an der Schulter und sagte: „Komm, gehen wir raus.“ Als sie draußen waren, hörte Jonas, dass jemand das Radio wieder angedreht hatte. Die Neugierde war stärker als alles. In diesem Moment spürte er scharf, wie weit weg und isoliert sie waren von allem, was in der Welt geschah.

„Es ist wegen meiner Mutter…“ weinte Rubinstein. „Sie… sie… Vater hat mich angeschrien, nannte mich „Ojcher Isroel“ [ein Verräter seines eigenen Volkes], sagte mir, ich sei sein Sohn nicht mehr… und meine Mutter umarmte ihn, bettelte, bat… “ Ein neuerlicher Schwall von Wimmern durchschüttelte ihn. Jonas schaffte es, ihn zum nächsten Baum neben dem Weg zu führen, dort standen sie, er lehnte sich an den Baum und umarmte den weinenden Jungen.

Nach ein paar Minuten beruhigte sich Rubinstein. „Weißt du, Jonas“, sagte er, „ich bemitleide auch ihn, meinen Vater, ja auch meinen Vater, der mich aus dem Haus und mir meine Sachen hinterher geworfen hat, die ich begonnen hatte zu packen. Der Gedanke an ihn, an meine Mutter, oh Mama, Chanale, Itizkel, Toiwale…“ Er hielt nochmals inne, um die Tränen zu schlucken. „… jetzt, wo all diese schreckliche Dinge geschehen. Weißt du, ich verrate dir etwas, ich hoffe, ich bete darum, ich weiß nicht zu wem ich beten soll, dass sie schon tot sind, alle. Hoffentlich, hoffentlich, oh, um Gottes Willen, dass sie schon tot sind. Dass sie diese schrecklichen Dinge nicht erleben.“

Das Zittern seiner Schultern hörte langsam auf. Der junge Mann richtete sich auf. Jonas ließ von der Umarmung ab, aber fuhr fort, ihm sanft auf die Schulter zu klopfen. „Jankel“, fing er an, aber fügte dann nichts hinzu. Nach einer weiteren Minute sagte er: „Gehen wir.“

„Ja, gehen wir fort. Ich… vielleicht schaffe ich es, an andere Dinge zu denken.“ Als sie sich den Baracken näherten, hielt Rubinstein inne und sagte wütend: „Ich versteh das nicht, wie blöd sind wir eigentlich. Einfach dumm. Warum dachten wir, es gäbe gute Nachrichten? Haben wir denn nichts gelernt? Wir sind wirklich Idioten.“

„Ich dachte nicht, es gäbe gute Nachrichten“, sagte Jonas. „Ich dachte, dass ich wissen muss, was dort geschieht, in unserer Welt, dieser Welt, von der hier in Osch niemand gehört hat.“

„Aber das ist nicht deine Welt“, wunderte sich Rubinstein. „Du bist nicht aus Polen.“

„Stimmt. Aber meine Frau, ihre Eltern, ihre Geschwister sind alle Polen“, antwortete Jonas. „Sie sind zwar alle nach Palästina gekommen, aber sie haben dort… ich weiß nicht, vielleicht haben sie keine mehr, eine große Familie. Meine Frau hat viele Onkel und Tanten, Geschwister ihrer Eltern. Und Vettern. Viele von ihren standen ihr sehr nahe. Ich befürchte, dass auch sie jetzt weint. Und ihre Eltern.“ Und ich bin nicht bei ihr und kann sie nicht trösten, ich weiß nicht einmal, wo sie ist, dachte er bei sich. 

Rubinstein nahm Jonas‘ Hand in die seine und drückte sie fest. Ein warmer Händedruck, aber schmerzend, denn ihre Hände umschlossen den Krückenknauf. „Tut es dir leid, dass du Jude bist?“ fragte Rubinstein.

Jonas war so erstaunt über die Frage, dass er stehen blieb und verwundert den jungen Mann anblickte. „Ob es mir leid tut?“

„Ja. Mir tut es leid. Denn ich denke, wie leicht es mir fiele, wenn ich wirklich nur Pole wäre“, sagte Rubinstein. „Und ich weiß, dass die Polen jetzt auch sehr leiden, dass die Faschisten auch gegen sie sehr brutal vorgehen“, fügte er schnell hinzu. „Aber wir wissen ja schon, dass das nicht dasselbe ist. Und das Schlimmste an der Sache ist, dass ich nicht aufhören kann, Jude zu sein, obschon ich es möchte. Ich bin Kommunist und Bolschewik und treues Mitglied der Partei, und ich habe einen sowjetischen Pass und einen französischen, und jetzt, in diesem Moment, nichts von alledem kann mein Gefühl auslöschen, dass ich Jude bin. Ich möchte nicht so fühlen, und ich kann nicht anders. Es lässt mich nicht los.“

Jonas wusste nicht was er sagen sollte. Er begann zögernd: „Ich habe noch nie so daran gedacht. Ich bin aus Palästina, und ich bin Jude, das ist klar. Das war ich immer. Wie könnte es mir leidtun, ich bin ja so geboren. Das ist, wie wenn du mich fragen würdest, ob es mir leidtue, dass ich, ich weiß nicht, braunes Haar habe, gut, schon nicht mehr so ganz… aber das meiste… ich weiß nicht.“ Und nach einer kleinen Pause: „In Paris war ich Mitglied der Liga für jüdische Kultur, aber das war vor allem, weil es da gute Vorträge gab und jiddisches Theater, und Abendkurse für jüdische Arbeiter. Ob es mir leidtut? Ich habe keine Antwort darauf.“    

Addie Markuze-Haas wurde in Haifa geboren, hat Biologie studiert (mit M.Sc.-Abschluss), arbeitete im Weizmann-Institut in Rechovot und unterrichtete Biologie. In den letzten 25 Jahren übersetzt sie Sachbücher von Englisch auf Hebräisch. Sie schrieb ein Buch über die Geschichte der Zeitung "Yediot Achronot" (Carmel, 2013).

Uri Shani ist in der Schweiz geboren und lebt seit 35 Jahren in Israel. Er ist professioneller Übersetzer für Literatur aus dem Hebräischen ins Deutsche. Sein "Übersetzer-Credo" könnt ihr im Link nachlesen:

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BR
BR
4 Jahre

„Wenn ich nur Pole waere“, sagt Jonas, als er vom Aufstand im Warschauer Ghetto hoert. Es entbehrt nicht einer Ironie, dass kurz danach der Aufstand der Stadt Warschau stattfindet – also nach dem juedisch-polnischen Aufstand folgt der Polnische (Marek Edelmann nimmt am beiden teil). Im Stich gelassen wurde der polnische Untergrund von den Sowjets, die sich auch vorher (Ribbentropp-Molotow-Pakt) und nachher (Stalinismus, Ungarn, Prager Fruehling) nicht mit Lorbeeren schmueckt. Ob das die Meinung der Hauptpersonen wohl geaendert hat? Vielleicht hat Jonas doch recht: egal ob polnischer Patriot, Zionist oder Kommunist – fuer die Aussenwelt ist er nur eines: Jude.

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